Gesammelte Schriften Bd. 3.2 (eBook)
216 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-6350-9 (ISBN)
Neben seiner Haupttätigkeit als Erwachsenenbildner und Sonderpädagoge, hat Hans Furrer (*1946) auch im Rahmen seiner politischen Tätigkeit einige Artikel verfasst. Weiter hat er Rezensionen zu den verschiedensten Büchern geschrieben und sich mit psychologischen und psychoanalytischen Fragen befasst. Dies Alles ist im Band 3.2 der Gesammelten Schriften enthalten.
1. Was ist Philosophie?
Philosophie darf nicht, wie in den Beispielen von Horster auf Erkenntnistheorie oder Ethik reduziert werden, ja sie sperrt sich gegen ihre Aufteilung in Unterdisziplinen. Der Philosophie würde damit angetan, was der Bildung bereits widerfahren ist: Wenn schon, wie es Adorno formuliert, »Das Ganze das Unwahre (ist).«5, so sind es noch mehr seine atomisierten Teile. Dem philosophischen Denken geht es nicht um Beschränkung, sondern um Beweglichkeit und Übersicht, es geht darum, Zusammenhänge zwischen Natur, Gesellschaft und den einzelnen Menschen zu erahnen.
Aus den eingangs gemachten Betrachtungen über die Rolle des Intellektuellen in der Gesellschaftergibt sich mit Horkheimer, dass
die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie [...] in der Kritik des Bestehenden [liegt]. [...] Das Hauptziel einer derartigen Kritik ist es zu verhindern, dass die Menschen sich an jene Ideen und Verhaltensweisen verlieren, welche die Gesellschaft in ihrer jetzigen Organisation ihnen eingibt. Die Menschen sollen den Zusammenhang zwischen ihren individuellen Tätigkeiten und dem, was durch diese erreicht wird, einsehen lernen, zwischen ihrer besonderen Existenz und dem allgemeinen Leben der Gesellschaft, zwischen ihren täglichen Projekten und den großen Ideen, die sie anerkennen.6
Diesen Anspruch erfüllen die praktischen Beispiele Horsters nicht und darum scheint mir die Bezeichnung Philosophieren mit Kindern zu hoch gegriffen. Horsters Praxis aber kann einen wertvollen Beitrag leisten, die Voraussetzungen für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Bestehenden auszubilden: die Fähigkeit zum kritischen Diskurs.
2. Diskurs mit Kindern
Horster beschreibt verschiedene Situationen, in welchen Kinder ›philosophische‹ Fragen stellen und versuchen, sie zu beantworten. Die betreffenden Kinder sind unterschiedlich alt, nämlich dreijährig, fünfjährig und zwölfjährig, sowie 12- bis 15jährig. Ihr Frageverhalten hat daher nicht die gleichen Ursachen und auch nicht dieselbe Struktur. Es ist zu unterscheiden zwischen Kindern, die sich im präoperationalen oder konkret-operationalen Stadium (im Sinne Piagets) befinden und Kindern bzw. Jugendlichen im Stadium der formal-abstrakten Operationen.
Aus diesem Grunde soll im Folgenden getrennt an die beiden grundsätzlich verschiedenen Arten des Fragens herangegangen werden.
a) Das Fragealter
Was ich hier etwas summarisch als Fragealter bezeichne, kann wiederum in zwei Phasen unterteilt werden: in die ›Warum-Fragen‹ (etwa 2-4 Jahre), die Horster ›nerven‹ und die eigentlichen Sachfragen (Vorschulalter). Bei den ›Warum-Fragen‹ schreibt Horster zurecht: »Warum ›nerven‹ sie uns eigentlich?«7 Eine mögliche Erklärung gibt Lacan:
Sämtliche ›warum?‹ des Kindes zeugen weniger vom Verlangen, den Dingen auf den Grund zu gehen, als sie in einem Auf-die-Probe-Stellen des Erwachsenen bestehen.8
Das Kind will eben gerade wissen, ob es mit seinen Fragen ›nervt‹ und ob es der Erwachsene deswegen fallen lässt. Auch dürfte die Funktionslust – d.h. Freude, die eben gelernte Sprache anzuwenden – eine Rolle spielen.
Anders verhält es sich mit den Sachfragen kleiner Kinder und den oft verblüffenden Antworten, die sie darauf geben. Hier hat das von Horster angeführte Bloch-Zitat seine Berechtigung: »Die philosophische Grundfrage hat ihren Ursprung im kindlichen Staunen.«9 Der Beitrag, den Eltern und andere Bezugspersonen dabei leisten können, bestünde darin, die Fähigkeit zum Staunen zu erhalten, sie nicht durch sofortige Erklärungen zu zerstören, sondern vor diesem Staunen sprachlos zu werden wie Lord Chandos10. Dies meint auch Hebbel, der auf die Frage, wieso in späteren Jahren der Zauber des Lebens verschwinde, antwortet:
Weil wir in all den bunten verzerrten Puppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt, und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeit der Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auflöst.11
Die Fragen und Antworten, die Kinder in diesem Alter beschäftigen, haften noch an den Phänomenen und entspringen dem mimetischen Sich-verlieren an den Gegenstand, dem Interesse in seiner ursprünglichen Bedeutung, als sich in die Sache um ihrer selbst willen vertiefen. Rationale Erklärungen können zwar verstanden, vielleicht sogar selbst gefunden werden, doch oft werden noch Kategorien und Verhaltensweisen an die Phänomene herangetragen, die uns ›unlogisch‹ oder gar ›falsch‹ erscheinen. So wenn sich zwei Kinder darüber streiten, ob Tomaten Gemüse oder Früchte seien. Das größere Kind wird biologisch argumentieren und die Tomaten unter die Früchte einreihen, während das kleinere Kind argumentiert, Tomaten seien Gemüse, weil sie im Selbstbedienungsladen bei den Gemüsen zu finden sind.
