Vom Glück des Zuhörens (eBook)
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44638-6 (ISBN)
Lisa Federle, 1961 in Tübingen geboren, arbeitet dort seit 2001 als Notfallmedizinerin und seit 2004 als leitende Notärztin. 2015 entwickelte sie eine 'rollende Arztpraxis' zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen. Während der Corona-Pandemie wurde die rollende Arztpraxis zur mobilen Teststelle. Damit leistete Lisa Federle den entscheidenden Beitrag zum Tübinger Modell. 2020 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 2021 gründete sie mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes die Initiative #BewegtEuch, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen sportliche Aktivitäten zu ermöglichen.
Lisa Federle, 1961 in Tübingen geboren, arbeitet dort seit 2001 als Notfallmedizinerin und seit 2004 als leitende Notärztin. 2015 entwickelte sie eine "rollende Arztpraxis" zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen. Während der Corona-Pandemie wurde die rollende Arztpraxis zur mobilen Teststelle. Damit leistete Lisa Federle den entscheidenden Beitrag zum Tübinger Modell. 2020 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 2021 gründete sie mit Jan Josef Liefers und Michael Antwerpes die Initiative #BewegtEuch, um benachteiligten Kindern und Jugendlichen sportliche Aktivitäten zu ermöglichen. Isabelle Müller, 1964 in Tours (Frankreich) als jüngstes von fünf Kindern einer Vietnamesin und eines Franzosen geboren, arbeitet als Autorin, Dolmetscherin und Übersetzerin. Ihre Biografien Phönix Tochter - Die Hoffnung war mein Weg und Loan - Aus dem Leben eines Phönix schlugen Wellen. 2016 gründete die Autorin die gemeinnützige LOAN Stiftung, die Bildungsprojekte zugunsten Kinder ethnischer Minderheiten Vietnams realisiert.
Alltag
Wenn etwas ist, melden Sie sich sofort bei mir. Über das Handy können Sie mich jederzeit erreichen«, sagte ich. »Ansonsten machen Sie bitte einen Termin an der Rezeption für nächste Woche zur Urinkontrolle.«
Die junge Frau nickte dankbar und steckte das Rezept in ihren Rucksack. Sie gehörte zu den Patientinnen, mit denen ich nicht zu sehr in die Tiefe gehen musste, um sie erfolgreich behandeln zu können. Sie hatte eine leichte Blasenentzündung, die sie sich auf einer Party von einer Studentenverbindung geholt hatte. Ich dachte, zum Glück bin ich aus dem Alter raus, um aus Eitelkeit frieren zu müssen und mir eine Blasenentzündung zuzuziehen. Ich ging davon aus, dass sie es sich draußen geholt hatte. Solche Infekte kann man sich ja durchaus auch beim zwischenmenschlichen Näherkommen einfangen. Es war also nichts Besorgniserregendes.
Wir verabschiedeten uns. Die Uhr an meinem Handgelenk zeigte halb neun. Die Praxis war normal besetzt. Ich war einigermaßen entspannt. Kein Notarztdienst mehr, kein Wettlauf gegen die Zeit, in der jede Sekunde zählt und über Leben und Tod entscheidet. Bei meiner Tätigkeit weiß man allerdings nie so recht, was der Tag noch mit sich bringen wird. Das ist auch der Grund, warum ich, wenn ich Sprechstunde habe, mich, so gut es geht, in Gelassenheit übe und die Dinge einfach auf mich zukommen lasse. Dem Anschein nach konnte ich mir nun richtig Zeit für meine Patienten nehmen.
Die nächste Patientin war Judith. Sie kam zur Tetanus-Auffrischungsimpfung, und ich freute mich richtig auf sie. Obwohl wir befreundet waren, hatte ich sie einige Zeit nicht gesehen. Es kam immer wieder vor, dass ich mehrere Wochen gar keine Zeit für meine Freunde hatte, weil ich mehr oder weniger rund um die Uhr als Ärztin und mit meinen Ehrenämtern beschäftigt war und auch noch meine Familie hatte. Trotzdem versuchte ich immer für meine Freunde da zu sein.
