Bildung im digitalen Wandel -  Elke Hemminger

Bildung im digitalen Wandel (eBook)

Soziologische Perspektiven
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
112 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-039562-6 (ISBN)
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Schulen und Hochschulen sind herausgefordert, auf eine zunehmend digitalisierte Arbeitswelt vorzubereiten. Im Fokus stehen dabei folgende Fragen: Wie lassen sich die digitalisierten Alltags- und Arbeitsprozesse von Lehrenden und Lernenden selbstbestimmt gestalten? Wie beeinflussen Digitalisierung und Digitalität Gesellschaft, Bildung und Kommunikation? Wie müssen sich Schulen und Hochschulen in einer Kultur der Digitalität entwickeln? Diese Fragen beantwortet das vorliegende Buch soziologisch und pädagogisch. Neben der begrifflichen Differenzierung führt es dabei die sozio-kulturelle und technische Perspektive auf die digitale Transformation zusammen. Auf Grundlage von empirischen Daten werden das Verhältnis von Bildung und Digitalität analysiert und die Ausbildung der Lehrenden in den Blick genommen. Abschließend entwickelt die Autorin ein Szenario zur Umgestaltung von Bildung, um so u.a. durch Investition und Innovation Schulen und Hochschulen eine chancengerechte und zukunftsfähige Perspektive zu eröffnen.

Prof. Dr. Elke Hemminger lehrt Soziologie im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (Standort Bochum).

Prof. Dr. Elke Hemminger lehrt Soziologie im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie an der Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe (Standort Bochum).

2 Mensch, Technik und Gesellschaft


»Der Mensch hat (...) als einziges Lebewesen Geschichte. Anders als die übrige Kreatur ist er fast unbegrenzt auf Formung angelegt. Ist diese gewollt, nennt man sie Bildung.«
Hartmut von Hentig (2004, S. 14)

Warum soll sich ein Buch über Bildung und Digitalisierung überhaupt mit Technik im Allgemeinen befassen? Natürlich hängt Digitalisierung mit Technik zusammen, das ist schon irgendwie naheliegend. Aber wo genau liegt der Zusammenhang und warum sollte dies systematisch in die Gestaltung des Bildungssystems einfließen? Diese Fragen formulieren schon eines der Kernprobleme, vor die uns die Digitalisierung im Kontext von Bildung stellt: Der Zusammenhang zwischen Digitalisierung als gesellschaftsprägendem Phänomen und der komplexen Technik, die sich schnell und scheinbar unkontrollierbar entwickelt, macht erst die Herausforderungen aus, vor die sich das Bildungssystem und damit auch die gesamte Gesellschaft gestellt sieht. Der Mensch als Lebewesen mit Geschichte, als Lebewesen, das auf Formung angewiesen ist, muss sich aktiv mit diesem Besonderen am Menschsein auseinandersetzen. Da gibt es keine einfachen Antworten und kein simples Rezeptwissen. Bildung in der von Digitalität geprägten Gesellschaft: Das ist ein »wicked problem«.

