Paare in Kinderwunschbehandlung (eBook)

Eine Ethnografie soziotechnischer Praktiken des Kinderkriegens

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
256 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-078373-5 (ISBN)

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Paare in Kinderwunschbehandlung - Peter Hofmann
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Dieses Buch ist eine ethnografische Studie zur Praxis der Kinderwunschbehandlung, in der Paare und Ärzt:innen versuchen, eine Schwangerschaft herbeizuführen. Es gibt detaillierte Einblicke in eine soziomaterielle Praxis, die sich von der Lebenswelt der Paare über ärztliche Beratungsgespräche bis in Laboratorien erstreckt. Die Studie zeigt ein soziales Feld von Praktiken und Sinnstiftungen im hybriden Schnittpunkt der lebensweltlichen Erwartungen an das Kinderkriegen einerseits, der technischen Eigenlogik reproduktionsmedizinischer Verfahren andererseits. Dabei stellt sich heraus, dass gerade diese besondere Form der Herstellung von Kindern, Familien und Elternschaft den Prozess der Familiengründung transparent macht: Interaktionen, die sonst nur in Schlafzimmern stattfinden, unbeobachtete Prozesse im Inneren von Körpern und Aushandlungen einer schwer zugänglichen Intimkommunikation werden hier expliziert und dadurch soziologisch zugänglich. Dies ermöglicht einen Beitrag zu einer verstehenden Familiensoziologie, die die menschliche Fortpflanzung mit einem ganzheitlichen Blick auf biotechnische Prozesse, kulturelle Diskurse und subjektive Perspektiven begreift und auf neue theoretische Grundlagen stellt: Weder schließen sich Natürlichkeit und Technizität reproduktionsmedizinischer Vorgänge aus - sie stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Steigerung -, noch sind die alltäglichen Formen des Zeugens und Kinderkriegens frei von Kulturtechniken.



Peter Hofmann studierte Soziologie an der LMU München und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1482 'Humandifferenzierung' an der Johannes Gutenberg-Universität (JGU) Mainz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Pluralisierung und die geschlechtliche Ent-/Differenzierung des Elternwerdens. Er ist Co-Autor des ebenfalls in dieser Reihe erschienenen Buches Soziologie der Schwangerschaft. Explorationen pränataler Sozialität.

2 Vom Kinderkriegen zum Kindermachen


2.1 Paare im Erwartungskontext des Kinderkriegens


Eine Kinderwunschbehandlung setzt nicht nur einen Kinderwunsch voraus, den Paare gegenüber Reproduktionsmediziner:innen zum Ausdruck bringen müssen, sondern auch dessen authentische Wahrnehmung und Einordnung als auf natürlichem Weg trotz aller Bemühungen unerfüllt gebliebener Kinderwunsch, der entsprechend nach medizinischer Hilfe verlangt. Der medizinisch anerkannte Behandlungsgrund des „unerfüllten Kinderwunsches“ ist eine voraussetzungsreiche Konstruktion, die sich im Zuge medizinischer Behandelbarkeit sukzessive mitentwickelt hat und ihn wie eine Krankheit entwirft. Aber auch schon der Kinderwunsch selbst ist ein soziales Konstrukt, mit dem man sich beschäftigen muss, um das Kinderkriegen und die Kinderwunschbehandlung soziologisch verstehen zu können. In diesem Kapitel geht es darum, wie Paare zu Kinderwunschpaaren werden, auf welche Weise sie in den Kontext einer möglichen Kinderwunschbehandlung hineingeraten, welche Sinnhorizonte sich dabei innerhalb der Paarbeziehung auftun und wie sich diese entwickeln und verändern.14 Um diese Entwicklungen zu erfassen, müssen wir bereits vorher ansetzen: Wie gerät ein Paar überhaupt in den Erwartungskontext des Kinderkriegens?

