Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht -  Tanja Sturm

Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht (eBook)

Leistung - Differenz - Behinderung

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
222 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-033062-7 (ISBN)
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Inklusion stellt einen Bezugspunkt aktueller schulisch-unterrichtlicher Entwicklungsvorhaben dar und wird als Abbau von Ungleichheit und Ungerechtigkeit akademischer und sozialer Partizipation von Schülerinnen und Schülern verhandelt. Inklusion ist an dem Ziel der Überwindung bestehender Exklusionen und Behinderungen orientiert. Welche Rahmen setzen dabei die Schulgesetze? Und in welchem Verhältnis stehen Leistung, Differenzen und Behinderung? Im Spannungsfeld von Inklusion einerseits und Exklusion andererseits bedeutet das für Lehrpersonen, ihr Handeln an Prinzipien der egalitären als auch der hierarchischen Differenz auszurichten. Anhand formaler schulischer Dokumente und dem bildungspolitisch favorisierten Steuerungskonzept beschreibt das Buch die Widersprüche und Herausforderungen und reflektiert sie theoretisch.

Dr. Tanja Sturm hat die Professur für Inklusive Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle.

Dr. Tanja Sturm hat die Professur für Inklusive Bildung an der Martin-Luther-Universität Halle.

2 Zentrale Begriffe des erziehungswissenschaftlichen Diskurses zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht


Der Bedeutungszuwachs, den das Themenfeld der schulisch-unterrichtlichen Inklusion und Exklusion in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft im vergangenen Jahrzehnt erfahren hat, zeigt sich u. a. in der Verbreiterung sowie in der Differenzierung des Fachdiskurses. So lassen sich u. a. anerkennungstheoretische (vgl. z. B. Fritzsche 2018), in der empirischen resp. evidenzbasierten Bildungsforschung (vgl. z. B. Grosche 2015) verankerte, praxeologisch-wissenssoziologische (vgl. z. B. Sturm 2015; Wagener 2018), machtanalytische (vgl. z. B. Link 2019), systemtheoretische (vgl. z. B. Cramer & Harant 2014) sowie in der Kritischen Theorie (vgl. z. B. Bärmig 2015; Katzenbach 2015) fundierte Verständnisse in der Erziehungswissenschaft unterscheiden2. Die Begriffe Inklusion und Exklusion werden, je nach meta- oder grundlagentheoretischem Zugang, unterschiedlich definiert. Damit verbunden sind auch verschiedene Verständnisse von Behinderung, Normalität und Abweichung sowie deren gesellschaftliche, organisatorische und/oder individuelle Konstruktion. Das bedeutet, dass vielfach die gleichen Begriffe verwendet werden, damit aber ganz unterschiedliche Gegenstände oder Phänomene bezeichnet werden. Mit der jeweils gewählten Grundlagen- oder Metatheorie positionieren sich die Autor:innen wissenschaftlicher Texte an einem Standort, von dem aus sie den Gegenstand, z. B. Inklusion und Exklusion, beschreiben, verstehen und betrachten. Die Wissenschaft selbst kann sich einer Standortgebundenheit ebenfalls nicht entziehen. Wissenschaftler:innen sind jedoch gefordert, den von ihnen gewählten meta-theoretischen Zugang, die Gegenstandstheorien sowie die Methodologien und Methoden, mit denen sie arbeitet, zu benennen (vgl. z. B. Meseth, Casale, Tervooren & Zirfas 2019; Thompson & Wrana 2019), um ihre Positionen nachvollziehbar zu machen.

Trotz der Vielfalt sozial- und v. a. erziehungswissenschaftlicher Zugänge zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht teilen diese, dass sie sich – meist explizit – auf die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, kurz UN-BRK (2006; 2008), beziehen. Diese fungiert dabei wesentlich als normativer Bezugspunkt, wenngleich nicht immer eindeutig abgegrenzt wird, ob in moralischer, rechtlicher und/oder politischer Hinsicht (vgl. Weyers 2019). Der damit aufgemachte menschenrechtliche Bezug stellt einen übergeordneten und zugleich universalistischen Rahmen dar, zu dem sich auch wissenschaftliche Praxen und ihre Normen in Beziehung setzen müssen (vgl. Wrana 2019). Im deutsch- ebenso wie im englischsprachigen Fachdiskurs zu Inklusion und Exklusion in Schule und Unterricht stellen Behinderung und in Bezug auf Schule und Unterricht sonderpädagogischer Förderbedarf zentrale Begriffe dar. Grob lassen sich für Behinderung individuelle, soziale und kulturelle Verständnisse unterscheiden (vgl. Waldschmidt 2020b). Die verschiedenen Verständnisse umfassen u. a. Vorstellungen, wie die Behinderungen minimiert oder überwunden werden können und in der Folge Teilhabe bzw. Partizipation eröffnet werden kann. Vor diesem Hintergrund gliedert sich das Kapitel wie folgt: Zunächst werden die unterschiedlichen Verständnisse von Behinderung (▸ Kap. 2.1) vorgestellt und diskutiert. Daran anschließend folgen Ausführungen zur Konzeptualisierung von Inklusion und Exklusion in der Erziehungswissenschaft (▸ Kap. 2.2).

