Widerspruch zwecklos? -  Jannike Zimmermann

Widerspruch zwecklos? (eBook)

Über die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung bei der postmortalen Organspende
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
211 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45673-7 (ISBN)
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Angesichts des eklatanten Mangels an Organspender:innen in Deutschland wird die Einführung der Widerspruchlösung hierzulande immer wieder kontrovers diskutiert. Befürworter:innen dieser gesetzlichen Regelung verweisen auf die höheren Spenderzahlen in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung praktizieren, und erblicken in ihr ein effektives Instrument zur Steigerung von Organspenden. Aus Sicht der Kritiker:innen wiederum lässt sich die Einführung der Widerspruchslösung aufgrund verfassungsrechtlicher und ethischer Bedenken sowie aufgrund von Zweifeln an ihrer Effektivität nicht rechtfertigen. Jannike Zimmermann analysiert neben Ausmaß und Ursachen des Organmangels in Deutschland auch die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung und leistet einen wichtigen Beitrag zu der anhaltenden Debatte über einen Spenderregelungswechsel.

Jannike Zimmermann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Center for Life Ethics an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Einleitung


»Alle acht Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, weil kein passendes Spender-Organ gefunden wird« (Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 2020). Dieses Memento, das geradezu mantraartig den öffentlichen Diskurs zur Organspende in Deutschland begleitet, fasst den janusköpfigen Charakter der Organspende in Deutschland pointiert zusammen: Auf der einen Seite verweist es auf das Potenzial der postmortalen Organtransplantation als lebensrettende oder -verlängernde Therapie in der medizinischen Versorgung. Auf der anderen Seite hebt es hervor, dass in Deutschland eine eklatante Diskrepanz zwischen dem Angebot postmortal gewonnener Organe und dem Organbedarf besteht. Mit einem seit Jahren rückläufigen Organangebot, das im Jahr 2017 einen historischen Tiefstand erreichte und sich auch in den Folgejahren nur schwach erholt hat, gelingt es Deutschland nicht, seine Transplantatnachfrage zu decken. Auch im internationalen Vergleich steht die Leistungsfähigkeit des deutschen Transplantationssystems auffällig hinter der seiner europäischen Nachbarn zurück. Als Konsequenz der Organknappheit beträgt die Wartezeit für ein geeignetes Transplantat in Deutschland derzeit im Durchschnitt acht Jahre. Tausende Patienten1 versterben in dieser Zeit. Tausende Patienten, die auf eine Spenderniere warten, erfahren durch die jahrelange Abhängigkeit von der medizinischen Nierenersatztherapie (Dialyse) eine massive Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Die Organknappheit zu überwinden ist angesichts dessen eine der dringlichsten Aufgaben der gegenwärtigen Gesundheitspolitik.

Eine Strategieoption zur Behebung des Organmangels, die mit periodischer Aktualität in den Fokus des politischen, öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurses rückt, ist eine Reform der Spenderregelung im Sinne einer Transition von der derzeit in Deutschland geltenden Zustimmungslösung zu einer sogenannten Widerspruchslösung. Im Gegensatz zu der Zustimmungslösung, unter der einem Verstorbenen nur dann Organe entnommen werden können, wenn er der Entnahme zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat, sieht die Widerspruchslösung umgekehrt eine Entnahme bei allen Patienten vor, die einer Spende lebzeitig nicht ausdrücklich widersprochen haben.

Die Einführung der Widerspruchslösung ist in Deutschland seit jeher ein notorisch kontrovers und höchst emotional diskutierter Gegenstand sowohl in Politik und (Fach-) Gesellschaft als auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Ihre Befürworter verweisen auf die höheren Spenderzahlen in anderen europäischen Ländern, die die Widerspruchslösung praktizieren, und erblicken in ihr ein im Vergleich mit der Zustimmungslösung effektiveres Instrument zur Steigerung der Spenderzahlen. Aus Sicht ihrer Kritiker lässt sich die Einführung der Widerspruchslösung aufgrund erheblicher verfassungsrechtlicher und ethischer Bedenken einerseits sowie grundsätzlicher Zweifel an ihrer Effektivität andererseits nicht rechtfertigen. Während die Widerspruchslösung in Europa im Verlauf der vergangenen zehn Jahre zur dominierenden Spenderregelung avanciert ist, ist ihre Einführung – trotz wiederholter gesetzgeberischer Bemühungen – in Deutschland politisch bisher nicht durchsetzbar: Der jüngste von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn initiierte Versuch, einen regulatorischen Paradigmenwechsel zu vollziehen, scheiterte im Jahr 2020 deutlich.

Vor dem Hintergrund einer Kontroverse, die zum einen angesichts der Ankündigung der Patientenbeauftragten der Bundesregierung, in der nächsten Legislaturperiode die Wiedervorlage eines Entwurfs zur Widerspruchslösung zu initiieren (Deutsches Ärzteblatt 2020), zum anderen mit Blick auf die anhaltende Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage kaum als abgeschlossen gelten kann, ist die Frage, ob die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland gerechtfertigt ist, weiterhin von höchster Bedeutung. Das Hauptziel dieser Arbeit ist es daher, die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung in Deutschland zu bewerten.