2.1.1 ‚Soziale Schwängerung‘ von Paarbeziehungen


Der Kinderwunsch ist ein Konstrukt, das historisch erst dann zum Vorschein kommt, wenn Kinderkriegen keine biografische Selbstverständlichkeit mehr darstellt, seit man sich also auch keine Kinder wünschen kann, bzw. sich auch Personen oder Paare Kinder wünschen können, die noch vor kurzer Zeit gesellschaftlich dafür nicht in Betracht kamen. Mit letzteren sind vor allem gleichgeschlechtliche Paare gemeint, die allerdings auch heute noch deutlich geringeren Erwartungen an das Elternwerden im Sinne einer „sozialen Schwängerung“ (Hirschauer u. a. 2014: 263 f.) ausgesetzt sind. Frauen- und insbesondere Männerpaare müssen ihren Kinderwunsch, den sie sich oft selbst erst einmal zugestehen müssen (vgl. Dionisius 2021: 221 ff.), gegen ganz verschiedene Widerstände durchsetzen, die unter anderem auch von der Variante seiner Umsetzung sowie deren gesellschaftlicher Akzeptanz abhängen. Als motivationaler Grund wird der Kinderwunsch ansonsten meist nicht groß hinterfragt. Es wird als natürlich, selbstverständlich und meist seinerseits als grundsätzlich wünschenswert aufgefasst, dass Menschen ihn in bestimmten Phasen ihres Lebens zum Ausdruck bringen und umzusetzen versuchen. Aus soziologischer Perspektive soll der Kinderwunsch weniger als motivationales Substrat, wie es in der Psychologie verwendet wird und auch eher dem Alltagsverständnis entspricht, sondern zunächst in Form von kontingenten und kontextgebundenen kommunikativen Äußerungen ins Blickfeld genommen werden, die wiederum unterschiedliche Erwartungshorizonte des Kinderkriegens widerspiegeln. Grob lassen sich zwei grundsätzliche Formen des Kinderwunsches unterscheiden:

(1) Eine Art Einstellung oder Lebenshaltung, die eigene Kinder als ein grundsätzlich biografisch wünschenswertes Ereignis mitführt, kann etwa schon von Kindern oder Jugendlichen zum Ausdruck gebracht werden: Irgendwann will ich selbst mal Kinder haben, will selbst einmal Mama oder Papa sein. Dieser abstrakte, auf eine unbestimmte Zukunft gerichtete Wunsch, einmal selbst Kinder haben zu wollen, oder auch die Reue, dies im Leben versäumt zu haben, ist nicht weiter legitimierungsbedürftig und harmoniert mit der gesellschaftlich etablierten Normvorstellung, dass Kinderkriegen möglicher Bestandteil eines erfüllten Lebens und eine gute Sache ist (Mamo & Alston-Stepnitz 2015: 521). Damit assoziiert ist ein mehr oder weniger weit gefasster Rahmen an Lebensumständen, die die Bedingungen fürs Kinderkriegen normativ abstecken. Exemplarisch hört sich das im Interview so an:

Doris: Kinder wollten wir schon immer, das war klar. Wir haben uns/ wie das so ist: erstmal kennenlernen – und dann relativ schnell nach ’nem Jahr bin ich hierhergezogen. Dann war’s so: Wir ziehen jetzt sowieso zusammen und dann is ’n Kind ganz normal. Wir hatten das Alter, wir sind jetzt/ er ist 34, ich bin 33, acht Jahre sind wir jetzt zusammen. Also bei uns war das einfach mit Mitte Ende 20 dann 'n Thema, wo man sagt: Wir sind jetzt so weit. Man hat alles, man ist im Beruf fest drinne und die Wohnung war fertig, hat im Prinzip alles erreicht, was so ringsum ist/ das war im Prinzip so: Hochzeit, Baum pflanzen und Kind kriegen.

Wir leben in einer Gesellschaft mit grundsätzlich pronatalistischen Idealen. Der Kinderwunsch wird mehr oder weniger vorausgesetzt – begründungsbedürftig erscheint eher die Präferenz für Kinderlosigkeit. Insbesondere Frauen müssen eher Überzeugungsarbeit dafür leisten, keine Kinder wollen zu dürfen, sich also auch ohne Kinder eines erfüllten Lebens wähnen zu dürfen (vgl. Diehl 2014).15 Mit anderen Worten: Streitbar ist weniger der unerfüllte Kinderwunsch als vielmehr die erfüllte Kinderlosigkeit. Je unselbstverständlicher das Kinderkriegen aber auch für Frauen wird, desto ausgeprägter dürften sich individualisierte Motivrationalisierungen des Kinderwunsches durchsetzen.

