Pick me Girls (eBook)
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31128-0 (ISBN)
Sophie Passmann, 1994 geboren, ist Autorin, Satirikerin und Moderatorin. Ihr Buch »Alte weiße Männer« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, »Komplett Gänsehaut« stieg sofort auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Auf ZDFneo ist sie mit Tommi Schmitt in der Talkshow »Neo Ragazzi« zu sehen. Zusammen mit Joko Winterscheidt moderiert sie den Podcast »Sunset Club«. Mit der exklusiven Bühnenfassung von »Pick Me Girls« feiert sie ihr Theaterdebüt am Berliner Ensemble.
- Spiegel Jahres-Bestseller: Sachbuch / Hardcover 2023 — Platz 16
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 46/2023) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 45/2023) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 44/2023) — Platz 10
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 43/2023) — Platz 9
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 42/2023) — Platz 3
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 41/2023) — Platz 5
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 40/2023) — Platz 2
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 39/2023) — Platz 1
- Spiegel Bestseller: Sachbuch / Hardcover (Nr. 38/2023) — Platz 1
Sophie Passmann, 1994 geboren, ist Autorin, Satirikerin und Moderatorin. Ihr Buch »Alte weiße Männer« stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, »Komplett Gänsehaut« stieg sofort auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Auf ZDFneo ist sie mit Tommi Schmitt in der Talkshow »Neo Ragazzi« zu sehen. Zusammen mit Joko Winterscheidt moderiert sie den Podcast »Sunset Club«. Mit der exklusiven Bühnenfassung von »Pick Me Girls« feiert sie ihr Theaterdebüt am Berliner Ensemble.
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Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, wann ich mich zum ersten Mal in meinem Leben geschämt habe, fühlt sich meine Erinnerung unzuverlässig und schwammig an. Ich fürchte deswegen, dass ich mich schon schäme, seit ich auf der Welt bin. Vermutlich ist das nicht so, vermutlich lag ich nicht als Baby im Kreißsaal und habe verschämt zur Seite geguckt, als die Krankenschwester mich säubern wollte (»Omg, Entschuldigung wegen der ganzen Körperflüssigkeiten überall, das ist so typisch ICH!«), aber ich ahne, dass die Sache sehr früh anfing.
Manchmal habe ich das Gefühl, meine Jugend bestand zu großen Teilen aus dem Versuch, mir mit einer Küchenschere und einem Handspiegel genau die Frisur zu schneiden, die das Mädchen hatte, das ich im Internet in diesem Moment am coolsten fand. Mit 13 Jahren hatte ich eine ungesunde Obsession mit dem Blogging-Dienst tumblr, der wie eine Mischung aus Forum und sozialem Netzwerk funktionierte und eine wundersame Parallelwelt erzeugte, in der junge Menschen, die besonders ästhetische Fotos von sich und ihrem Leben posteten, innerhalb der tumblr-Welt berühmt waren, ohne darüber hinaus in der echten Welt in irgendeiner Weise Geld oder Ruhm damit zu verdienen. Über ihr Privatleben schrieben sie nur kryptisch, ihre Freunde und Familie wurden nur beim Anfangsbuchstaben genannt, alles war getaucht in eine selbstdarstellerische Halbseidenheit. Die Frauen, die auf tumblr zu Stars wurden, wirkten geheimnisvoll, vage, überemotional und blutarm. Sie hatten viele Haare, die einen großen Teil ihres Gesichts verdeckten, sie schienen ständig zu frösteln und im Herbst trugen sie rostfarbenen Cord. Sie fotografierten sich mit Selbstauslöser an Wänden stehend, irritiert in die Ferne oder auf den Boden guckend. Das war die Zeit, in der man sich gegenseitig diese offensichtliche Lüge noch abnahm, dass da gerade nicht mit viel Aufwand eine Illusion hergestellt wurde. Es war die Zeit, in der man gemeinsam höflich die für alle wahrnehmbare Tatsache ignorierte, dass es eigentlich einen performativen Widerspruch darstellt, ein Stativ in die Natur zu schleppen, vier verschiedene Outfits in Jutebeuteln über der Schulter, die Digitalkamera perfekt positioniert, um im Moment, in dem der Selbstauslöser dann endlich klickte, schüchtern auf den Boden zu schauen, weil man ja gar nicht gerne fotografiert wird. Tumblr war ein Ort, an dem die Frage danach, was vielleicht peinlich sein könnte, nicht gestellt wurde. Es war der vielleicht erste bekannte Ort im Internet, der vor allem von Frauen und queeren Menschen genutzt wurde. Es war – das war zumindest die Behauptung, die im Raum stand, sodass man bereit war, über Jahre das eigenen Privatleben auf die Plattform zu blasen – ein safe space. Tatsächlich war tumblr ein im weitesten Sinne mobbingfreier, wenn auch aus heutiger Sicht prätentiöser und etwas peinlicher Ort. Vielleicht war es sogar ein gefährlicher Ort.
