Wissenschaftsforschung (eBook)
382 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-071388-6 (ISBN)
Die Wissenschaftsforschung macht die Wissenschaft zum Gegenstand von Wissenschaft. Sie untersucht zum einen die Innenwelt der Wissenschaft, also die Produktion wissenschaftlichen Wissens, die Praxis der Forschung und ihre institutionellen Strukturen. Zum anderen interessiert sie sich für die Außenbeziehungen der Wissenschaft, ihre Prägung durch die gesellschaftliche Umwelt und ihre Effekte in verschiedenen Anwendungskontexten.
Als interdisziplinäres Feld mit Wurzeln in der Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie ist die Wissenschaftsforschung nicht leicht einzukreisen. Vor diesem Hintergrund versteht sich das vorliegende Lehrbuch als Wegweiser in einem manchmal unübersichtlichen interdisziplinären Gelände. Im ersten Teil werden Grundlagen und Grundbegriffe erläutert. Der zweite Teil sortiert zentrale Forschungsfelder; es geht um Expertise, um das Labor, um die Universität und um die Rolle der Wissenschaft für Innovationprozesse. Der dritte Teil bietet Orientierung in wissenschaftspolitischen Debatten; behandelt werden hier Fragen der Qualität von Forschung, ihre gesellschaftliche Relevanz und ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit. Der vierte Teil führt in methodologische Debatten ein, bevor abschließend Erfahrungen aus der Lehrpraxis reflektiert werden.
David Kaldewey, Universität Bonn
Teil I: Grundlagen und Grundbegriffe
1 Die Wissenschaft als Gegenstand von Wissenschaft
Die Wissenschaftsforschung, das ist zunächst trivial, erforscht die Wissenschaft. Damit wird die Wissenschaft Gegenstand von Wissenschaft. Beobachterin und Beobachtetes, Subjekt und Objekt, fallen ineinander. Um diese Zirkularität aufzulösen und sinnvolle Forschung betreiben zu können, müssen beide Seiten der Unterscheidung immer wieder neu scharf gestellt werden. Auf der Seite der beobachtenden Wissenschaft kann gefragt werden, welche Wissenschaft als Beobachterin auftritt und welche Konzepte, Theorien und Methoden sie dabei verwendet. Beobachtet wird die Wissenschaft etwa von der Wissenschaftssoziologie als Subdisziplin der Soziologie, von der Wissenschaftstheorie als Subdisziplin der Philosophie, von der Wissenschaftsgeschichte als Subdisziplin der Geschichtswissenschaft oder auch von einem interdisziplinären Konglomerat, das mit Sammelbegriffen wie „Wissenschaftsforschung“ oder „Science Studies“ benannt wird. Auf der Seite der beobachteten Wissenschaft wiederum muss präzisiert werden, was mit „Wissenschaft“ eigentlich gemeint ist und wie der angedeutete Objektbereich genau abgesteckt ist. Geht es um die Wissenschaft im Sinne eines Kollektivsingulars, eines Systems oder einer gesellschaftlichen Institution? Oder muss man zunächst einen Plural der Wissenschaften ansetzen und sich dann eine Wissenschaft, etwa eine spezifische Disziplin, herausgreifen (siehe auch Kapitel 4, Roth)? Geht es um wissenschaftliches Wissen als eine besondere Form von Wissen, um eine besondere wissenschaftliche Praxis, etwa im Sinne eines theoretisch angeleiteten und methodisch kontrollierten Forschungshandelns, oder geht es einfach um das, was Wissenschaftler✶innen „tun“? Oder richtet sich das Interesse darauf, was Wissenschaft in der Summe bewirkt, wie sie die Gesellschaft, die alltägliche Lebenswelt und die natürliche Umwelt verändert (siehe auch Kapitel 2, Kaldewey)?
