Demokratie in stürmischen Zeiten -  Gisela Erler

Demokratie in stürmischen Zeiten (eBook)

Für eine Politik des Gehörtwerdens

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-83279-6 (ISBN)
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Sie ist vielseitig, ideenreich und unkonventionell: Gisela Erler hat sich über die Jahrzehnte in spannenden Rollen für die Mitsprache und den Protest von Menschen und Gruppen engagiert, die zu wenig Gehör in der politischen Debatte finden. Die Tochter des SPD-Politikers Fritz Erler hat als Forscherin, Politikerin und erfolgreiche Unternehmerin für eine gleichberechtigte und faire Gesellschaft gekämpft, geworben, gestritten und gearbeitet. Am Kabinettstisch des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann war sie als enge Vertraute ab 2011 maßgeblich an der Umsetzung der »Politik des Gehörtwerdens« beteiligt und daran, dass Baden-Württemberg heute das Musterland der Bürgerbeteiligung in Europa ist. In ihrem Buch beschäftigt sich Gisela Erler vor dem Hintergrund ihrer eigenen bewegten Biografie und ihren vielfältigen Erfahrungen mit der Frage, wie unsere Demokratie den aktuellen weltpolitischen Stürmen trotzt, wie der Populismus in Schach gehalten wird und vor allem, wie sich Bürgerinnen und Bürger konkret und zum Wohle aller einmischen können.

Gisela Erler, geb. 1946, Unternehmerin und Politikerin (Grüne), Mitgründerin des legendären Trikont-Verlags, Autorin des vieldiskutierten 'Müttermanifests' der Grünen, Familienforscherin und Gründerin der 'pme Familienservice GmbH'; von 2011 bis 2021 erste Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in der baden-württembergischen Landesregierung.

Gisela Erler, geb. 1946, Unternehmerin und Politikerin (Grüne), Mitgründerin des legendären Trikont-Verlags, Autorin des vieldiskutierten "Müttermanifests" der Grünen, Familienforscherin und Gründerin der "pme Familienservice GmbH"; von 2011 bis 2021 erste Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in der baden-württembergischen Landesregierung. Johanna Henkel-Waidhofer, geb. 1958 in Wien, Korrespondentin für Landespolitik für mehrere deutsche Tageszeitungen. Lebt in Stuttgart. Autorin mehrerer erfolgreicher Jugendbücher.

Kapitel eins


65 rote Rosen – auf Spurensuche des Gehörtwerdens


Am 9. Mai 2011 feierte ich meinen 65. Geburtstag in Berlin – mein Mann hatte mir unerhörte 65 rote Rosen geschenkt – im Vorgriff auf etwas ruhigere Zeiten und schöne gemeinsame Reisen. Wir lebten in einer großen Jugendstilwohnung in Wilmersdorf, Nähe Ku’damm, und ließen gerade den Tag bei einem Glas Wein ausklingen, als Winfried Kretschmann anrief. Wir vermuteten einen Geburtstagsglückwunsch. Doch weit gefehlt.

Winfried Kretschmann hatte mit den Grünen in Baden-Württemberg bei der Landtagswahl im März genügend Stimmen erhalten, um mit der SPD die CDU/FDP-Regierung ablösen zu können. Jetzt war er gerade dabei, die erste grün geführte Landesregierung in Deutschland, ja europaweit zu bilden. Ich hatte dieses Ereignis zwar aus der Ferne verfolgt, vor allem das laute Donnergrollen des Konflikts um Stuttgart 21, aber ich hatte mich mit den tieferen Ursachen und der Vorgeschichte des Konflikts nicht näher beschäftigt. Denn noch war ich zumindest teilweise aktiv in die Geschäfte meines Unternehmens »Familienservice« eingebunden, obwohl ich die Geschäftsleitung bereits 2008 abgegeben hatte.

Winfried Kretschmann war auf der Suche nach einer Person für das Amt einer Staatsrätin in seiner Landesregierung. In dieser Form gibt es das nur in Baden-Württemberg, und zwar schon seit der Staatsgründung 1952. Ein Ehrenamt, verfassungsmäßig definiert, mit Stimmrecht im Kabinett. Bekleidet von einer Person des Vertrauens des jeweiligen Regierungschefs, die er selbst frei aussuchen kann. Auch das Thema für das Staatsratsamt bestimmt er persönlich. So hatte es zuvor beispielsweise eine Staatsrätin für Demografie und eine für interreligiösen Dialog gegeben. Für die neue Regierung sollte das Thema nun »Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung« lauten, vor allem als Antwort auf die Konflikte rund um Stuttgart 21. Die Regierungsarbeit sollte insgesamt dem Motto einer Politik des Gehörtwerdens folgen, Bürgerbeteiligung ein Leitprinzip werden, insbesondere für die Planung von großen Infrastrukturvorhaben. Angestrebt wurde nicht zuletzt die Überwindung der Demokratiemüdigkeit vieler Menschen. Schließlich hatte mit Blick auf Stuttgart ein bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin erst kurz zuvor die Figur des »Wutbürgers« in die Welt gesetzt. Woher kam diese Wut? Und was ließ sich dagegen tun?

