Am Ende der gewohnten Ordnung (eBook)

Warum wir Macht neu denken müssen | Eine kritische Analyse deutscher und internationaler Macht-Politik
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46757-2 (ISBN)

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Am Ende der gewohnten Ordnung -  Sophie Pornschlegel
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Wer die Welt gestalten will, muss über Macht sprechen: Aufruf für ein neues Politikverständnis. Klima-Krise, Krieg, Rechtspopulismus - es ist anstrengend geworden, sich mit Politik zu beschäftigen. Die politischen Herausforderungen auf nationaler und internationaler Ebene sind so zahlreich, dass konstruktive Lösungen aus dem Blick geraten. Denn auf die Aggressionen Russlands und Chinas findet der Westen keine langfristigen Antworten, die Klima-Krise verschärft sich, und die alte internationale Ordnung insgesamt weist immer mehr Risse auf. Um Lösungen für die multiplen Krisen zu finden, so Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel, braucht es vor allen anderen Dingen eines: einneues Verständnis von Macht. Nur mit klarem Blick dafür, was Macht ist, was sie leistet, wer sie hat, und wann sie gefährlich wird, kann die Zukunft gestaltet werden. - Mut zur Gestaltung erfordert Macht - aber wieso tut Deutschland sich so schwer, über Macht zu sprechen? - Warum treten Rechtspopulisten auf als »starke Männer«, denen die Verteidiger*innen der liberalen Ordnung scheinbar machtlos ausgesetzt sind? - Wie können demokratisch legitimierte Staaten autokratischen Regimen machtvoll gegenübertreten, ohne sich selbst zu verleugnen?Um die Schwächen der derzeitigen Macht-Strukturen anzugehen, bedarf es eines radikalen Umdenkens, so Pornschlegel, die als politische Analystin in Brüssel seit Jahren eine gefragte Expertin zum Thema internationale Ordnungen und Macht-Politik ist. Sie analysiert, wie wir in Deutschland, Europa und global zu einem demokratischeren Macht-Verständnis gelangen, das Handlungsoptionen offenhält. Denn nur mit einem neuen Blick auf politische und gesellschaftliche Macht können wir die Probleme der nächsten Jahrzehnte lösen. Und ein demokratisches Gemeinwesen verteidigen, das Menschlichkeit und Respekt in den Mittelpunkt rückt.

Sophie Pornschlegel arbeitet als politische Analystin in Brüssel. Sie ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum in Berlin, lehrt an der Sciences Po Paris und forscht zu Europapolitik und der Zukunft der Demokratie. Ihre publizistischen Beiträge erscheinen bei Deutschlandfunk Kultur, ZEIT Online, FAS und im Tagesspiegel.

Sophie Pornschlegel arbeitet als politische Analystin in Brüssel. Sie ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum in Berlin, lehrt an der Sciences Po Paris und forscht zu Europapolitik und der Zukunft der Demokratie. Ihre publizistischen Beiträge erscheinen bei Deutschlandfunk Kultur, ZEIT Online, FAS und im Tagesspiegel.

Das Zeitalter des Hyperliberalismus


Im Jahr 1968 fand die Studentenbewegung, die sich in Deutschland gegen die starren Gesellschaftsstrukturen richtete, die mangelnde Aufarbeitung der Nazi-Zeit kritisierte und sich für die (sexuelle) Emanzipation einsetzte, ihren Höhepunkt. In den USA wurde gegen den Vietnam-Krieg protestiert, in Frankreich war die Arbeiterbewegung an den Protesten beteiligt. Im selben Jahr erschien Frank Zappas Album We’re only in it for the money, und der Titel sollte sich geradezu als prophetisch erweisen. Die 68er-Bewegung wurde von linken Kräften angetrieben, doch wie Zappa bereits erkannt hatte, sollte diese Bewegung vom Kapitalismus ausgehöhlt werden. Für ihn markierte 1968 den Anfang der Vereinnahmung von politischen Identitäten für ökonomische Zwecke. Ganz falsch lag er damit nicht: 55 Jahre später sind die Verteilungskämpfe durch Identitätspolitik ersetzt worden. Bereits im Jahr 2000 fand die Denkerin bell hooks klare Worte für diesen Wertewandel: »Heutzutage ist es angesagt, über Ethnien oder Gender zu sprechen; das Thema Klasse gilt als uncool.«112