Judith betrat das Zimmer, hübsch und elegant hergerichtet wie immer, eine schwarze Markenhandtasche hielt sie fest in der rechten Hand. Über ihr durchaus markantes Gesicht huschte ein Lächeln, als sie mich sah, aber ich erkannte sofort, dass sich dahinter eine gewisse Traurigkeit verbarg. Ihre tiefe Blässe im Gesicht, die der rote Lippenstift besonders hervorhob, ließ mich kurz erschrecken und erinnerte mich wieder an unsere erste Begegnung vor ungefähr zehn Jahren.
Damals, wie fast jedes Wochenende, hatte der Wecker um sechs Uhr geklingelt und mich jäh aus dem Schlaf gerissen. Draußen war es noch dunkel und neblig, Spätherbst … Ich duschte, schlüpfte in Jeans und Pullover und trank gemütlich meinen Milchkaffee. Das Frühstück ließ ich meistens ausfallen. Anschließend meldete ich mich bei der Leitstelle zum Notdienst. An diesem Tag vertrat ich meine niedergelassenen Kollegen und wartete auf Anrufe der Rettungsleitstelle, die mir die Hausbesuche für die kranken Patienten durchgeben sollte.
Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ein Hausbesuch nach dem anderen fiel an. Mein Sohn David begleitete mich. Er fuhr das Auto und half mir, die Patienten aufzunehmen, Blutdruck zu messen, und unterstützte mich bei meinem Dienst. Ich war froh, nicht alles allein machen zu müssen. Er war zu dieser Zeit durch seine Ausbildung zum Rettungsassistenten sehr sachkundig und damit eine große Hilfe.
Wir standen vor einem unscheinbaren, fabrikähnlichen Haus und suchten die Klingeln nach dem Namen »Gärtner« ab. Im ersten Stock befand sich eine Anwaltskanzlei mit diesem Namen. Aber das oberste Schild trug denselben Namen, also entschieden wir uns für die oberste Klingel. Trotz des dörflichen Charakters befanden wir uns in einem Gewerbegebiet. Während wir auf das Öffnen der Tür warteten, ging mir kurz durch den Kopf, was eine Anwaltskanzlei wohl inmitten eines Gewerbegebiets machen würde. Der Summer ertönte. Wir stiegen die Treppen der vier Stockwerke hoch. Das Treppenhaus machte einen schäbigen Eindruck, ein neuer Anstrich hätte ihm sicherlich gutgetan. Oben angekommen, öffnete uns eine schätzungsweise fünfzig Jahre alte Frau mit dunklen Haaren. Sie trug einen weißen Bademantel. Im Gegensatz zum Treppenhaus machte sie einen sehr gepflegten Eindruck.
»Guten Tag«, sagte sie, »kommen Sie bitte rein, mir ist total übel und schwindelig.« Sie war kalkweiß und sah richtig krank aus. Trotzdem hatte sie sich noch zurechtgemacht, und ihre Lippen schimmerten rot.
»Bitte legen Sie sich wieder hin, wir untersuchen Sie dann in Ruhe«, bat ich sie. Wir betraten das Schlafzimmer. Die gesamte Wohnung war in Weiß gehalten. Kunstwerke hingen an den Wänden, und der Marmorboden glänzte in Grautönen. Die Wohnung war traumhaft eingerichtet, geschmackvoll und edel, aber ich spürte sofort, dass hier irgendwie die Seele fehlte. Ich vermisste die Dinge, die ein gemütliches Wohnen ausmachten. Keine Blumen, keine persönlichen Dinge. Diese Räume erinnerten mich an Wohnungen, die ich aus Katalogen kannte und die zur Ausstellung dienten. Nicht mal ein Buch lag auf dem Nachttisch oder irgendein Gegenstand, ein Wecker, Tempo-Taschentücher, oder was sonst so auf Nachttischen liegt oder rumsteht.
