Ein Kind mit geistiger Behinderung begleiten (eBook)

Praktische Tipps für Eltern und Familien
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
148 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61786-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Kind mit geistiger Behinderung begleiten -  Caroline Tost
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Wenn bei einem Kind eine geistige Behinderung diagnostiziert wird, bedeutet das für viele Eltern eine tiefgreifende Verunsicherung. Wie wird sich unser Kind entwickeln? Welche Förderung braucht es? Welche Hilfen stehen uns zu? Und wie können wir mit eigenen, herausfordernden Gefühlen umgehen und unser Kind so annehmen, wie es ist? Eltern erhalten Informationen zu Themen wie Therapieplanung, Schulwahl, Strukturierungshilfen, Erziehung, sexuelle Aufklärung und Selbstständigkeitsentwicklung für ihr Kind mit geistiger Behinderung in verschiedenen Lebensphasen. Praktische Fallbeispiele und Tipps unterstützen bei der Erarbeitung individueller Lösungsstrategien für den familiären Alltag und verhelfen allen Betroffenen zu neuer Stärke und Zuversicht.

Caroline Tost M.Sc., arbeitet als Psychologin in einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Sie berät und begleitet dort Kinder mit geistiger Behinderung sowie deren Familien.

Caroline Tost M.Sc., arbeitet als Psychologin in einem Sozialpädiatrischen Zentrum. Sie berät und begleitet dort Kinder mit geistiger Behinderung sowie deren Familien.

3 Hilfen für Ihr Kind

Kinder mit geistiger Behinderung benötigen eine individuelle Förderung und Begleitung im Alltag. In diesem Abschnitt erhalten Sie praktische Ratschläge zu den Themen Eltern-Kind-Bindung, Therapien und Fördereinrichtungen, Strukturierung und Visualisierung im Alltag, Förderung der Selbstständigkeit, Verhaltensbesonderheiten und Erziehung, Sprache und Kommunikation, sexuelle Entwicklung und Aufklärung, sozialrechtliche Hilfen sowie erwachsen werden und Ablösung von den Eltern.

Die Grundlage von allem: eine sichere Bindung aufbauen

Sicherlich haben Sie schon oft gehört, wie wichtig eine gute Eltern-Kind-Bindung ist. Eine sichere Bindung zu den Bezugspersonen erhöht das Selbstvertrauen des Kindes und dient als Grundlage für eine gelingende Entwicklung in allen Bereichen. Dies gilt genauso bei Kindern mit geistiger Behinderung. Nur auf der Grundlage einer sicheren Bindung können sie ihr Entwicklungspotenzial voll ausschöpfen und als Persönlichkeit reifen.

Leider gibt es bei Kindern mit Intelligenzminderung einige Faktoren, die den Aufbau einer sicheren Bindung zwischen Eltern und Kind erschweren können. Im folgenden Abschnitt erfahren Sie, welche Probleme auftreten können und wie Sie ihnen am besten begegnen.

Die Bedeutung der Bindung für die Entwicklung des Kindes

Die Bindung eines Kindes an seine Bezugspersonen ist ein natürlicher Prozess, der in den ersten Lebensjahren ganz von allein geschieht. Damit das Kind eine sichere Bindung aufbauen kann, benötigt es verlässliche, fürsorgliche Bezugspersonen. Meist sind dies die leiblichen Eltern; manchmal treten aber auch andere Personen wie Großeltern, befreundete oder verpartnerte Personen, Pflegeeltern oder Heimerziehende an ihre Stelle. Feinfühlig erkennen sie die Bedürfnisse des Säuglings und beantworten diese schnell und angemessen. Wenn das Kind ängstlich oder verunsichert ist, trösten und beruhigen sie es und geben ihm einen sicheren Rückhalt. So entsteht bei dem Kind das Urvertrauen. Es erlebt jeden Tag: „Ich bin geliebt und die Welt ist ein sicherer Ort.“ Wenn dieser Prozess ungestört verläuft, entwickelt das Kind eine sichere Bindung an seine Bezugspersonen.

Die Bindungstheorie

Erforscht wurde die Eltern-Kind-Bindung erstmals durch den Kinderarzt John Bowlby und die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth in den 1950er- und 1960er-Jahren. Sie entwickelten die sogenannte Bindungstheorie und bestätigten hiermit wissenschaftlich, was den meisten Eltern intuitiv bewusst ist: Ohne die Bindung zu einer fürsorglichen Bezugsperson können Kinder sich nicht entwickeln. Anregungen zu den Untersuchungen fanden Bowlby und sein Team durch Beobachtungen an kleinen Kindern, die in Krankenhäusern oder Heimen untergebracht waren und keine verlässlichen Bezugspersonen hatten. Diese litten nicht nur seelisch unter dem Alleinsein, sondern sie entwickelten sich in allen Bereichen deutlich schlechter. Viele der Kinder erlernten niemals das Laufen, Sprechen und Spielen.