Ausgehend von der Unterscheidung von Beobachterin und Beobachtetem richtet sich der Blick im ersten Abschnitt dieses Kapitels auf die Pluralität der Beobachtungsperspektiven, das heißt auf das institutionalisierte Feld der Wissenschaftsforschung und die darin etablierten Teildisziplinen. Es wird gezeigt, dass die verschiedenen Forschungsfelder und Forschungstraditionen nicht von bestimmten historischen und kulturellen Kontexten getrennt werden können. Gerade die soziologisch geprägten Strömungen der Wissenschaftsforschung sind relativ jung, sie haben erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine gewisse Sichtbarkeit gewonnen. Im Prozess ihrer Institutionalisierung reagierten sie nicht nur auf die älteren Traditionen der Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, sondern auch auf die komplexen gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – und, ganz praktisch, auf Erwartungen aus ihrer Umwelt, etwa von Seiten der Politik, der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft. Die Tatsache, dass die institutionalisierte Wissenschaftsforschung noch jung ist, bedeutet allerdings nicht, dass sie das Rad ganz neu erfunden hätte. Im zweiten Abschnitt gehen wir deshalb bewusst einen Schritt weiter in die Geschichte und Vorgeschichte der Wissenschaftsforschung hinein und beschreiben Vorläufer einer Wissenschaft der Wissenschaft. Der dritte Abschnitt wechselt dann zur Gegenstandsseite und widmet sich dem Wissenschaftsbegriff selbst. Ausgehend von einem kurzen begriffsgeschichtlichen Aufriss illustrieren wir, wie sehr das, was zu einer gegebenen Zeit als Wissenschaft verstanden wurde, einem stetigen Wandel unterliegt. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn definiert werden soll, was genau unter Wissenschaft zu verstehen ist. Im vierten Abschnitt wird, nun stärker soziologisch-analytisch als historisch argumentierend, eine idealtypische Unterscheidung von drei Dimensionen des Wissenschaftsbegriffs vorgestellt: Wissenschaft kann erstens verstanden werden als eine besondere Form von Wissen, zweitens als eine besondere Praxis und drittens als eine besondere soziale Institution. Das Kapitel schließt mit der Frage, ob sich der Fokus der Wissenschaftsforschung primär auf das Eigen- und Innenleben der Wissenschaft oder auf die Innen/Außen-Beziehungen, das heißt auf die gesellschaftliche Einbettung und die gesellschaftlichen Effekte der Wissenschaft richtet. Im Ausblick auf weitere Kapitel des vorliegenden Bandes wird vorgeschlagen, die Außenperspektiven oder System/Umwelt-Perspektiven als vierte Dimension des Wissenschaftsbegriffs zu konzeptionalisieren.
Das multidisziplinäre Feld der Wissenschaftsforschung
Die Bezeichnung „Wissenschaftsforschung“ wird im Allgemeinen als Überbegriff für diejenigen Subdisziplinen und Forschungstraditionen verwendet, die sich reflexiv mit Wissenschaft auseinandersetzen. Frühere Bezeichnungen wie „Wissenschaftswissenschaft“ oder „Metawissenschaft“, die in den 1960er und 1970er Jahren eine gewisse Konjunktur hatten, sind mittlerweile nicht mehr gebräuchlich. Dies gilt auch für den angelsächsischen Sprachraum, in dem sich um 1970 die Selbstbeschreibung Science Studies etabliert hatte, welche dann in den 1990er Jahren durch die erweiterte Kategorie der Science and Technology Studies (STS) abgelöst wurde. Die im Englischen und Deutschen unter diesen Begriffen gefassten wissenschaftlichen Gemeinschaften sind allerdings nicht identisch. Zwar wird hier wie dort Interdisziplinarität betont, doch sind unter Science Studies oder STS schwerpunktmäßig sozialwissenschaftliche Disziplinen subsumiert.1 Während der deutsche Ausdruck „Wissenschaftsforschung“ traditionell gleichermaßen die in der Philosophie verankerte Wissenschaftstheorie,2 die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftssoziologie beinhaltet, hat sich im Anglo-Amerikanischen die etwas ältere Paarung von History and Philosophy of Science (HPS) eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt und blieb auf Distanz zu sozialwissenschaftlichen Zugängen (Daston 2009).