2.1 Behinderung – unterschiedliche Verständnisse innerhalb der Erziehungswissenschaft


Bildung, Erziehung und Sozialisation gelten als drei Kernbegriffe der Erziehungswissenschaft. Behinderung stellt einen konstitutiven Begriff des teildisziplinären Diskurses, der unter unterschiedlichen Bezeichnungen geführt wird, u. a. Behinderten- und Sonderpädagogik, dar. Dabei fungiert Behinderung – wie auch immer sie verstanden und konzeptualisiert wird – als Begründung für diese spezifische pädagogische Perspektive und stellt zugleich den zentralen Gegenstand der Kritik dar (vgl. Moser 2003, S. 53). Innerhalb dieses teildisziplinären erziehungswissenschaftlichen Diskursstrangs werden eine Vielzahl begrifflicher Verständnisse von Behinderung formuliert, die sich entlang der jeweils aufgerufenen Relation von Natur und Kultur – ihrerseits Ausdruck von Metatheorien – unterscheiden (vgl. für einen Überblick: Moser & Sasse 2008; Waldschmidt 2022). Mit Anne Waldschmidt (2005, 2020b) lassen sich grob drei Verständnisse von Behinderung in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften unterscheiden: ein individuelles oder individualisiertes, ein soziales und ein kulturelles Modell. Die zwei letztgenannten Ansätze wurden in kritischer Auseinandersetzung mit dem individualisierten Modell – das im Unterschied zu den zwei anderen nicht explizit konzeptualisiert wurde – entwickelt. Sowohl das soziale als auch das kulturelle Verständnis von Behinderung verstehen diese nicht als individuelles Merkmal, sondern als sozial hervorgebrachte Formen der Nicht-Partizipation resp. der Behinderung von Partizipation. Beide Perspektiven können mittlerweile als den erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs dominierende Zugänge betrachtet werden. Das Verständnis von Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion liegt auch der UN-BRK zugrunde (vgl. Bielefeldt 2009), also einem zentralen normativen Bezugspunkt erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Diskurse. Alle drei Verständnisse sollen kurz vorgestellt werden.

Individuelles oder individualisierendes Verständnis von Behinderung

Historisch betrachtet, stellt das individuelle Verständnis von Behinderung insofern einen zentralen Ausgangspunkt aktueller Diskurse in den Sozialwissenschaften dar, als die jüngeren Verständnisse sich aus der Kritik an diesem entwickelt haben. In dem individuellen oder individualisierten Verständnis wird Behinderung als Merkmal oder Eigenschaft von einzelnen Personen konzeptualisiert. Behinderung wird dabei als körperliche oder psychische Schädigung oder Abweichung von einer (unhinterfragten) Normalität verstanden. Die Abweichung ist negativ konnotiert und Teil der Person bzw. ihr inhärent. Schädigungen, die gleichgesetzt sind mit Behinderungen, werden auf der Grundlage von Vergleichen mit anderen, als vollfunktionsfähig oder als ›normal‹ bezeichneten Körpern und/oder Psychen ermittelt und definiert. Die implizit aufgerufene Vergleichsgröße gilt als nicht-behindert und damit als ›normal‹. Die körperliche und/oder psychische Schädigung resp. Behinderung begründet sich in der Körperlichkeit und existiert losgelöst von sozialen und kulturellen Kontexten. Die ›abweichende‹ Natur, Körperlichkeit oder Psyche behindert die davon betroffenen Personen, so eine Kernannahme des Ansatzes, von einer vollwertigen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Das individuelle oder individualisierende Verständnis von Behinderung wird auch als essentialisierende, medizinische oder ontologische Perspektive bezeichnet (vgl. Waldschmidt 2005).

Dieses Behinderungsmodell geht mit einem Verständnis sogenannter behinderter Menschen einher, deren Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft im gesellschaftlichen Produktionsprozess als minderwertig betrachtet werden und die als hilfsbedürftig gelten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in den westlichen Staaten industrieller Prägung dieses Verständnis der Hilfsbedürftigkeit institutionalisiert, indem der Staat ebenso wie bürgerliche und kirchliche Einrichtungen den sogenannten Hilfsbedürftigen mit karitativen Angeboten begegnen. Dies wird nicht selten mit der Annahme verbunden, für die Hilfe Dankbarkeit vonseiten der behinderten Menschen erwarten zu können (vgl. Zahnd 2017). Verbunden damit haben sich unterschiedliche Professionen und Berufe etabliert, die sich den Problemen der Personen widmen, u. a. Sonderpädagog:innen, während die Betroffenen selbst nur marginal als Expert:innen oder bei der Suche nach Problemlösungen partizipierend einbezogen werden (vgl. Waldschmidt 2005). Diese ausschließlich individualbezogene Perspektive findet sich in den expliziten erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Behinderungsverständnis heute kaum noch. Sie findet sich jedoch – dies wird in den weiteren Ausführungen des Buches aufgezeigt – sowohl in formalen schulischen Dokumenten als auch in Forschungsansätzen (▸ Kap. 5, ▸ Kap. 6).

Eine zentrale Kritik an dem individualisierenden Behinderungsverständnis besteht darin, dass jene, die die Hilfe, Fürsorge und Pädagogik organisieren, auch die Deutungshoheit darüber haben, wer wie und in welcher Form unterstützt wird und als arbeitsfähig gilt (vgl. Sierck 2012b, S. 32). Die kritische und emanzipatorische Auseinandersetzung mit dem Behinderungsverständnis und seinen alltagspraktischen Konsequenzen und Erfahrungen wurde maßgeblich von dem interdisziplinären Forschungszugang der Dis_Ability Studies initiiert. Dieser Forschungsansatz hat sich...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2023
Zusatzinfo 5 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Inklusive Didaktik • inklusiver Unterricht • Inklusive Schule
ISBN-10 3-17-033062-4 / 3170330624
ISBN-13 978-3-17-033062-7 / 9783170330627
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