Mary Ainsworth entdeckte später verschiedene Arten von Bindung, welche in allen menschlichen Kulturen anzutreffen sind. Etwa zwei Drittel aller Kinder entwickeln einen sogenannten sicheren Bindungsstil, welcher die besten Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung bietet. Kinder mit einer sicheren Bindung zeigen mit etwa zwölf Monaten ein typisches Bindungsverhalten: Wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden, reagieren sie mit emotionaler Verunsicherung und Protest. Sie lassen sich von fremden Personen kaum beruhigen. Wenn die Mutter zurückkommt, suchen die Kinder meist engen Körperkontakt. Sie beruhigen sich dann schnell und finden zurück in ihr Spiel. Typisch für den sicheren Bindungsstil ist außerdem eine ausgeprägte Fremdelphase in der Zeit zwischen dem achten und 18. Lebensmonat. Die Kinder haben verinnerlicht, dass sie nur bei ihren Eltern sicher sind und stehen fremden Personen vorsichtig und zurückhaltend gegenüber. In der Folgezeit verringern sich ihre Ängste immer mehr. Etwa ab dem dritten Lebensjahr ist das Kind schließlich bereit, sich für eine längere Zeit von den Eltern zu trennen (z. B. um den Kindergarten zu besuchen). Die Entwicklung eines sicheren Bindungsstils kann durch die Eltern unterstützt werden, indem sie versuchen, möglichst schnell und angemessen auf die Bedürfnisse des Babys zu reagieren.

Auch wenn nach den ersten drei Lebensjahren die Bindungsentwicklung im Großen und Ganzen abgeschlossen ist, benötigen alle Kinder bis ins Jugendalter hinein den Rückhalt ihrer Eltern. Sie werden selbstständiger und erkunden die Welt; gleichzeitig suchen sie aber weiterhin Geborgenheit im Elternhaus. Dies gilt ganz besonders für Kinder mit geistiger Behinderung, da sie sich auch im emotionalen und sozialen Bereich langsamer entwickeln.

Tipp

Viele Eltern erfahren erst nach dem dritten Lebensjahr von der geistigen Behinderung ihres Kindes, also dann, wenn die wichtigste Phase des Bindungsaufbaus hinter ihnen liegt. Wenn das bei Ihnen der Fall ist, können Sie dieses Kapitel nutzen, um sich daran zu erinnern, wie sich die Beziehung zu Ihrem Kind in den ersten Lebensjahren entwickelt hat und welche Schwierigkeiten es womöglich gab. Vielleicht finden Sie in diesem Abschnitt Erklärungen für ein besonderes Verhalten Ihres Kindes. Die psychologische Forschung spricht dafür, dass sich die Bindung eines Menschen lebenslang weiterentwickelt und dass negative Bindungserfahrungen in der frühen Kindheit durch spätere positive Erfahrungen ausgeglichen werden können. Dies erleben wir auch bei Pflege- und Adoptivkindern, die in ihrer neuen Familie oft große Entwicklungsfortschritte machen.

Schwierigkeiten beim Bindungsaufbau und wie Sie Ihnen begegnen können

Beispiel

 

Mia (9 Monate) wurde mit dem Downsyndrom geboren. Ihre Eltern haben bereits vor der Geburt erfahren, dass ihr Kind wahrscheinlich eine geistige Behinderung haben wird. In den ersten Lebensmonaten sind sie überrascht, wie wenig Mia sie anschaut und dass sie fast nie lächelt. Mias große Schwester hatte sie bereits im zweiten Lebensmonat angelächelt. Um Kontakt zu Mia herzustellen, probieren die Eltern einiges aus: Lieder singen, streicheln, kitzeln. Sie bemerken, dass Mia besonders gut auf ein bestimmtes Lied reagiert. Die Eltern entwickeln mit ihr ein Ritual. Jeden Tag singen sie das Lied und machen dazu Körperspiele mit Mia. Mit neun Monaten schaut Mia ihre Eltern nun immer öfter an und beginnt zu lächeln.