Die neoliberale Identitätspolitik ließ sich vom französischen Postmodernismus und Poststrukturalismus inspirieren, auch wenn es sicherlich nicht die Absicht von Denkern wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard oder Gilles Deleuze gewesen wäre, dieser Ideologie als Steigbügelhalter zu dienen. Foucaults Kritik der herrschenden Normen und Werte und seine Dekonstruktion von staatlichen Unterdrückungssystemen hatte nicht zum Ziel, kollektive Solidarität auszuhöhlen. Vielmehr ging es ihm darum, den Status quo zu hinterfragen, die Macht des Staates auf den Prüfstand zu stellen und die Mechanismen der staatlichen Disziplinierung besser zu verstehen. Spätestens ab den 1980er-Jahren wurden liberale Ideen von wirtschaftlichen Zweckgedanken vereinnahmt. Der (Neo-)Liberalismus galt als gesetztes Paradigma. Sogar progressive Kräfte ließen ihre sozialistischen Ideen links (oder besser gesagt rechts) liegen und widmeten sich dem Liberalismus. Der ehemalige britische Premierminister Tony Blair, der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, aber auch der ehemalige französische Präsident François Mitterand stellten das liberale Paradigma kaum in Frage. Der Liberalismus wurde zur herrschenden Ideologie, die von keinen ernstzunehmenden Kräften angezweifelt wurde. Der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt die Situation wie folgt: »In der Zeit seiner Dominanz umfasst ein Paradigma typischerweise nahezu das gesamte politische Spektrum von Mitte-links bis Mitte-rechts. Anders gesagt: Es existieren sowohl linke als auch rechte Versionen des jeweiligen Paradigmas.«113

Der Sieg des Liberalismus führte dazu, dass Verteilungskämpfe nicht mehr als relevant galten. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien verliefen nicht mehr zwischen Reichen und Armen, sondern zwischen Einheimischen und Ausländer*innen. Besonders eindrücklich stellte der französische Autor Didier Eribon mit seinem Buch Rückkehr nach Reims den Wertewandel in der französischen Arbeiterklasse dar: Seine Eltern, die in einer Fabrik in einer armen Region im Norden Frankreichs arbeiteten und seit jeher kommunistisch wählten, schlossen sich auf einmal den Rechtsextremen an. Er beschreibt, wie bei den Arbeiter*innen plötzlich nicht mehr die Unternehmenschefs die Erzfeinde waren, sondern die Migrant*innen, die ihnen die Arbeitsplätze wegnahmen. Der Verteilungskampf wurde so zu einem Kultur- und Identitätskampf. Ähnlich beschrieb der US-amerikanische Autor J. D. Vance in seinem Werk Hillbilly-Elegie die soziale Realität des desindustrialisierten Rust Belt in den USA.114 In Großbritannien war es der Publizist David Goodhart, der den neuen Klassenkampf zwischen »anywheres« und »somewheres« beschrieb, also zwischen den Gewinner*innen der Globalisierung, den Kosmopolit*innen, und den Verlierer*innen, den Hinterbliebenen. In Deutschland zeigte eine Reihe von Studien auf, wie der Rechtspopulismus von Einkommensunterschieden und mangelnder Chancengleichheit profitiert.115 Eines steht fest: Der wirtschaftliche Liberalismus hat nicht wie erhofft zu einer »Win-win-Situation« geführt, in der alle vom Wohlstand profitieren. Stattdessen hat er zu einer wachsenden Einkommensschere und zu einem wachsenden Frust ärmerer Klassen beigetragen; und die Gesellschaft polarisiert. bell hooks beschrieb die Entwicklung des Liberalismus wie folgt: »Die weit verbreitete Sorge um Gerechtigkeit und soziale Sicherheit wurde umgehend durch konservative Vorstellungen von individueller Verantwortlichkeit und einen egozentrischen Materialismus ersetzt.«116

Die Nachteile dieses Hyperliberalismus bedeuten nicht, dass der Liberalismus keine Vorteile hatte. Es steht außer Frage, dass er für Fortschritte gesorgt hat. Frauen stehen nicht mehr zwangsläufig hinter dem Herd, queere Personen können (zumindest in liberaleren Ländern) freier leben als früher, und die Rechte von Minderheiten sind allgemein etwas besser geschützt als in autoritär ausgerichteten Gesellschaften. Trotzdem hat der Liberalismus in letzter Zeit vor allem jene Werte, auf die Demokratien bauen, erodieren lassen: Solidarität, Privatsphäre, Gleichberechtigung.

Die digitale Transformation hat die Transformation dieser gesellschaftlichen Werte weiter beschleunigt – und die Individualisierung vorangetrieben. »Technologie ist kein neutrales Instrument, sondern inhärent politisch und wertebasiert«, schreibt der Philosoph Alexis Papazoglou.117 Es sind die Tech-Unternehmen, die zunehmend über ethische Fragen entscheiden, die uns alle betreffen, und nicht mehr die Politik. Phänomene wie Gesichtserkennung und künstliche Intelligenz werfen moralische Fragen auf: Haben Tech-Unternehmen das Recht, unsere Gesichter für polizeiliche Zwecke zu speichern? Wie rassistisch und sexistisch werden die Algorithmen sein, die in Zukunft womöglich unser Leben bestimmen? Wie werden Bildung und Lehre aussehen, wenn ChatGPT die meisten intellektuellen Aufgaben für uns übernimmt?