Christel Manske berichtet davon, wie sie mit Kindern eine Maus betrachtet und befühlt.
Jan [...] nimmt die Maus in die Hand und drückt sie an sich. Ich sage zu ihm: ›Denk daran, dass du dir die Hände wäschst‹. Er zeigt mir seine Hände ganz stolz: ›Sie sind sauber, ich hab sie mir eben gewaschen‹, sie sind sauber für die Maus.12
b) Diskursfähigkeit
Die Interaktionskompetenz die Horster in seinem Projekt13 den Kindern und Jugendlichen unterstellt, verlangt die gemeinsame Anerkennung der vier folgenden, reziprok erhobenen universellen Geltungsansprüche:
- sich verständlich auszudrücken
- etwas zu verstehen zu geben
- sich dabei verständlich zu machen
- und sich miteinander zu verständigen14
Dass dieser Konsens von Kindern der präoperationalen und konkret-operationalen Phase noch nicht erwartet werden kann, versteht sich von selbst. Anders liegen die Verhältnisse bei den 12 -15jährigen, die sich zum Teil bereits im Stadium der formal-abstrakten Operationen befinden. Bei ihnen kann die Dezentrierungsfähigkeit vorausgesetzt werden, die es braucht, um »Entscheidungen (zu) treffen und Reflexionen in Kommunikation mit anderen anstellen zu können«15. Es braucht aber auch die freien, gleichen und sich gegenseitig anerkennenden Subjekte, die sie in diesem Alter noch kaum sein können, da dies gesellschaftliche und vergesellschaftete Arbeit bedingte. Wirkliche
Reversibilität des Denkens ist also daran gebunden, dass sie im sozialen Austausch eingehalten wird. Geschähe dies nicht, so besässe das individuelle Denken eine unendlich viel beschränktere Beweglichkeit. Geht man davon aus [...] anerkennt man also, dass das logische Denken notwendigerweise gesellschaftlich ist16
und verweist damit auf die Warengesellschaft (aber auch darüber hinaus). Wir finden uns also vor dem Paradoxon, dass diejenigen Bedingungen, die einen Diskurs überhaupt erst ermöglichen, diesen zugleich behindern. Egalitärer (und herrschaftsfreier) Diskurs wäre eben erst möglich in einer wirklich egalitären (und herrschaftsfreien) Gesellschaft. Diesen Zusammenhang, dessen Erforschung das Lebenswerk Sohn-Rethels17 ausmacht, durchschaubar zu machen, ist eine Aufgabe der Philosophie. Er ist aber Kindern, aus ihrer gesellschaftlichen Situation heraus, noch nicht vermittelbar.
3. Sokratische Methode und Pragmatismus
Die sokratische Methode. wie sie hauptsächlich im Menon entwickelt wird, besteht darin, dass der Lehrer dem Schüler durch geschickte Fragestellung bei seiner Wiedererinnerung Hilfe leistet. Doch schleichen sich beim Lesen dieser ›Dialoge‹ Zweifel ein. ob der Sklave Menons (der bezeichnenderweise keinen Namen hat) nicht von Sokrates manipuliert und genau dorthin geführt werde, wo ihn Sokrates haben will. Im Erkenntnisprozess wäre es oft ratsam, bei den Phänomenen zu verweilen und zu schweigen, wie dies Wagenschein immer wieder exemplarisch gezeigt hat.
Auch im Unterricht ist der wahre Lehrer distanziert und vertrauend zugleich, indem er schweigt und wartet, [...] nicht ein Warten auf Gelerntes, sondern ein zutrauendes Erwarten des Niegewussten, des Einfalles. Schweigen zwar, aber beistehendes, mitdenkendes.18
Nur nebenbei sei erwähnt, dass diese Kritik auch die klinischen Versuche Piagets trifft. Die Anleitung und die vom Versuchsleiter schon gewusste Lösung stecken bereits in der Versuchsanordnung, was zwar den Anspruch Piagets, mit seinen Versuchen nur die Auseinandersetzung der Versuchsperson mit dem Untersuchungsgegenstand zu beobachten, schmälert, die Resultate aber keineswegs ihrer Bedeutung beraubt.
Wenn die sokratische Methode schon bei Sokrates selbst suspekt ist, scheint sie mir aber besonders gefährlich, wo sie mit dem Pragmatismus verbunden wird.19 Wenn – gemäss dem Pragmatismus – das Philosophieren auf seinen praktischen Effekt ausgerichtet sein muss, wer garantiert dann, dass derjenige. der sokratisch frägt, die Lösung und den gewollten Effekt nicht schon vorher weiss...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
ISBN-10 | 3-7562-6350-9 / 3756263509 |
ISBN-13 | 978-3-7562-6350-9 / 9783756263509 |
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