Der Begriff des »wicked problem« stammt aus dem Bereich der Sozialpolitik, wird inzwischen jedoch auch in Designkontexten, in der Ökonomie und in anderen Disziplinen verwendet, um Problemstellungen zu beschreiben, die besonders schwierig zu bearbeiten sind (Head 2008). »Wicked« (engl. für bösartig, schlecht) bezieht sich dabei auf die Eigenschaft des Problems, sich einer Lösung gleichsam bösartig zu widersetzen, da beispielsweise zu viele unterschiedliche Akteur:innen mit entgegengesetzten Interessen dies unmöglich machen oder das Problem selbst nicht ausreichend klar umrissen ist, um gelöst zu werden. Wicked problems sind einzigartig, sodass es keine Möglichkeit gibt, auf Präzedenzfälle zurückzugreifen; mögliche Lösungsansätze sind in der Regel nicht richtig oder falsch, sondern lediglich besser oder schlechter, lösen das Problem aber nicht abschließend (Churchman 1967). Klassische Beispiele für wicked problems sind die Klimakrise (die inzwischen eher als super wicked problem mit dem zusätzlichen Faktor der Zeitknappheit zu bezeichnen wäre) oder soziale Ungleichheit. Die Digitalisierung und insbesondere die Kultur der Digitalität (▸ Kap. 4) im Kontext von Bildung lässt sich jedoch ebenso als wicked problem verstehen. Ein solches Verständnis hat den Vorteil, dass es einfache Lösungsversuche, wie die schlichte Bereitstellung von Finanzmitteln für technische Geräte, kritisch einzuordnen versteht und angesichts der Komplexität der Problemstellung auch komplexere Lösungsversuche erarbeiten kann. Ebenso werden die konträren Interessenlagen verschiedener Akteur:innen und gesellschaftlicher Gruppen in die Analyse mit einbezogen. Dies ändert freilich nichts daran, dass das Problem »wicked« bleibt – es widersetzt sich einer vollständigen Lösung und wir werden damit leben müssen, dass die Digitalisierung uns technisch in der Bildung immer wieder einen Schritt voraus sein wird, ebenso wie uns die Kultur der Digitalität vor gesellschaftliche Herausforderungen stellen wird. Wir werden immer wieder erneut Ideen entwickeln müssen, um damit kreativ und sinnvoll umzugehen.

So viel bleibt also zunächst als gesellschaftliche Tatsache festzuhalten: Bildung kommt an Technik nicht vorbei. Gleichwohl ließe sich über Jahrzehnte der Eindruck gewinnen, als bestünde in weiten Teilen der Bildungslandschaft wenig Interesse daran, sich mit Technik auseinandersetzen, sei es auf inhaltlicher Ebene oder eher instrumentell. Spätestens seit der Corona-Pandemie war dies nicht mehr länger zu vermeiden (zumindest was die instrumentelle Ebene angeht), mit äußerst unterschiedlichen Ergebnissen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass es sich nicht um strukturiert und gezielt eingeführte – und damit didaktisch ausreichend vorbereitete – Maßnahmen handelte, sondern um einen digitalen Notbetrieb. In diesem Ausmaß wäre ein derartiger Notbetrieb natürlich nicht notwendig gewesen, wenn das Bildungssystem, gemeint sind hier vornehmlich die Schulen, aber auch die Hochschulen und in sehr viel geringerem Ausmaß auch frühkindliche Bildungseinrichtungen, die Digitalisierung in prä-pandemischen Zeiten nicht nahezu vollständig ausgeklammert hätten. Das gilt insbesondere für die Ausbildung von Lehrer:innen und das Hochschulbildungssystem, das den digitalen Raum in seinem Potential kaum genutzt hatte. So hing das Gelingen des digitalen Notbetriebs in Schulen und Hochschulen, insbesondere während der akuten Phasen der Pandemie, weitestgehend vom individuellen Engagement und Kompetenzniveau einzelner Bildungsakteur:innen ab, weniger von den strukturellen Gegebenheiten, auch wenn diese noch als zusätzliche Faktoren zu Gelingen oder Scheitern beitragen können. Dass dem so ist – und damit kommen wir zur ersten Kernthese dieses Buches –, liegt unter anderem daran, dass nicht nur Digitalisierung und Digitalität, sondern innovative Technik insgesamt in unserem Bildungssystem nicht als gesamtgesellschaftliche Herausforderung zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft verstanden werden, die es bildungspolitisch mitzugestalten gilt, sondern als rein naturwissenschaftlich-technisches Themenfeld, das, wenn überhaupt, in den Curricula der entsprechenden MINT-Disziplinen zu behandeln ist. Dabei handelt es sich jedoch um eine dramatische Fehleinschätzung, die in unserem Bildungssystem tief verwurzelt ist und Fächerstrukturen, Bildungspläne, aber auch akademische Lebensläufe nachhaltig prägt. Um die tatsächliche Dringlichkeit eines Umdenkens zu verdeutlichen, wird im Folgenden zunächst ganz Grundsätzliches zu den komplexen Zusammenhängen von Technik und Gesellschaft beschrieben. Anhand einiger Beispiele soll erklärt werden, dass sich Technik nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern der gesellschaftliche Kontext immer eine mehr oder minder wichtige Rolle spielt. Überlegungen dazu, in welche Richtung ein solches Umdenken sinnvollerweise in der Praxis des Lehrens und Lernens führen sollte, werden in Kapitel 5 ausgeführt. Vorab bilden die Kapitel mit den Fragen nach dem grundsätzlichem Bildungsverständnis (▸ Kap. 3) und dem Zusammenhang von Digitalisierung, Digitalität und digitaler Transformation (▸ Kap. 4) die Basis, auf der dieser Teil des Buches aufbaut.

