Wem geglaubt wird (eBook)

Warum die Wahrheit nicht genug ist

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
352 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9629-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wem geglaubt wird -  Dina Nayeri
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Ob einem geglaubt wird oder nicht, entscheidet die Gesellschaft anhand unausgesprochener Regeln und Verhaltensweisen. Aber was, wenn Glaubwürdigkeit im Grunde ein Privileg ist, das nur Eingeweihten vorbehalten ist, die von Geburt an die entsprechenden sozialen Codes kennen und verwenden? Was bedeutet das für diejenigen, denen nicht geglaubt wird? Diesen Fragen geht Dina Nayeri in ihrem neuen Buch nach, das Reportage, Essay, Memoir und philosophische Betrachtung zugleich ist. Sie nimmt uns mit in Verhörräume und Gerichtssäle, in die Geschäftsetagen der Hochfinanz, in die Klassenzimmer ihrer Schulzeit und in ihre eigene Familie, um zu zeigen, wie sehr wir alle davon abhängig sind, dass die anderen uns Glauben und Vertrauen schenken.

Dina Nayeri wurde im Iran geboren und erhielt mit zehn Jahren Asyl in den Vereinigten Staaten. Ihr Debütroman Ein Teelöffel Land und Meer wurde in 14 Sprachen übersetzt. Mit ihrem erzählenden Sachbuch Der undankbare Flüchtling gewann sie den Geschwister-Scholl-Preis. Sie hat Abschlüsse von Princeton, Harvard und dem Iowa Writer´s Workshop und war Stipendiatin am Columbia Institute for Ideas and Imagination in Paris und an der American Library in Paris. Sie ist Preisträgerin des O. Henry Prize und des UNESCO City of Literature Paul Engle Prize. Ihre Texte wurden u. a. in der New York Times, dem Guardian, dem New Yorker und Granta veröffentlicht. Zurzeit ist sie Dozentin an der Universität von St. Andrews in Schottland.

1


Hin und wieder öffnete sich die schwere Tür, ein Mann wurde hineingestoßen – oder herausgezerrt, und man sah ihn nie wieder. Es waren immer ungefähr zehn Männer im Raum, alles Tamilen, wie K. Die Gefangenen im Militärgefängnis von Pambaimadu schliefen auf dem Betonboden, es gab weder Matratzen noch Bettzeug. Der Raum stank nach Schweiß, Urin und den Körperausdünstungen der vielen Männer, die hier zusammengepfercht waren. Wenn sie das Glück hatten, zur Toilette geführt zu werden, wuschen sie sich in einem Fass. Wenn man ihnen erlaubte, zu baden, benutzten sie alle dasselbe Wasser. Für die Letzten in der Reihe ergab es kaum mehr einen Sinn. Wenn die Soldaten K Essen brachten, stießen sie es mit den Füßen weg und lachten. »Sogar die Hunde werden besser behandelt als ihr«, sagten sie. Doch es spielte keine Rolle, denn Ks Hals war so angeschwollen, dass er nichts essen konnte. Oft pinkelten die Soldaten auf den Boden, bevor sie gingen. Und oft wurde K in einen anderen Raum gebracht, wo man ihn mit Gewehrkolben und Holzknüppeln schlug, bis er sein rechtes Knie nicht mehr beugen konnte.

Es war seltsam, dachte er, denn er und der andere junge Mann, der mit ihm unterwegs war, hatten sich am 10. Mai freiwillig von den Soldaten gefangen nehmen lassen. Sie hatten eine weiße Fahne dabeigehabt und sich als Zivilisten ausgewiesen. Doch K wurde einer anderen Gruppe von Männern zugeteilt, die man verdächtigte, zu den Tamil Tigers zu gehören. Seine Gruppe wurde in ein Militärlager gebracht, nicht in eines für Zivilisten.

Zunächst war die Folter wie eine Routine, die jeden Tag ein paar Stunden lang stattfand, mit anderen Gefangenen. Sie wurden geschlagen, anschließend fotografiert und dazu gezwungen, Geständnisse zu unterschreiben, dass sie die LTTE (die Liberation Tigers of Tamil Eelam, oder kurz Tamil Tigers) unterstützt hatten. K unterschrieb sein Geständnis am fünften Tag seiner Inhaftierung, im Mai 2009. Danach, so dachte er, würden seine Verhöre leichter werden. Doch schon bald wurde er von den Mitgliedern anderer politischer Parteien wie der EPDP (Eelam People’s Democratic Party) oder PLOTE (People’s Liberation Organisation of Tamil Eelam) erkannt, die behaupteten, er habe den Tamil Tigers dabei geholfen, Gold zu verstecken.

