Georg Simmel (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
136 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0310-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Georg Simmel -  Uwe Krähnke
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Georg Simmel nimmt in Bezug auf die Wissenssoziologie den Status eines »Wegbereiters« ein. Er formulierte soziologische, erkenntnistheoretische und kulturphilosophische Problemstellungen, die (posthum) in die sich formierende Wissenssoziologie hineinwirkten. Die wissenssoziologischen Pionierleistungen Simmels sind vielfältig. So stehen im Zentrum seiner relationistischen Sozialtheorie die Wechselwirkungen zwischen den Individuen und der dynamische Vergesellschaftungsprozess. Weiterhin insistiert Simmel darauf, dass Soziologinnen und Soziologen auf eine bereits von den Menschen selbst gedeutete soziale Welt stoßen. Seine diesbezüglichen Überlegungen zu den soziologischen Apriori stellen einen Versuch dar, die kantianistische Epistemologie sozialkonstruktivistisch umzuformulieren. Jenseits dieser eher grundlagentheoretischen Innovationen finden sich in Simmels unzähligen Essays dichte Beschreibung von Alltagserscheinungen des modernen Lebens. In seinen Abhandlungen über den Fremden, den Raum, das Geld, die Großstadt oder über das ethische Problem der Freiheit - um hier nur eine kleine Auswahl zu nennen - offenbaren sich Simmels beeindruckende phänomenologische Beobachtungsgabe und analytisch präzise Genauigkeit. Zugleich schält sich in den Essays eine bis heute noch aktuelle kulturelle Zeitdiagnose heraus. In diesem Band werden die Konturen einer Wissenssoziologie bei Simmel aufgezeigt und in Beziehung zum biografischen Kontext und wissenschaftlichen Habitus dieses Klassikers gesetzt.

Uwe Krähnke, Jg. 1967; studierte Sozialwissenschaften an der HU Berlin. Er promovierte an der TU Chemnitz und habilitierte an der HU Berlin. Seit 2018 ist er Professor für Qualitative Forschungsmethoden an der Medical School Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Moderne als dynamisierte Gesellschaft; Lebensführung in gierigen Institutionen und psychische Belastungen in der Arbeitswelt

Uwe Krähnke, Jg. 1967; studierte Sozialwissenschaften an der HU Berlin. Er promovierte an der TU Chemnitz und habilitierte an der HU Berlin. Seit 2018 ist er Professor für Qualitative Forschungsmethoden an der Medical School Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Moderne als dynamisierte Gesellschaft; Lebensführung in gierigen Institutionen und psychische Belastungen in der Arbeitswelt

I. Einleitung: Konturen einer Wissenssoziologie im Denken von Simmel
II. Biografische Stationen eines prominenten Außenseiters im akademischen Milieu des Wilhelminismus
III. Die Sinnhaftigkeit des Alltäglichen und die Trajektorie der modernen Kultur
III.1 Vom Henkel zum Individuum –eine strukturell-analytische Phänomenologie
III.2 Zwischen Neurasthenie und individuellem Freiheitsgewinn – ein Sozialpsychogramm der Großstädter:innen
III.3 Auflösung alles Substantiellen und Hypertrophie der objektiven Kultur – eine Zeitdiagnose der modernen Gegenwartsgesellschaft
IV. Zwischen Kantianismus und Sozialkonstruktivismus
IV.1 Die fachwissenschaftlich-grundlagentheoretische Adaption Kants
IV.2 Der Raum als ›seelischer Inhalt‹ und die verräumlichte Vergesellschaftung
IV.3 Die intersubjektive Erfahrung, vergesellschaftet zu sein
IV.4 Geheimhaltung und Koketterie als interaktive Handlungsvollzüge
V. Wechselwirkung als heuristisches Grundprinzip einer dynamisierten Theoriebildung
V.1 Von der physikalischen zur sozialen Dynamik
V.2 Das Geld als regulatives Weltprinzip und die korrelationistische Wahrheitstheorie
VI. Simmel als ein Wegbereiter der Wissenssoziologie
VI.1 Rezeption und Wirkungsgeschichte
VI.2 Was kann Simmel der heutigen Wissenssoziologie bieten?
VII. Literatur
VII.1 Schriften von Georg Simmel
VII.2 Sekundärliteratur und weitere zitierte Literatur
VIII. Zeittafel

Personenregister
Sachregister

II. Biografische Stationen eines prominenten Außenseiters im akademischen Milieu des Wilhelminismus


Simmel wurde am 1. März 1858 im damals belebten Zentrum Berlins, Leipziger Straße, Ecke Friedrichstraße geboren. Er war das jüngste von sieben Kindern des Kaufmanns Eduard Maria Simmel und seiner Ehefrau Flora (geb. Bodstein). Die Eltern waren zwar jüdischer Abstammung, jedoch konvertierten sie, sodass Simmel kurz nach seiner Geburt evangelisch getauft wurde. Als 16 Jahre später sein Vater starb, übernahm der Nennonkel Julius Friedländer die Vormundschaft für Simmel. Der Vormund war Buch- und Musikalienhändler und durch die Erfindung der Notendruck-Schnellpresse vermögend geworden. Somit konnte er Simmels akademische Laufbahn dauerhaft finanziell unterstützen.

