Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
192 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1007-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken -  Isabel Waidner
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Sterling Beckenbauer wird auf offener Straße attackiert und dann verhaftet, ohne etwas verbrochen zu haben. In eine erschreckende und unsinnige Welt gestürzt, nimmt Sterling den Kampf gegen ein im Herzen konservatives System auf. Isabel Waidner erzählt von queerem Leben im heutigen London, von den Fallstricken des Vereinsfußballs, von Zeitreisen und Migration, von Freundschaft und Liebe. Von Autoritäten, die nichts unversucht lassen, um die auszugrenzen, die in keine Schublade passen. Von einem Kampf um Leben und Tod - weil es in einem Stierkampf kein Unentschieden gibt. Ein schillernder, unbändiger Roman, der nicht Geschlechteridentität verhandelt, sondern das Recht auf ein Leben ohne Diskriminierung. »Waidners explosive Sensibilität und Stil sind so weit von mittelmäßiger Prosa und bürgerlichem Habitus entfernt, wie man es sich nur vorstellen kann. Allein das ist ein Grund, dieses Buch zu lesen.« Bernardine Evaristo

ISABEL WAIDNER lebt und arbeitet in London. Mit >Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken< gewann Waidner den Goldsmiths Prize 2021. Waidners Werke standen außerdem auf der Shortlist für den Orwell Prize for Political Fiction 2022 und den Republic of Consciousness Prize 2018, 2020 und 2022. Waidner lehrt an der School of English and Drama der Queen Mary University of London. 2020 erschien Waidners Debütroman >Geile Deko< auf Deutsch.

1

Ganz Camden Town ist ein einziger Stierkampf, den niemand besingt.

Ich bin Sterling. Meinen Vater holte AIDS, meine Mutter der Alkoholismus. Mein Land die Konservativen, meine Sprache PTBS. Hab aber dieses England. Hab diesen Körper, dieses reine Herz.

Heute trage ich ein weißes Fußballtrikot, um die Taille gebunden, rockartig. Ich trage ein rotsamtenes Stierkämpfernnniejackett und einen schwarzen montera, den traditionellen Hut der Stierkämpfernnnie. Gelbe Fußballsocken, schwarze Loafers aus Leder. Vor meiner Wohnung auf der Delancey Street in Camden Town kommen sechs oder sieben wirkliche Stierkämpfernnnie auf mich zu und machen mich an. »Huh«, sagen sie. Mein Kopf bleibt gesenkt. Konzentration auf die Loafers und den vertrauten Tarmac. Noch einmal, »Huh!« Kehliger Laut, den Stierkämpfernnnie benutzen, um die Aufmerksamkeit des kämpfenden Stiers zu wecken. Ich setze meinen Gang fort, den Kopf weiter gesenkt. Sie folgen mir.

Ein torero schwenkt ein rosa und goldenes Umhängchen, einen Stierkampf-Umhang. Rosagold. Rosa. Gold. Rosarosagoldrosagold. Ich verliere die Orientierung. Die Stierkämpfernnnie rempeln mich die Arlington Road entlang, in Mary Terrace hinein, von der Hauptstraße ab. Fühle mich umhergetreten wie ein Fußball.

Mein Vater Franz Beckenbauer spielte für Heimatkaff FC. Er trug oft meine Schwester auf einem Arm und mich auf dem anderen, während er Balltricks übte. Ich habe ihn an Elfmeter verloren, meine Schwester an internationale Migration. Ich verlor meine Mutter an Insolvenz. Verlor den Ball. Holte ihn zurück.

Three Fields Estate umgibt Mary Terrace, die Fenster wie die Augen von ebenso vielen emotionalen Kindern. Im sechsten Stock von Fairfield House ist ein Fenster offen. Man erkennt ein blau-weißes Poster von Karlsruhe SC an der Wand, 2. Bundesliga. Hier unten rosa und gold. Ich attackiere blindlings. Die Stierkämpfernnnie schnippen ihre kleinen Umhänge weg und haben entscheidende Einsichten in mein Abwehrverhalten gewonnen.