Eines Tages im August wurde K in den Verhörraum gebracht, in dem zehn Männer warteten, die wissen wollten, wo die Tamil Tigers ihr Gold versteckten. Während er sich keuchend hinkniete und versuchte, sie davon zu überzeugen, dass er nichts wusste, bekam er einen Schlag auf die Schulter. Als er sich umdrehte, sah er, dass ein Soldat mit einer Eisenstange herangetreten war. Das Ende der Stange war rot glühend, was sogar durch den grauen Schleier seiner Furcht deutlich wahrnehmbar war. Bevor K einen Gedanken fassen konnte, wurde ihm die Eisenstange gegen den rechten Arm gestoßen, eine brennende Hitze schoss durch seinen Körper und er hörte sich selbst wie aus weiter Ferne schreien, bevor er in Ohnmacht fiel. Als er wieder zu sich kam, wurde er weiter zum Gold der Tamil Tigers befragt, er spürte neue Brandwunden an seinem Körper: Auch sein Rücken war inzwischen schwer verbrannt – er konnte sich nicht daran erinnern, wann dies geschehen war.

Dann hielt der Pulk von Männern ihn fest und goss ihm Benzin über das Gesicht und die frischen Wunden auf seinem Rücken. Sie drohten, sie würden ihn anzünden, wenn er das Goldversteck nicht preisgebe. »Ich schwöre, dass ich es nicht weiß«, sagte er zum hundertsten Mal. »Ich bin nicht bei den LTTE. Ich arbeite bei einem Juwelier.« Während K würgte, kroch ein Jucken sein Rückgrat und seine Arme hinauf und lenkte ihn von dem widerwärtigen Geschmack des Benzins in seinem Mund und dem Gestank ab. Dann wurde das Jucken zu einem Brennen, und wieder hörte er sich schreien. Er blickte auf seinen Arm – seltsam, an welche Details man sich erinnert – und sah, dass die ausgetrocknete Haut, die seiner langen Haft geschuldet war, nun feucht und schleimig war und sich ablöste.

Die anderen Männer in der Betonzelle starrten ihn an, als K wieder hineingeworfen wurde. Das war die übliche Reaktion, wenn jemand zur Folter abgeholt worden war und wieder zurückkehrte: eine schweigende Begrüßung, eine Mischung aus Freude, dass derjenige noch am Leben war (und sie vielleicht alle überleben konnten), und Furcht davor, was man ihm angetan hatte. Dann folgten einige Minuten, in denen sie daran dachten, dass sie alle auf diese Weise sterben konnten – in diesem Moment teilte jeder im Raum diese Befürchtung.

K rollte sich auf seine linke Seite, auf der er keine Verbrennungen hatte. Er zog seine Knie an die Brust und betete darum, schlafen zu können. Doch der Schmerz war zu stechend und der Benzingeruch zu widerwärtig. Allein in seiner Ecke wartete er zitternd darauf, dass sich seine schmerzenden Muskeln durch sein Schluchzen entspannen würden. Doch er hatte keine Kraft und keine Tränen mehr, und er döste ein, ohne Erleichterung zu finden.

»Morgen«, flüsterte eine freundliche Stimme neben ihm, »wenn sie uns baden lassen, kommst du als Erster dran.«

Am nächsten Morgen verkündete ein Offizier, sie dürften baden, und alle waren sich einig, dass K als Erster gehen sollte. Der Mann, der direkt neben K schlief, half ihm, sein Hemd auszuziehen. »Sei vorsichtig«, flüsterte ein dritter Mann schaudernd, als der Rand einer Wunde zum Vorschein kam. »Halt still«, sagte der Helfer, während er Ks unversehrten linken Arm aus dem Ärmel zog. K ächzte. Der Stoff klebte an den feuchten Partien seiner Wunden, und als sein Freund das Hemd ganz nach oben zog, stöhnte K und drückte sich an die Wand. Er sah, dass Hautfetzen, Blut, Wasser und Reste von verbranntem Fleisch an seinem Hemd klebten. »Wie schlimm ist es?«, fragte er den dritten Mann, der sich schnell abgewendet hatte.

In diesem Moment ging die Tür auf. Sie erstarrten. K drückte sich wieder an die Wand. Ein Offizier kam herein und warf K ein frisches Hemd vor die Füße. »Zieh das an, nachdem du dich gewaschen hast.« Dann ging er hinaus.