Nach dem Abitur studierte Simmel ab 1876 an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, zunächst vor allem Geschichtswissenschaft u. a. bei Theodor Mommsen und Kunstgeschichte bei Herman Grimm, wandte sich jedoch zunehmend der Philosophie und Völkerpsychologie zu – vertreten durch Moritz Lazarus und Eduard Zeller – sowie der Kunstgeschichte und dem Altitalienischen. Unter Simmels Lehrern hatte vor allem Grimm mit seinen kunsthistorischen Betrachtungen über Persönlichkeiten wie Goethe und Michelangelo eine große Bedeutung für ihn. Zudem ist der Einfluss von Lazarus auf Simmels spätere soziologische und kulturphilosophische Überlegungen unübersehbar (KÖHNKE 1996: 41f.). 1881 wurde Simmel an der Berliner Universität promoviert. An derselben Universität habilitierte er sich vier Jahre später und nahm anschließend eine Lehrtätigkeit als Privatdozent auf. Er lehrte zunächst nur Philosophie, beschäftigte sich aber ab 1887 verstärkt auch mit soziologischen und sozialwissenschaftlichen Themen. Von 1893 bis 1912 lehrte Simmel mit nur kurzen Unterbrechungen immer in mindestens einer Veranstaltung Soziologie. Seine Vorlesungen und Vorträge waren so gut besucht, dass sie im größten Hörsaal der Berliner Universität stattfanden. Aufgrund seines brillanten Vortragsstils wurden sie zu einem Aushängeschild der Universität. Nicht nur Studierende der Berliner Universität besuchten seine Veranstaltungen. Simmel galt auch unter den intellektuellen Touristen aus dem In- und Ausland, die in die damalige Reichshauptstadt kamen, als Geheimtipp.

Neben dem überragenden Lehrerfolg an der Berliner Universität genoss Simmel aufgrund seiner Publikationen ein hohes öffentliches und internationales Ansehen. Wie sein facettenreiches Œuvre belegt, war er nicht auf eine Wissenschaftsdisziplin festgelegt. Seine publizistische Tätigkeit begann er in den 1890er-Jahren mit grundlagentheoretischen Studien zu geschichts-, moral- und sozialwissenschaftlichen Problemen. Werke aus dieser Zeit sind Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892, GSG 2: 297-421) und die Einleitung in die Moralwissenschaft (Bd. I 1892, GSG 3, Bd. II 1893, GSG 4).

Etwa zur selben Zeit wie Émile Durkheim in Frankreich publizierte Simmel seine zentralen soziologischen Arbeiten Über sociale Differenzierung (1890, GSG 2: 109-296) und Das Problem der Sociologie (1894, GSG 5: 52-61). Beide Schriften wurden nach Überarbeitung 1908b in das Opus magnum Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (die sogenannte ›Große Soziologie‹) aufgenommen (GSG 11). In diesem Buch stellte Simmel seine Konzeption der Formalen Soziologie dar. Integriert wurden in das Buch eine Reihe weiterer, zwischen 1901 und 1908 veröffentlichte soziologische Aufsätze. Die neun Jahre später publizierten Grundfragen der Soziologie (›Kleine Soziologie‹, 1917b, in GSG 16: 59-150) griffen die frühere soziologische Ausrichtung auf die Untersuchung der Vergesellschaftungsformen auf. In dieser Monografie entwarf Simmel – wiederum in Anlehnung an Kants Wissenschaftstheorie – das Programm einer Allgemeinen, einer Reinen bzw. Formalen und einer Philosophischen Soziologie und veranschaulichte es an Beispielen.

Wie sehr Simmel um 1900 auf die Soziologie setzte, spiegelt sich nicht nur in der Vielzahl seiner soziologischen Veröffentlichungen wider. Er hatte zudem persönlichen Anteil an der institutionellen Etablierung und Professionalisierung der damals noch jungen Wissenschaftsdisziplin. So engagierte er sich in besonderer Weise bei der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahr 1909, für die er Max Weber, Ferdinand Tönnies und Werner Sombart gewann. Zudem war Simmel Mitherausgeber und Autor des American Journal of Sociology, veröffentlichte in dem von Durkheim gegründeten L’Année Sociologique und war Mitglied des von René Worms gegründeten Institut International de Sociologie. Er war daran beteiligt, dass ein soziologisches Publikationsorgan in Deutschland erschien, die Zeitschrift für Soziologie.