Berittenre Picador geht mit einer Stierkampflanze auf mich los. Picador ist einre von zwei Berittenen des traditionellen Stierkampfs, dier den Stier mit einer Lanze anstechen, und auch ein britisches Verlagshaus. Das süße Pferd trägt nicht den peto, jenen matratzenartigen Stoßdämpfer, der mindestens seit den 20er-Jahren Standard ist. Instinktiv recke ich meine Hörner. Ich greife an und treffe das Pferd in die Flanke. Pferd geht zu Boden. Dier abgestiegene Berittene zieht sich eilig zurück. Außer Gefecht gesetzt, geht sier und setzt sich auf die handbetriebene Schranke, die die Estate dem Durchgangsverkehr verschließt. Eien zweitre Picador, auf einerm anderen, ebenso wenig geschützten Pferd, geht auf mich los. Seihrne Lanze trifft mich direkt hinter dem morrillo, dem Muskelkomplex am Nacken des Kampfstiers. Blut. Der Zweck des tercio de varas, der ersten von drei Phasen in einem traditionellen Stierkampf, ist es, die Nackenmuskulatur des Stiers zu schwächen und ihm die Regeln des Kampfes aufzuzwingen.

Liegt es an mir? Habe ich die Gewalt heraufbeschworen, oder habe ich sie nur nicht verhindern können? Meine Jacke, zu viel? Nicht genug? Die Stutzen? Ich kannte einne Schwulne, dier straight aussah wie aus der Gap-Werbung. Wurde trotzdem angegangen. Als stünde Mädchenbluse in riesigen Lettern auf seihrnem neutralen T-Shirt.

Zweite Phase, tercio de banderillas. Drei banderilleros, sogenannte, stechen mit englischen banderillas, mit Widerhaken versehenen Stecken, umwickelt mit den Farben des Georgskreuzes, in meine Schultern. Drei oder vier hängen schon an mir herunter, wie Deko, wie patriotische Haarnadeln. Banderillero nähert sich mit erhobenen banderillas, zielend. Versenkt sie und verdünnisiert sich.

»Foul!«, rufe ich. »Bestechung!« Die Stierkämpfernnnie haben es auf mich abgesehen. »Schiedsrichter, bist du blind? Gelbe Karte?!« Aber leider, kein Schiedsrichter in Sicht.

Kein Freistoß, tercio de muerte – das tödliche Spieldrittel. Matador, Hauptbully im traditionellen Lichtergewand, benannt nach der polierten Deko, wedelt mit einer muleta, einem hölzernen Stock, an dem ein kleineres rotes Tuch pendelt. Ich attackiere, mir stehen nur die grundlegendsten Abwehren zur Verfügung. Der hohlspiegelförmige Körper des Matadors zickt die muleta davon. Ich wende, neuer Anlauf. Wieder hat der Matador die muleta verschwinden lassen, sobald ich sie erreiche. Wir machen so weiter, bis ich erledigt bin. Ich stehe. Meine Zunge hängt heraus. Matador bringt mich in Position. Mit der Spitze nach unten hebt er sein Stierkampfschwert über meinen Kopf –.

Eine Person in Freizeithosen (FZH) und einem Pulli, mit kurzem Haar und hartem Seitenscheitel, geht die Delancey Street herunter mit einem Fußball. Sieht mich, meine Lage. »Hey«, ruft sier, »hey!« FZH rennt in unsere Richtung los, wie wild auf einer Schiedsrichterpfeife tutend. Als sier ankommt, zieht sier eine rote Karte aus der Arschtasche. Zeigt sie, nicht dem Matador, sondern mir.

»Was im Ernst, Schiri?! Ich soll vom Platz gehen?« sage ich. »Unfair!«

FZH schaut mich eindringlich an, ich soll mitspielen. Der Groschen fällt, mir wird ein möglicher Abgang an die Hand gereicht. Ich hebe die Arme – schuldig im Sinne der Anklage – und verlasse das Feld folgend den Regeln des Vereinsfußballs.

Meinem Vater Franz Beckenbauer war es immens wichtig, den Ball in der Luft zu halten. Meine Mutter gab die Fußballmillionen vom Franz aus, und als sie zu Ende waren, gab sie Millionen aus, die Franz nicht hatte. Ich verlor meine Mutter an zwanghaftes Kaufverhalten und meinen Vater an Ballhochhalten. Das war, bevor ich ihn an HIV/AIDS verlor.

Nicht so schnell, die banderilleros blockieren meinen Abgang. Wer habe gesagt, dass ich gehen dürfe? Sie verlangen einen Elfmeter. Matador steht im Tor.

FZH ist einverstanden. Unter der Bedingung, dass das Stierkampfschwert des Matadors gegen den Fußball getauscht wird.

Der Vorschlag wird mit Zögern aufgenommen.

»Wollt ihr den Strafstoß oder nicht?«, fragt FZH.