»Es ist sauber«, sagte einer der Männer. »Du solltest es anziehen, damit die Wunden geschützt sind.«

K spritzte sich etwas Wasser über seinen Körper und zog das Hemd an. Die Schmerzen waren unerträglich. Das Hemd sollte er viele Monate lang tragen, bis es ganz mit Blut vollgesogen war.

Tagelang hatte K hohes Fieber und fürchtete, dass sich seine Wunden infiziert hatten. Doch er hatte keine Möglichkeit, sie sich anzusehen. Die Schläge hörten nicht auf. Hin und wieder wurde er zum Verhör gezerrt. Er wurde getreten, sein Essen wurde auf den Boden geworfen. Es wurden ihm keine weiteren Verbrennungen zugefügt, doch wegen des Benzins und der schmutzigen Umgebung heilten seine Wunden auch nach drei Monaten noch nicht. Jeden Morgen bat K seine Zellengenossen, sich die Wunden anzusehen. »Schon etwas besser? Beschreib mir, wie sie aussehen.« Die anderen taten ihm den Gefallen.

Als die Monate vergingen, brannten seine Wunden weniger, und wenn er sich auf seine Arme und auf den Rücken rollte, verspürte er nur noch einen dumpfen Schmerz oder ein Jucken, das ihn an sie erinnerte. Nach einer Weile begann er sich besser zu fühlen. Auf der Toilette unterhielt er sich gelegentlich mit einem EPDP-Mitglied namens Sasi, der mit ihm zusammen die Armee-Lieferwagen ablud. K fiel auf, dass Gefangene verschwanden, ohne dass sie von den Wachen abgeholt worden waren. Gerüchte verbreiteten sich. Eines Nachts im November 2010, als er auf dem Betonboden lag, flüsterte ein Zellengenosse ihm zu, dass die EPDP einem gegen Geld dabei half, auszubrechen.

Am nächsten Tag wagte K es, Sasi in den Toiletten darauf anzusprechen. Sasi starrte ihn einen Moment lang an. Dann sagte er: »Gib mir die Nummer deiner Eltern.« Ks Vater war ein äußerst talentierter Juwelier, der Gold für die Tamil Tigers eingeschmolzen hatte. Aus Angst um seine Familie hatte K sie seit vielen Monaten nicht kontaktiert. Doch hatte er noch eine Wahl? Sasi war ein Freund, und K gab ihm die Nummer.

Eines Tages im Dezember kam Sasi zu den Toiletten. »Ich habe mit deiner Familie gesprochen«, sagte er. »Ich brauche Geld, um dich hier rauszuholen.« Dann ging er, um die Fässer mit Proviant und Wasser vom Laster abzuladen. Erst am 3. Februar sprach er wieder mit K und sagte ihm, er solle sich für den nächsten Tag bereit machen.

Am 4. Februar war Sasi dabei, die leeren Proviant- und Wasserfässer wieder auf dem Laster zu verstauen. Als K ihm zu Hilfe kommen wollte, befahl Sasi ihm, sich flach auf den Rücken zu legen, und stapelte rasch die Fässer über ihm auf. Dann verschwand er, der Laster schnaufte und schlingerte vorwärts. Passiert das wirklich jetzt?, dachte K. Als der Laster beschleunigte, versuchte K ruhiger zu atmen. Doch sein Herz schlug zu unregelmäßig, also hielt er den Atem an.

Der Laster hielt am Eingang des Camps, alles schien vorüber zu sein. K hörte, wie Sasi mit dem Offizier sprach, dann wurde die Stimme des Offiziers lauter, und K konnte spüren, dass er direkt vor der Ladefläche stand. Er schloss die Augen, presste seine Lippen aufeinander. Seine Narben brannten, die Angst rief das Gedächtnis seines Körpers wach. Er dachte an seine Mutter, seinen Vater, seine Brüder, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Doch einen Moment später war der Offizier verschwunden und der Laster nahm wieder Fahrt auf. Eine Minute verstrich, dann fünf Minuten, und als der Laster wieder anhielt, waren 90 Minuten vergangen und das Camp lag weit hinter ihm.

Ich bin frei!, dachte K. Der Laster fuhr davon, und seine Feinde blieben hinter ihm zurück. Er atmete einen glückseligen Augenblick lang...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Asyl • Asylbewerber • Essay • Flüchtlinge • Gesellschaft • Gesellschaftkritik • Glaubwürdigkeit • Philosophie • Reportage • Sachbuch • Vertrauen • Wahrheit
ISBN-10 3-0369-9629-X / 303699629X
ISBN-13 978-3-0369-9629-5 / 9783036996295
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