Allein das Internet hat unser Verständnis von Solidarität bereits grundlegend verändert. Gemeinsamkeiten sind inzwischen oft nur noch mit Identifikation und Selbstdarstellung möglich. Die US-amerikanische Autorin Jia Tolentino schreibt zur #MeToo-Bewegung: »Das Internet bringt das ›Ich‹ überall mit hinein. Das Internet lässt es so aussehen, als könne Unterstützung nur entstehen, wenn zwei Personen genau die gleiche Erfahrung teilen. Solidarität wird so zu einer Frage der gemeinsamen Identität statt der politischen oder moralischen Auseinandersetzung.«118 Gleichzeitig ist ein völlig abstruses Verständnis von Solidarität bei bestimmten Gruppen entstanden, die sich gerne als Opfer darstellen, sobald sie sich attackiert fühlen. So beispielsweise bei den sogenannten »Männerrechts-Aktivisten«, die sich von Feminist*innen und Migrant*innen bedroht fühlen, obwohl es relativ offensichtlich ist, dass weiße Männer weiterhin in Wirtschaft und Politik dominieren. In den USA sind 91 % aller CEOs der Fortune-500-Unternehmen weiße Männer. Diese Bevölkerungsgruppe macht 90 % der gewählten US-amerikanischen Politiker*innen aus. Die große Mehrheit aller Entscheidungsträger*innen in der Musikbranche, in den Medien, in der Filmindustrie und im Sport sind nach wie vor weiße Männer.119 Zu behaupten, dass Frauen oder Personen mit Migrationshintergrund inzwischen gleichberechtigt seien, ist widersinnig. Doch es geht hier nicht um Fakten, sondern um die gekränkten Gefühle von Menschen, die Angst davor haben, ihre Privilegien zu verlieren, was zu einer absurden Form der Solidarität führt.

Ähnlich verhält es sich mit unserem Verständnis von Privatsphäre, das sich mit der Digitalisierung stark verändert hat. Bereits im Jahr 2010 erklärte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, dass Privatsphäre keine soziale Norm mehr sei.120 Ähnlich äußerte sich der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt: »Wenn du etwas tust, von dem du nicht willst, dass andere es mitbekommen, dann solltest du es vielleicht gar nicht erst tun.«121 Damit wurde der Weg für eine Überwachungskultur frei, die in den letzten Jahren zunehmend autoritäre Züge angenommen hat. Persönliche Daten werden schon längst für ökonomische Zwecke genutzt. Welches Risiko der Überwachungskapitalismus auch für die individuelle Freiheit darstellt, ist allerdings erst vor einigen Jahren deutlich geworden. So gibt es in China das Sozialkredit-System, das das Verhalten der Bürger*innen überwacht und sicherstellt, dass sie sich an die vorgegebenen Regeln halten. Wenn sie es nicht tun, werden sie bestraft – sie dürfen nicht mehr ins Ausland fliegen, können nicht studieren, dürfen nicht mehr mit dem Zug fahren. Doch nicht nur in autoritären Systemen werden Daten für staatliche Überwachung genutzt. So wurde in Polen 2022 ein nationales Schwangerschaftsregister eingeführt. Ärzt*innen werden dazu aufgefordert, Schwangerschaften in dieses Register einzutragen, Abtreibungen werden so überwacht und ggf. strafrechtlich verfolgt. Eine solche Intrusion des Staates in die körperliche Unversehrtheit von Frauen in Form der...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Angst • Annalena Baerbock • Bundesregierung • Christian Lindner • Dauerkrise • Demokratie • Demokratie Buch • Deutschland • Donald Trump • Extremismus • Freiheit • Generationen • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gesellschaftskritische Bücher • Inflation • Internationale Beziehungen • Internationale Ordnung • Kapitalismus • Klimawandel • Krieg • Krise • Krisen bewältigen • Machtübernahme • Olaf Scholz • Pandemie • Politik • Politik Buch • Politik Deutschland • Politik und Gesellschaft • Politikverständnis • Politik verstehen • politische Bücher • politische Führung • Politische Macht • Politische Systeme • polititsche führer • resiliente Gesellschaft • Robert Habeck • sachbuch politik • Sachbuch Politik Gesellschaft Wirtschaft • Umbruch • Umgang mit Veränderung • Veränderung • Wahlen • Was ist Macht • Weltpolitik • Wirtschaft • Xi Jinping • Zukunft • Zukunftsangst
ISBN-10 3-426-46757-7 / 3426467577
ISBN-13 978-3-426-46757-2 / 9783426467572
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