Das Mädchen, das ich mit 13 Jahren bewunderte, hatte eine schier unendliche Menge an Haaren auf dem Kopf, dunkelrot gefärbt, sie standen auf diese perfekte Weise ab, die man bei besonders coolen Hexen in Harry-Potter-Filmen erwartete. Ihr ganzer Blog bestand eigentlich nur aus ihren Haaren. Sie erzählte zwischendurch immer wieder etwas darüber, dass sie selbst im Sommer fror (cool und geheimnisvoll!) oder wie sehr es sie nervte, dass ihre Eltern mit ihr an ihrem Geburtstag Pizza essen gehen wollten (langweilig!), aber im Grunde besuchten ich und wahrscheinlich Zehntausende andere ihre Seite jeden Tag, weil wir nicht genug bekommen konnten von ihren Haaren. Ich wollte Haare haben wie sie. (Es ist ein Reflex, den ich bis heute nicht loswerde: wenn ich eine andere Frau sehe, die ich besonders faszinierend finde, picke ich mir eine Handvoll Eigenschaften, Kleidungsstücke oder andere Kleinigkeiten raus, die ich sofort versuche zu kopieren. Es gab schon Abende in Bars, die für mich damit endeten, dass ich alleine rauchend vorm Laden stand und versuchte, über die Zalando-App schnell ein ähnliches enges schwarzes Top zu finden wie die wunderschöne und allem Anschein nach schlimm coole Frau, die ich den ganzen Abend fasziniert angestarrt hatte.) Es war auch eine Zeit im Internet, in der creators so harmlos unterfinanziert waren, dass man nicht in diese heute übliche Misstrauensspirale geriet, wenn jemand mit 400.000 Followern auf Instagram erzählt, dass das Geheimnis ihrer guten Haut viel Wasser und ausreichend Schlaf sei. Es war die Zeit, in der die Influencerinnen nicht einen Cent mit ihrem Ruhm verdienten und keine Produkte bewarben, weswegen man sich mit einer Obsession, die sich fast antikapitalistisch anfühlte, in ihre Wesen und ihre Beauty-Routinen reinwühlen konnte. Diese Frau mit den Haaren und dem Blog jedenfalls erzählte dem Internet, das Geheimnis ihrer Haare seien die layers, was ich damals hektisch mithilfe von Google als Stufen übersetzte. In jugendlicher Selbstüberschätzung fasste ich unmittelbar den Entschluss, dass ich diese layers alleine, ohne Erfahrung oder professionelles Werkzeug, im Bad meiner Eltern nachschneiden können würde. Meine Haare sahen im Anschluss natürlich nicht aus wie die der coolen Frau im coolen Internet, sondern wie die einer Dreizehnjährigen, die in den vergangenen Wochen keine Spülung mehr benutzt und auf das Kämmen verzichtet hatte, sich anschließend mit graden Schnitten ganze Büschel aus dem Haupthaar geschnitten und das Ganze zum Schluss mit dem Haargel ihres großen Bruders, na ja, frisiert hatte. Ich trug eine Zeit lang Pferdeschwanz, meine Faszination für diese Frau wuchs aber durch das Scheitern des Nachahmens nur noch mehr. Ich war über Monate in ihre Welt eingetaucht, ich lernte die Initialen ihres besten Freundes und ihres Vaters, den sie eben nicht Papa oder Dad nannte, sondern beim Vornamen. Ich wusste irgendwann, was sie studieren wollte und wann ihre erste Beziehung endete, ich kannte ihre Lieblingsband und wieso sie den Film Juno auswendig mitsprechen konnte. Es dauerte noch ein paar Monate, bis ich realisierte, dass diese Frau gar nicht unbedingt viele Haare hatte, sondern in erster Linie viele Haare im Verhältnis zu wenig Körper. Vielleicht ist man mit 13 Jahren besonders anfällig für potenziell Gefährliches, weil man sich schon fühlen will wie ein Erwachsener, aber noch denkt wie ein Kind. Man begibt sich also mit einer unreifen Naivität aus Versehen in die dunkelsten Ecken des Internets, um dort dann so zu tun, als würde man alles verstehen, während man natürlich gar nichts versteht. Ich jedenfalls begriff lange nicht, dass dieses arme Mädchen ganz offensichtlich