Darum ausgerechnet Gisela Erler


Winfried Kretschmann fragte mich also kurz vor seiner Vereidigung, ob ich das Amt der Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung übernehmen wolle. Wie kam er dazu? Und warum habe ich das Amt gern angenommen?

Ich hatte nie ein Amt oder Mandat bei den Grünen bekleidet, obwohl ich sehr früh Mitglied geworden war, und zwar tief in Niederbayern zu Beginn der 1980er Jahre. Dort bildeten die Grünen nur eine kleine Gruppe von Außenseitern. Mein damaliger Lebensgefährte Achim Bergmann, mit dem Trikont-Schallplattenverlag Produzent linker und widerständiger Musik aus aller Welt, und ich hatten mit unseren Söhnen Daniel und Brendan im Hopfenanbaugebiet Holledau einen preisgünstigen alten Bauernhof mit viel Platz gemietet; wir pendelten zwischen München und dem Einödhof. Das Motiv war nicht allein Landromantik. Schon damals spielten bei Stadtflucht hohe Mietpreise eine wichtige Rolle, in München hätten wir uns eine ausreichend große Wohnung nicht leisten können. Wir waren also sozusagen Vorläufer einer halb ländlichen, halb urbanen Lebensweise, wie sie heute viel verbreiteter ist als damals.

Das Verhältnis zu unseren bäuerlichen Nachbarn war freundschaftlich, die Nachbarin kochte das Mittagessen für die Kinder, die gut in ihr Umfeld integriert waren. Es gab aber keinerlei Nachmittagsbetreuung für Schulkinder, und erst allmählich wurde deutlich, welchen Nachteil und welche Last das für die Kinder voll erwerbstätiger Eltern bedeutete. Hier waren die allermeisten Mütter Hausfrauen oder Bäuerinnen, konnten also die Kinder zum Fußball chauffieren und bei den Hausaufgaben beaufsichtigen. Eine gewisse kulturelle Fremdheit und ein deutliches Außenseitertum blieben für uns bestehen. Aber wir machten die Erfahrung, dass die Menschen auf dem Land ganz eigene Haltungen und Meinungen hatten. Der unbarmherzige Zwang zum »Wachsen oder Weichen« ihrer kleinen Höfe hatte sie zur Aufgabe der Viehwirtschaft bewogen. Der Hallertauer Hopfen war nun das Hauptprodukt, aber auch hier blies der Wind des Bierweltmarkts heftig. Ihr Wunsch nach einer moderneren und weniger beschwerlichen Zukunft machte sie skeptisch gegenüber den grünen Zukunftsverheißungen. Dabei betrieben sie auf ihren eigenen Gemüsebeete stolz biologischen Anbau.

Seit 1974, nach meiner aktivistischen Studentenzeit, den Jahren als erfolgreiche Verlegerin von Che Guevara und Mao Tse-tung sowie dem Studienabschluss in Soziologie und Germanistik, war ich Familienforscherin am Deutschen Jugendinstitut in München. Leidenschaftlich befasste ich mich dort nun statt mit der »Dritten Welt« und ihren Befreiungskriegen mit gesellschaftlichen Fragen in Deutschland rund um die Familien- und Frauenpolitik. Zunächst mit der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojekts »Tagesmütter«, später mit dem Aufbau von »Mütterzentren«. Beides waren damals in meinem politischen Umfeld provokante Themen. Kleinkindbetreuung und Erwerbstätigkeit von Müttern waren in Westdeutschland ein Tabu, die Wiedervereinigung noch weit, erst recht eine Kanzlerin aus dem Osten. Diese Themenwahl zeigte aber schon an, was meinen gesamten späteren politischen Lebenslauf kennzeichnen sollte: Bei vielen Fragen war ich zu konservativ für viele meiner linken, grünen und feministischen Freundinnen, die die Kinderbetreuung und Entlastung von Familien zuallererst als staatliche Aufgabe ansahen. Und zugleich zu links und fortschrittlich für viele konservative und manche grünen Menschen, die Kinderbetreuung vor allem als Aufgabe der Familien betrachteten, sprich der Mütter. So fand ich mich immer wieder in einer schwierigen politischen Mittlerposition, immer ein wenig daneben. Das gilt bis heute.