Verminderte Kontaktaufnahme durch den Säugling

Wenn Babys zur Welt kommen, sind sie vollkommen auf die Pflege ihrer Eltern angewiesen. In den ersten Lebenswochen können sie noch nicht einmal ihr Köpfchen selbst halten oder ihre Körperposition selbstständig verändern. Dennoch suchen Säuglinge schon frühzeitig den Blickkontakt zu ihren Eltern und teilen mit ihrem Gesichtsausdruck und Verhalten ihre Empfindungen mit. Es entwickelt sich ein soziales Spiel, bei dem Eltern und Kind sich gegenseitig anschauen und nachahmen. Man nennt das auch Spiegeln. Durch das Schauen und Lächeln des Kindes erhalten die Eltern eine direkte Belohnung für all ihre intensiven Bemühungen um das Kind. Es entsteht das Gefühl: „Wir gehören zusammen und haben uns gern.“

Immer wieder Kontaktangebote machen.

Säuglinge mit geistiger Behinderung zeigen meist ein verspätetes und eingeschränktes Kontaktverhalten. Es fällt ihnen schwer, den Blick auf die Eltern zu richten und längere Zeit aufrechtzuerhalten. Manche Babys sind auch sehr unruhig oder lassen sich kaum an der Brust stillen. Das Spiel von Anschauen und Nachahmen kommt so erst verspätet oder gar nicht zustande. Viele Eltern erleben dies auf der Gefühlsebene als eine Zurückweisung. Das Kind scheint auf all ihre Bemühungen gar nicht zu reagieren. Manche Eltern stellen dann ihrerseits die Kontaktangebote ein und versorgen das Kind nur noch körperlich. Da es keine lebendige Interaktion zwischen Eltern und Kind gibt, stagniert die Entwicklung der Eltern-Kind-Bindung.

Ich empfehle Ihnen deshalb, immer wieder bewusst den Kontakt zu Ihrem Säugling zu suchen – auch wenn dessen Reaktion verzögert erfolgt oder sogar ganz ausbleibt. Schauen Sie Ihrem Kind regelmäßig in die Augen, sprechen Sie mit ihm und vermitteln Sie ihm ihre Zuneigung durch engen Körperkontakt. Viele Babys und Kleinkinder genießen auch körpernahe Spiele, bei denen Sie Ihrem Kind über die Haut pusten, es streicheln und kitzeln oder vorsichtig durch die Luft schwingen. Beobachten Sie dabei genau, ob Ihr Kind das Spiel genießen kann. Möglicherweise müssen die Spiele kürzer ausfallen oder das Baby benötigt längere Erholungsphasen. Je älter Ihr Kind wird, desto mehr Freude am Kontakt werden Sie gemeinsam erleben.

Besondere Gesichtsmerkmale und körperliche Einschränkungen

Manchen Kindern mit Intelligenzminderung wird die Kontaktaufnahme zu den Eltern zusätzlich durch körperliche Besonderheiten erschwert. Im Rahmen eines genetischen Syndroms haben betroffene Kinder manchmal besondere Gesichtszüge, die nicht dem üblichen Kindchenschema entsprechen und womöglich Scheu oder sogar Abneigung bei den Bezugspersonen hervorrufen. Auch können besondere Gesichtsformen zu einer eingeschränkten Mimik führen, die das „Spiegeln“ mit den Eltern erschwert. Manchmal bestehen neben der geistigen Behinderung auch körperliche...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2023
Reihe/Serie Kinder sind Kinder
Kinder sind Kinder
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sozialwissenschaften Pädagogik Sonder-, Heil- und Förderpädagogik
Schlagworte Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigung • Betreuung von Menschen mit Behinderung • Elternforum • Elternratgeber • Entwicklungsstörung • Erwachsen werden mit Behinderung • Familie und behindertes Kind • Geistig behindertes Kind • geistig behindertes Kind aggressiv • geistig behindertes Kind erziehen • geistig behindertes Kind fördern • geistig behindertes Kind forum • geistige Behinderung und Sexualität • Geschwisterkinder • Herausforderndes Verhalten • Intelligenzminderung • Intelligenzminderung geistige Behinderung • Intelligenzminderung Symptome • Intelligenzminderung Ursachen • Menschen mit besonderen Bedürfnissen • selbstfürsorge eltern • Selbstständigkeitsentwicklung • Soziale Hilfe • Teilhabe • Therapieplanung
ISBN-10 3-497-61786-5 / 3497617865
ISBN-13 978-3-497-61786-9 / 9783497617869
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