2.1 Technik als Begriff


Technik ist uns als Begriff aus dem Alltag zur Genüge bekannt. Selten jedoch wird er reflektiert gebraucht und in Bezug gebracht zu den Wechselwirkungen zwischen Technik und gesellschaftlichen Teilsystemen wie Wissenschaft oder Rechtssystem oder auch zu Metaprozessen gesellschaftlichen Wandels (Rammert 2016).

Was also versteht man in der Soziologie unter Technik? Der etymologische Ursprung des Wortes stammt vom griechischen Begriff ›tekhnē‹, der unter anderem ›Fähigkeit‹, aber auch ›Kunstfertigkeit‹ und ›Handwerk‹ bedeutet. Im heutigen Verständnis liegt die Betonung deutlich auf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Wissens in Form von Geräten, Maschinen und Produkten. Diese Anwendungen sind in unseren Alltag selbstverständlich eingebettet und daher von uns an vielen Stellen kaum mehr wahrnehmbar. Sie bedingen und ermöglichen soziale Interaktionen, prägen gesellschaftliche Teilbereiche und beeinflussen soziale Prozesse (ibid., S. 5 ff.). In der gegenwärtigen Gesellschaft ist weder das Tätigen alltäglicher Einkäufe noch die familiäre Kommunikation, weder das Funktionieren von Transportmitteln noch von industrieller Produktion jenseits von technologischen Strukturen, Maschinen und Netzwerken denkbar. Somit stellen Technologien »(...) fundierende Elemente sozialer Handlungen und sozialer Systeme dar« (ibid., S. 8). Sichtbar und erfahrbar wird dies für die Handelnden meist nur dann, wenn Technik nicht wie erwartet funktioniert; wenn der Akku des Smartphones plötzlich den Dienst versagt oder die Wetterlage zum Zusammenbruch der Stromversorgung führt. Solche Brüche in den Alltagsroutinen unserer Gesellschaft stören nicht nur die Abläufe, sondern können tatsächlich die soziale Ordnung in Frage stellen, beispielsweise wenn wirtschaftliche Prozesse massiv gestört werden (ibid., S. 8).

Technik war historisch schon immer eng verquickt mit der gesamten Menschheitsgeschichte. Tatsächlich lässt sich die These aufstellen, Technik sei so alt wie die Menschheit selbst, denn erst mit der Entstehung von Werkzeugen beginnt die Menschheit, sich zu dem zu entwickeln, was sie als Spezies ausmacht, einer Spezies, die sich selbst als außerhalb der restlichen Fauna sieht, mit neuen Möglichkeiten, sich die Natur zu eigen zu machen. Tatsächlich wird in paläontologischem Zusammenhang von menschlichen Funden nur dann gesprochen, wenn Werkzeuge oder Gerätschaften gefunden werden (Parzinger 2016; von Schnurbein 2009). Doch die gegenwärtige Konstellation von rasanten technischen...

Erscheint lt. Verlag 12.4.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Digitalisierung • Frühe Bildung • Gesellschaft • Hochschule • Schule • Technik
ISBN-10 3-17-039562-9 / 3170395629
ISBN-13 978-3-17-039562-6 / 9783170395626
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