Voraussetzung dieser Bewertung ist die Definition, unter welchen Bedingungen eine Spenderregelung gerechtfertigt ist. Damit eine Spenderregelung gerechtfertigt ist, muss sie sich sowohl aus ökonomischer als auch normativer Sicht bewähren. Aus ökonomischer Sicht ist die Einführung der Widerspruchslösung nur dann rechtfertigbar, wenn sie das komparative Kriterium der Effektivität erfüllt. Die Widerspruchslösung ist dann effektiv, wenn sie im Vergleich zur Zustimmungslösung ein höheres Spenderaufkommen realisiert. Aus normativer Sicht setzt die Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung die Erfüllung zweier Kriterien voraus: Die Widerspruchslösung ist dann rechtfertigbar, wenn sie zum einen das komparative Kriterium der medizinethischen Legitimität erfüllt. Dieses Kriterium ist dann erfüllt, wenn die Widerspruchslösung mit Blick auf das medizinethische Prinzip der Patientenautonomie eine höhere moralische Qualität aufweist als die Zustimmungslösung. Damit die Widerspruchslösung aus normativer Sicht gerechtfertigt ist, muss sie zum anderen das Kriterium der Verfassungsmäßigkeit erfüllen. Somit gilt: Damit die Einführung der Widerspruchslösung gerechtfertigt ist, muss sie diese drei jeweils notwendigen, aber erst gemeinsam hinreichenden Rechtfertigbarkeitskriterien erfüllen.

Während die Überprüfung aller drei Rechtfertigbarkeitskriterien innerhalb ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen durchaus breite Aufmerksamkeit erfährt, sind multiperspektivische bzw. -disziplinäre Untersuchungen der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung im Forschungsdiskurs auffällig unterrepräsentiert. Diese perspektivische Verengung ist problematisch, da die Widerspruchslösung, unter anderem je nachdem, mit welchen Rechten die Angehörigen im Spendenentscheidungsprozess ausgestattet werden, unterschiedliche Ausprägungen annehmen kann. Folglich können Befunde unterschiedlicher Arbeiten aus unterschiedlichen Disziplinen, die auf verschiedenen definitorischen Voraussetzungen fußen, nicht zu einem Gesamtbefund zusammengeführt werden.

Aus diesem Grund soll die Frage der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung in dieser Arbeit innerhalb eines multidisziplinären und komparativ angelegten Bewertungs- und Bewährungsraums abgebildet werden: Ziel ist es, zu prüfen, ob und in welcher Variante die Widerspruchslösung die drei Kriterien Effektivität, medizinethische Legitimität und Verfassungsmäßigkeit erfüllt und ob ihre Einführung in Deutschland somit gerechtfertigt ist.

Die Prüfung der Rechtfertigbarkeit der Widerspruchslösung erfolgt, ausgehend von den drei Kriterien, die die Rechtfertigbarkeit konstituieren, in mehreren Teilprüfungen, die jeweils eine eigene Methodik erfordern und deren Ergebnisse schließlich in einem additiven Befund zusammengeführt werden. Um zu validieren, ob die Widerspruchslösung das Kriterium der Effektivität erfüllt, werden im Rahmen einer allgemeinen Effektivitätsprüfung verschiedene Ländervergleichsstudien, die anhand multivariater Analysen ermitteln, ob die Widerspruchslösung mit einem höheren Spenderaufkommen assoziiert ist, ergebnisorientiert zusammengefasst und kritisch diskutiert. Im Gegensatz zur Prüfung der Effektivität, die aufgrund der Designs der Ländervergleichsstudien nicht zwischen den verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung differenziert und somit einen generischen Befund liefert, kann und muss der normativen Prüfung eine konkrete Variante der Widerspruchslösung zugrunde gelegt werden. Als normativer Referenzrahmen sowohl der Konkretisierung als auch der medizinethischen Prüfung der Widerspruchslösung dienen das liberale Standardmodell von Autonomie sowie das Prinzip des Respekts vor der Autonomie des Patienten (PRAP) von Beauchamp und Childress (2019). Ihr Konzept der Formen autonomer Entscheidungen dient als Grundlage dafür, die verschiedenen Varianten der Widerspruchslösung definitorisch zu konkretisieren. Das PRAP, das die moralische Qualität einer Spenderregelung als graduelle Eigenschaft fasst, erlaubt es anschließend, die Varianten der Widerspruchslösung mit der in Deutschland geltenden Zustimmungslösung im Hinblick auf ihre moralische Wertigkeit zu vergleichen. Die Prüfung des Verfassungsmäßigkeitskriteriums erfolgt schließlich durch Anwendung der klassischen dreischrittigen Verfassungsmäßigkeitsprüfung, innerhalb derer geprüft wird, ob die Anwendung der im Rahmen der medizinethischen Prüfung konkretisierten...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Medizinethik • Organmangel • Organspenderegelung • Organtransplantation • Postmortale Organspende • Transplantationsethik • Transplantationsgesetz • Widerspruchsregel • Widersprungslösung • Zustimmungslösung
ISBN-10 3-593-45673-7 / 3593456737
ISBN-13 978-3-593-45673-7 / 9783593456737
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