Genau auf dieser Position zwischen allen Stühlen beruhte auch meine politische Nähe zu Winfried Kretschmann. Und meine spontane Bereitschaft, ihn bei seiner Regierungsarbeit bestmöglich zu unterstützen.

Ein bahnbrechendes Manifest: Was ist ökolibertär?


Begegnet waren wir uns im Gesprächskreis der »Ökolibertären« zu Beginn der 1980er Jahre. In dieser kleinen Gruppe fanden einige bekannte Grüne wie Wolf-Dieter Hasenclever, Vorsitzender der ersten grünen Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, Uschi Eid, später grüne Abgeordnete im Bundestag und Afrika-Beauftragte des Kanzlers Gerhard Schröder, Helga Trüpel, später Senatorin für Kultur und Integration in Bremen und Europaabgeordnete, zusammen. Aber auch Thomas Schmid, später Herausgeber der Welt, oder Hajo von Kracht, der später SAP-Manager wurde und Norbert Kölling, Schreinermeister und vorher Mitgründer der alternativen Münchner Stadtzeitung Blatt. Dazu eben Winfried Kretschmann, Achim Bergmann und ich. Eine bunte Mischung aus ziemlich unterschiedlichen Charakteren.

1984 veröffentlichte diese Gruppe das »Ökolibertäre Manifest«, einen Text, der Kretschmanns politischen Weg bis heute gut erklärt. Und aus dem verständlich wird, warum die Grünen mit ihm an der Spitze in Baden-Württemberg als einzigem Flächenland eine Art Volkspartei werden konnten, nachdem sie 1990 einmalig an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert waren.

Heute liest sich das »Ökolibertäre Manifest« geradezu prophetisch. Es ging davon aus, dass eine ökologische Politik nicht einfach ein beliebiges zusätzliches Themenfeld der Politik werden dürfe, sondern die Umgestaltung des ganzen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erfordere. So, wie es sich heute, vier Jahrzehnte später, drangvoll und in vieler Hinsicht zu spät bewahrheitet.

Das Thema Umweltzerstörung galt in diesem »Manifest« als in der Breite der Gesellschaft anschlussfähig, in verschiedenen Milieus, Parteien, Altersgruppen und sozialen Schichten. Emphatisch rief es die junge grüne Partei dazu auf, sich nicht auf ihre Urklientel zu beschränken und hinter der Logik von Parteifunktionären zu verschanzen, sich nicht vorurteilsbeladen von Menschen mit anderen Lebensentwürfen abzugrenzen, sondern Verbindungen in alle Richtungen zu entwickeln. Genau so, wie es einige Grüne, insbesondere Robert Habeck, 2021 für den Bundestagswahlkampf wieder versucht haben. Doch wandte sich die Gesamtpartei in diesem Wahlkampf leider verstärkt an ihr angestammtes Milieu und bezahlte das mit einem deutlich schlechteren Wahlergebnis, als zuvor allgemein für möglich gehalten worden war. Leider ist die Partei immer wieder versucht, als Milieupartei zu handeln, auch in der Transformationskrise – und erleidet dafür herbe Rückschläge.

Das »Ökolibertäre Manifest« ging davon aus, dass die ökologische Transformation im Rahmen der Marktwirtschaft erfolgen werde, müsse und könne. Einer Marktwirtschaft mit ordnungspolitischen Regeln – heute würden wir sagen: einer sozialökologischen Marktwirtschaft. Aber nicht einer Wirtschaft, die blind dem Markt vertraut.

Damals stand im Gegensatz dazu für viele Grüne noch eher eine Art ökosozialistische Vision im Raum – mit strengen Vorgaben für die Wirtschaft, vielen staatlichen Unternehmen, planwirtschaftlichen Elementen und streng pazifistisch ausgerichtet. Das »Manifest« hingegen ließ sich von der Überzeugung leiten, die private Wirtschaft könne und...

Erscheint lt. Verlag 8.4.2024
Co-Autor Johanna Henkel-Waidhofer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bürgerbeteiligung • Demokratie • Erinnerungen • Mitbestimmung • Parteien • Partizipation • Protest • Spaltung der Gesellschaft • Volksabstimmung
ISBN-10 3-451-83279-8 / 3451832798
ISBN-13 978-3-451-83279-6 / 9783451832796
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