Um die Jahrhundertwende veröffentlichte Simmel seine beiden wohl bekanntesten Analysen der kulturellen Moderne. Zum einen die Philosophie des Geldes (1900, in GSG 6), in der die Frage behandelt wird, wie es zum weltumspannenden Geldverkehr kommen konnte und welche Folgen sich daraus für die Lebensweise der Individuen ergeben. Zum anderen der Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903a, in GSG 7: 116-131), ein Sozialpsychogramm der Bewohnerinnen und Bewohner urbaner Lebensräume. Wichtige Werke aus den beiden letzten Lebensjahrzehnten sind Philosophische Kultur (1911a, in GSG 14: 159-459); Hauptprobleme der Philosophie (1910, in GSG 14: 7-158); Das individuelle Gesetz (1913a, in GSG 12: 417-470) sowie seine letzte Monografie Lebensanschauung (1918, in GSG 16: 209-425).

Der Geschichtsphilosophie verlieh Simmel neue Impulse mit seinen Überlegungen zum Charakter der historischen Gesetzmäßigkeiten, zum verstehenden Erkennen und zur idealtypischen Begriffsbildung. Die Kunstphilosophie bereicherte er mit Monografien und Aufsätzen über wichtige Künstlerpersönlichkeiten wie Rembrandt, Michelangelo, Auguste Rodin und Stefan George. Nicht zuletzt Johann Wolfgang von Goethe wandte sich Simmel immer wieder zu. Der große deutsche Dichter, zugleich Staatsmann und Theaterdirektor, verkörperte für Simmel das Ideal der rastlosen Selbstkultivierung einer Persönlichkeit (SIMMEL 1900, in GSG 6: 617f.).

Weitere vielbeachtete kunstphilosophische Studien behandeln Themen wie das Portrait, den Schauspieler oder die Mode. Simmel trug auch zur Etablierung der Lebensphilosophie bei, deren bekannteste Vertreter um die Jahrhundertwende in Deutschland Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey und in Frankreich Henri Bergson waren.

Simmel publizierte nicht nur für das Fachpublikum. Entsprechend des von ihm geprägten Leitsatzes »Die philosophischen Begriffe sollen nicht immer nur in ihrer eigenen Gesellschaft bleiben, sondern auch der Oberfläche des Daseins geben, was sie zu geben haben.« (MARCUSE 1958: in Die Zeit) erschienen von ihm kürzere Essays in Tageszeitungen, insbesondere in der Frankfurter Zeitung, im Berliner Tageblatt und in Der Tag.

Trotz seines Lehrerfolgs an der Berliner Universität, der Wirkung seiner Publikationen in mehreren Wissenschaftsdisziplinen und im Feuilleton sowie seines Ansehens in internationalen Fachgesellschaften gab es in Simmels akademischer Karriere immer wieder Rückschläge und Zeiten der Stagnation. So wurde die von ihm 1881 ursprünglich eingereichte musikethnologische Dissertation Psychologisch – ethnographische Studien über die Anfänge der Musik (Archiv der HUB, Phil. Fak., Nr. 254/1, Bl. 160) von der Philosophischen Fakultät an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zurückgewiesen und Simmel konnte nur promovieren, indem er dem Vorschlag der Kommission folgte, auf eine im Jahr zuvor verfasste Schrift über Kants vorkritische Materie- und Raumauffassung (Archiv der HUB, Phil. Fak., Nr. 254/1, Bl. 161, in GSG 1: 9ff.) zurückzugreifen, mit der er den ersten Preis einer von derselben Fakultät gestellten Preisaufgabe gewonnen hatte.

Drei Jahre später musste Simmels Habilitationsverfahren wiederholt werden, da seine im Februar 1884 gehaltene Probevorlesung »Die metaphysischen Grundlagen des Erkennens« sowie das anschließende Kolloquium als »ungenügend« eingeschätzt wurden (Archiv der HUB, Phil. Fak., Nr. 1212, Bl. 81). Dadurch verschob sich die Ernennung Simmels zum Privatdozenten um ein Jahr. Wie kolportiert wurde, ist die Wiederholung anberaumt worden, weil Simmel »schroff und abkanzelnd reagiert habe, als [der anwesende dienstälteste Ordinarius] Zeller behauptete, der Sitz der Seele sei in einem bestimmten Hirnlappen« (LANDMANN 1958: 21).

Auf der Position des Privatdozenten musste Simmel 17 Jahre verharren. Die Beförderung zum Extraordinarius für Philosophie kam erst 1901 nach wiederholter Beantragung durch die Fakultät zustande. Trotz aussichtsreicher Platzierungen auf Berufungslisten und hochrangiger Fürsprecher in den Folgejahren...

Erscheint lt. Verlag 20.6.2023
Reihe/Serie Klassiker der Wissenssoziologie
Klassiker der Wissenssoziologie
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Alltagsphänomen • Alpen • dynamisierte Theoriebildung • Erkenntnistheorie • Fremde • Geheimnis • Geld • Georg Simmel • Geselligkeit • Großstadt • heuristisches Grundprinzip • Kunst und Literatur • Mahlzeiten • phänomenologische Einfühlung • Raum • Rosen • Scham • Senkblei-Vorgehen • Simmel • sinnrekonstruktive Analyse • Sinn und Stil des Lebens • Soziologie • Treue • Wissenssoziologie
ISBN-10 3-7445-0310-0 / 3744503100
ISBN-13 978-3-7445-0310-5 / 9783744503105
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