Widerwillig gibt der Matador das Schwert her und nimmt den Fußball. Legt ihn auf die Elfmetermarke, genau elf Meter von der Schranke entfernt, unserem designierten Tor.

»Bei euch ist niemand im Tor«, fällt dem Matador auf.

FZH erkundigt sich nach Freiwilligen.

»Nicht mich anschauen«, sage ich, »Meine Genetik ist hundert Prozent Mittelfeld.«

»Es ist aber sonst niemand in deinem Team«, sagt FZH. Ich oder ein offenes Tor.

Ich schürze meine gelben Stutzen. Keine Schienbeinschoner. Mit erhobenem Kopf gehe ich an den Stierkämpfernnnie vorbei und stelle mich vor das Tor. Regungslos stehe ich da, während sich die Blicke von Matador und mir verkeilen. Ich blinzle nicht, gebe nicht preis, in welche Richtung ich mich werfen werde. Nichts wird verraten. Ich friere ein, als würden Torpfosten sich nicht bewegen.

Matador geht rückwärts, entfernt sich vom Ball. FZH gibt das Spiel frei, ein kurzer Triller. Schütze rennt los. Ich rühre mich nicht und er schießt den Ball direkt in meine Hände.

Phviet! Abpfiff, phviet-phviet! Spiel vorbei. Unentschieden?! 0:0?

Ich lege den Ball auf den Boden und richte mir mit gemessener Gestik die Stierkampfjacke. Ich richte mir die montera, deren Ausbuchtungen links und rechts den Hörnern eines Stiers nachempfunden sind. FZH und ich kommunizieren mit einem Blick. Wir warten nicht, bis die gegnerische Mannschaft ihre Sinne wieder beisammenhat, um den Ausgang zu diskutieren, wir nehmen die Beine in die Hand. In verschiedene Richtungen. Wir wissen beide ganz genau, dass dies kein Unentschieden war und ganz bestimmt nicht das Spielende. Ganz Camden Town ist ein einziger Stierkampf, den niemand besingt.

»Bull«, sagt Chachki, im Sinn von BS, bullshit. Chachki Smok, eien großre, weißre Schwulre mit brutalem Aussehen, kritisch scharfen Sinnen und einer ausgeprägten Mutterliebe, ist meien bestre Freundni. Wir sind in meiner Wohnung – dem wenig dekorierten oberen Stockwerk eines Bürogebäudes aus den 60- er-Jahren an der Ecke Delancey und Albert Street. Inoffizielle Privatmiete, billig. »Du musst es glauben, Chachki. Stierkämpfernnnie auf Pferden. Kamen die Delancey runter, haben mich in die Arlington reinmanövriert«, sage ich. Chachki lebt mit seihrner Mutter in einem niedrigstöckigen Sozialbau ein Stück die Straße hinunter, auch auf Delancey. Ein Pferd, das an meiner Wohnung vorbeigeht, geht auch an Chachkis Wohnung vorbei. »Stierkampf im Wohngebiet?«, sagt sier. »Überrascht mich jetzt nicht. Es ist die logische Verlängerung des Klassenkampfs, der Anti-Einwanderungspolitik, der transphoben Medien und des staatlich sanktionierten Rassismus.« Ist BS. Ist Camden Town.

Chachki sitzt an der Nähmaschine und verwandelt glänzenden Stoff und etwas Füllmaterial in eine abgeschnittene Steppweste. Beige, was soll daraus werden, wenn es fertig ist. Ich bin blond.

»Was noch«, fragt Chachki.

»Endete unentschieden«, sage ich.

»Sicher nicht«, sagt sier. Unentschieden gibt es nicht bei Stierkämpfen. Ein Stierkampf ist kein Wettbewerb, sondern eine ritualisierte Tragödie. Der Ausgang steht nicht auf dem Spiel; der Stier stirbt immer. Falls, was selten passiert, eien Matador den Todesstoß...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2024
Übersetzer Ann Cotten
Sprache deutsch
Original-Titel Sterling Karat Gold
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Recht / Steuern EU / Internationales Recht
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antidiskriminierungsgesetzt • Feminismus • Gerechtigkeit • Goldsmith Prize • LGBTQ+ • Migration • non-binär • Queer • Rassismus • Selbstermächtigung • Transgender • Vor Gericht diskriminiert werden • Widerstand
ISBN-10 3-7558-1007-7 / 3755810077
ISBN-13 978-3-7558-1007-0 / 9783755810070
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