Die geographischen Unterschiede spiegeln zumindest zum Teil die Varianz der historisch gewachsenen Wissenschaftskulturen wider – sowohl auf der Ebene der beobachtenden als auch der beobachteten Wissenschaften. Trotz globaler Perspektiverweiterung und des der Wissenschaft zugeschriebenen Universalismus blieb die Mehrzahl der Arbeiten lange Zeit den jeweilig eigenen nationalen oder kulturellen Rahmungen verhaftet. Um bei den deutsch-anglo-amerikanischen Differenzen zu bleiben, hier nur ein Beispiel: Dem breiteren, alle Disziplinen umfassenden deutschen Wissenschaftsbegriff entsprechend war das Interesse der deutschsprachigen Wissenschaftsforschung nie auf die exakten Wissenschaften („sciences“) begrenzt, wie es teilweise bei Beiträgen in der Tradition von HPS, den Science Studies und in den STS der Fall war.
Im Blick auf die Gegenwart des akademischen Feldes in Deutschland kann man feststellen, dass die Bezeichnung „Wissenschaftsforschung“ nicht einheitlich verwendet wird. Zugleich hat sie Konkurrenz bekommen oder wird teilweise überlagert durch die international institutionalisierten und mittlerweile auch in Deutschland gut etablierten STS. Einige Akteure in diesem Feld setzen Wissenschaftsforschung und STS weitgehend gleich, wofür es gute Gründe gibt, etwa weil beide Bezeichnungen als Meta-Kategorien funktionieren. Andererseits sollten gerade aus der Perspektive der soziologischen Wissenschaftsforschung die feinen Unterschiede zwischen diesen akademischen Gemeinschaften nicht vorschnell unter den Teppich gekehrt werden. Hier sei nur ein zentraler Unterschied hervorgehoben: Die Wissenschaftsforschung ist am besten als multidisziplinär zu begreifen. Sie stützt sich damit sowohl in ihren Theorien wie Methoden auf die „Mutterdisziplinen“ der Soziologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaften sowie weiterer Kulturwissenschaften. Die STS dagegen können als konsequenter interdisziplinär begriffen werden und haben ihr eigenes konzeptionelles Fundament ausgebildet. Der Nachteil der damit gewonnen Freiheit ist, dass gelegentlich das Rad neu erfunden wird, etwa weil im Rahmen der STS neue Gesellschaftstheorien und neue Epistemologien erzeugt werden, deren innovative Aura darüber hinwegtäuscht, dass und wenn ja welche alternativen Theorien und Konzepte im Rahmen der klassischen Disziplinen bereits formuliert und teilweise über Jahrzehnte weiterentwickelt wurden.3
Innerhalb der stark mit ihrer jeweiligen Mutterdisziplin verbundenen Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssoziologie können weitere Differenzierungen vorgenommen werden. So ist die Wissenschaft nicht nur Gegenstand der theoretischen, sondern auch der praktischen Philosophie, die ihrerseits wissenschaftsethische Probleme erörtert und nach der Verantwortung von Wissenschaftler✶innen für die Folgen ihrer Forschung fragt (Forge 2008). Ebenso bestehen naheliegende Verknüpfungen – aber auch Spannungen – zwischen historischen Teildisziplinen, etwa...
Erscheint lt. Verlag | 6.6.2023 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Sozialwissenschaftliche Einführungen | Sozialwissenschaftliche Einführungen |
Zusatzinfo | 10 b/w ill., 4 b/w tbl. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie |
Schlagworte | Hochschulforschung • Research politics • science and society • Science and Technology Studies • Science Studies • University Studies • Wissenschaftsforschung • Wissenschaftspolitik • Wissenschaft und Gesellschaft |
ISBN-10 | 3-11-071388-8 / 3110713888 |
ISBN-13 | 978-3-11-071388-6 / 9783110713886 |
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