magersüchtig war. Ihr Unmut und Ekel über die geplante Pizza-Party ihrer Eltern hatte nichts mit der Peinlichkeit von Eltern und Partys und Pubertät im Allgemeinen zu tun, sondern mit der Angst vor den Kalorien. Der ständige Hinweis darauf, dass sie fror, selbst im Sommer, war kein Stoffwechsel-Spleen ihres Körpers, sondern ein mit Anstrengung gepflegter und ausgestellter Trick, ein Beweis für ihre Dürrheit, genau wie die Tatsache, dass sie es schaffte, ihren Körper so schrumpfen zu lassen, dass ihre leicht lockigen Haare aussahen wie eine unendliche Menge an Haupthaar, unter dem sie zu verschwinden drohte. Überhaupt handelte ihr ganzer Blog vom Verschwinden. Ich war 13 Jahre alt und ungeschützt in einen Raum geraten, in dem ich einer Frau dabei zuschauen konnte, wie sie dafür bewundert wurde, dass sie immer weniger wurde. Das zu verstehen war ein schleichender Prozess. Das Ganze bahnte sich an als Bauchgefühl, bis es sich nach Wochen zu der Erkenntnis verfestigte, dass diese coole Frau in Wahrheit krank war. Fast wie die Phasen, die man in einer Beziehung durchmacht, von dem ersten Moment, in dem man darüber nachdenkt, ob man überhaupt glücklich ist in dieser Beziehung, bis zum letzten Moment, Wochen oder Monate später, in dem man sich an den Gedanken, der einem zuerst noch unendlich viel Angst eingejagt hatte, längst gewöhnt hat. Gefühle eskalieren langsam. Vielleicht war ich also ein wenig erschrocken, als ich das erste Mal bewusst die Kommentare zu den Fotos dieser Frau mit den Haaren durchlas, als ich wahrnahm, wie die Blogs hießen, die ihre Outfitfotos reposteten, es waren Blogs mit obszönen Namen voller Selbsthass, die bereits im Titel des Accounts Beleidigungen gegen sich selbst und ihren Körper stehen hatten. Diese Namen und Beleidigungen erkannte ich schnell wieder, weil ich natürlich schon mein ganzes Leben in einem eher pummeligen Körper feststeckte, es waren Namen und Beleidigungen, die ich auf jedem Schulhof und in jedem Sportunterricht von mindestens einem Jungen gehört hatte, entweder halblaut, während sie an mir vorbeigingen, oder durch die ganze Sporthalle oder das ganze Klassenzimmer gebrüllt. Diese Blogs sprachen meine Sprache. Ich tauchte sehr langsam in diese Welt ein, die sich mir da auf tumblr auftat, manchmal denke ich im Nachhinein, dass es sogar eine feierliche Bedächtigkeit hatte, die ich mir selbst vorspielte, weil sie überhaupt nichts mit meinem normalen Reflex zu tun hatte, hektisch zu denken, hektisch zu sprechen und hektisch zu leben.
Mit Ende 20 hatte ich mehr als die Hälfte meines Lebens damit verbracht, zu denken, dass ich durch eine Aneinanderreihung von Dummheit, Hochmut und zu wenig Aufsicht als einzige Frau in Deutschland durch tumblr zu meiner Essstörung kam. Ich dachte, das sei ein irrelevantes, weil überhaupt nicht auf andere übertragbares Detail, ich dachte, ich war halt das Mädchen, das Pech hatte. Das ergab Sinn, immerhin...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alte weiße Männer • bodypositivity • Coming of Age • Coolness • Deutscher Feminismus • Erwachsenwerden • Feminimus • Feminismus 21. Jahrhundert • Feministische Literatur • Generation Y • Geschlechterkampf • Instagram • Internetphänomen • Joko Winterscheidt • Jugend • Jugend 90er Jahre • Kindheitstrauma • Lena Dunham • male gaze • Männerwelten • Memoir • #metoo • metoo • Millenials • Mobbing • Neo Ragazzi • Passmann • relatable • Selbsthilfebücher für Frauen • Shitstorm • Studio Orange • Sunset Club Podcast • That Girl • TikTok • Tommi Schmitt • Überwindung Selbstzweifel |
ISBN-10 | 3-462-31128-X / 346231128X |
ISBN-13 | 978-3-462-31128-0 / 9783462311280 |
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