(2) Für uns hier von größerem Interesse ist der Kinderwunsch weniger in diesem abstrakten, eher diskursanalytischen Sinne, sondern in seiner Konkretion in und um Paarbeziehungen, stärker auf das Hier-und-jetzt und auf seine praktische Umsetzung bezogen. Anders als Wünsche nach materiellen Gütern, einem bestimmten Einkommen oder einer Weltreise ist der Wunsch nach einem Kind primär eine Art Beziehungswunsch, der in der Regel eine:n passende:n Partner:in voraussetzt, also von einer sozialen Beziehung abhängig gemacht wird.16 Die sozialen Konstellationen und Arrangements, in denen das Kinderkriegen stattfindet, haben sich in den letzten ca. vier Jahrzehnten pluralisiert und nebenbei auch verschiedene Gradierungen des Kinderwunsches hervorgebracht. So können z. B. Männer, die Frauenpaaren qua Samenspende zu einer Schwangerschaft verhelfen, etwa auch ausgedünnte Formen der Ko-Elternschaft anstreben. All dies soll hier nur angedeutet und kann nicht weiter ausgeführt werden. Gegenstand dieser Studie sind geschlechtsungleiche, heterosexuelle Paare und damit die häufigste Form der personellen Besetzung angestrebter Elternschaft, wie sie nach wie vor am stärksten den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen dürfte. Dies verlangt soziologisch nach einer Perspektive, die dies einerseits kulturell-historisch kontingent setzt und andererseits eine paarsoziologische Optik ansetzt, die Paare als soziale Einheiten fassen kann und sie nicht a priori in Individuen zerlegt. Wenn Paare etwa „wir sind schwanger“ sagen, ist dies also nicht nur als Statement, sondern in einem bestimmten Sinne als lebensweltliche Realität des Paares zu lesen.

Der Wunsch nach einem Kind ist also doppelt kontingent, man wünscht sich diesen Wunsch in einer Beziehung wechselseitig als einen gemeinsamen. Idealerweise finden jene positiven Einstellungen zum Kinderkriegen in einer Paarbeziehung zueinander, sodass sich in der Intimkommunikation mehr und mehr die gemeinsame Vorstellung von einem gemeinsamen Kind verdichtet. Während die Fantasie oder vage Vorstellung gemeinsamer Kinder schon zu Beginn eine Partnerschaft inspirieren kann, kann viel Zeit vergehen, bis sich diese Vorstellung konkretisiert und in der Paarkommunikation zu einem gemeinsamen Wunsch heranreift. Zunächst ist keinesfalls selbstverständlich, dass es sich um intersubjektiv geteilte Vorstellungen handelt. Der kommunikative Prozess einer Paarbeziehung, in dem sich der gemeinsame Kinderwunsch synthetisiert, ist ebenso als Bestandteil des Kinderkriegens aufzufassen wie etwa die Paarsexualität, die dann zu einer Schwangerschaft führen soll. Einen Kinderwunsch gegenüber dem Partner zu früh zu äußern, ohne Gespür für seine Haltung, kann den gemeinsamen Kinderwunsch unter Umständen zerstören und damit künftigen Personen schon die Luft abdrehen, bevor sie in einer Partnerschaft gemeinsam gedacht wurden. Kinderwünsche wachsen in (Liebes‐)Beziehung und werden kommunikativ zur Welt gebracht. Daraus entstehen möglichst geteilte Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft zu dritt, die für die Paarbeziehung letztlich den Übergang in eine Zukunft als Familie bedeuten können.

Zu den normativen Erwartungen gehört, dass beide es ausdrücklich wollen sollten, wenn reproduktive Folgen (hetero)sexueller Paaraktivität nicht mehr verhütet werden. Eine typische Form des Wegs in die Schwangerschaft besteht in einem Handeln durch Unterlassen, indem eine oft jahrelange Routine der Empfängnisverhütung unterbrochen wird und sich das Paar in seinen Erwartungen auf eine mögliche Schwangerschaft einstellt. Man verlässt sich zunächst darauf, dass eine körperliche Reaktion, deren Funktionieren man selbst nicht überprüfen kann, schon irgendwann eintreten wird, während man diese Reaktion (das Eintreten einer Schwangerschaft) lange unterbunden hatte, ohne sie je erlebt zu haben. Ein interviewtes Paar äußert sich über den Weg in die Schwangerschaft retrospektiv so:

Thorsten: Wir haben aktiv mit unserem Kinderwunsch/

Mareike: gewartet, weil wir dachten, sobald wir uns angucken, werden wir schwanger.

...

Erscheint lt. Verlag 6.6.2023
Reihe/Serie ISSN
ISSN
Qualitative Soziologie
Qualitative Soziologie
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Ethnografie • Kinderkriegen • Kinderwunschbehandlung • Paarbeziehung • Reproduktionsmedizin • Zweierbeziehung
ISBN-10 3-11-078373-8 / 3110783738
ISBN-13 978-3-11-078373-5 / 9783110783735
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