Während ich die Frau untersuchte, lag sie ganz still auf dem Bett und machte auf mich einen traurigen, einsamen Eindruck. Seit mehreren Tagen fühlte sie sich nicht wohl und hatte sich jetzt dazu durchgerungen, einen Arzt zu rufen. Beim Untersuchen fiel mir auf, dass sie einen Nystagmus hatte. Das bedeutete, dass bei einer bestimmten Bewegung ihre Augen unkontrolliert zitterten. Außerdem wurde ihr sofort wieder übel, und Schweiß lag ihr auf der Stirn. Ich ahnte schnell, was mit ihr los war, wollte aber zuerst noch in Ruhe alle meine Untersuchungen durchführen. Ihr Blutdruck war okay, der Bauch weich, kein Durchfall, kein Fieber, und wenn sie sich nicht bewegte, war sie fast symptomfrei.
»Haben Sie auf einem Ohr ein Geräusch oder hören schlechter als sonst? Und hatten Sie viel Stress in letzter Zeit?«
Sie nickte mit dem Kopf und zeigte auf ihr rechtes Ohr. Seit zwei Tagen hatte sie einen leichten Tinnitus, der in der Nacht etwas stärker geworden war.
»Ich habe seit einer Woche große private Probleme«, fügte sie hinzu und schloss ihre Augen. Man merkte ihr deutlich an, dass sie darüber nicht sprechen wollte. Das respektierte ich. Ich legte ihr eine Nadel, hängte ihr eine Infusion an und spritzte ein Mittel gegen Übelkeit. Außerdem füllte ich ein Rezept aus und fragte sie, ob jemand für sie zur Apotheke gehen könne. Sie dachte nach.
»Meine Putzfrau, ja, wenn ich sie heute überhaupt erreichen kann.«
»Haben Sie sonst keine Freundin oder Nachbarn, die oder der es holen kann?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin ganz allein hier, und in diesem Haus befinden sich außer meiner Wohnung nur Büroräume.«
Traurig, schoss es mir durch den Kopf. Eine so sympathische Frau, so allein, irgendwie auch merkwürdig. Was mochte wohl dahinterstecken? Vorsichtshalber ließ ich ihr ein paar Tabletten zusammen mit meiner Handynummer da und bat sie, sofort anzurufen, falls ihr Zustand sich verschlimmern oder nicht bessern würde. Ich ahnte in keiner Weise, was tatsächlich hinter ihrer Einsamkeit steckte. Etwas Geheimnisvolles umgab sie, und dazu passte ihre Verschlossenheit. Ob ihr Leben ausschließlich aus Arbeit bestand?, fragte ich mich. Jedenfalls sollte ich ab diesem Tag eine neue Patientin und sie eine neue Hausärztin haben. Es war der Beginn einer langen Freundschaft.
Im Auto machten David und ich uns Gedanken über diese eigentümliche Situation. Die kühle, unpersönliche Atmosphäre in dieser Wohnung war abweisend und bedrückend. Vielleicht waren es aber auch zusätzlich das am Wochenende völlig verlassene Umfeld und die spürbar triste Stimmung in diesem Gewerbegebiet. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen. Wir schüttelten die schweren Gedanken ab und machten uns auf den Weg zum nächsten Patienten, in der Hoffnung, danach eine Kaffeepause einlegen zu können.
In solchen Situationen versuche ich mich immer auf andere Gedanken zu bringen, und sei es nur, dass ich mich auf den nächsten Augenblick mit einer Tasse dampfenden Kaffees freue. Solche einfachen Dinge können das Leben schön und leicht machen. Der Seele eine Auszeit gönnen, um die Intensität des Moments zu empfinden und sich auch an einer Kleinigkeit zu erfreuen. Wie bei anderen die Zigarette, ist Kaffee für mich mit einem bestimmten Lebensgefühl verbunden. Schon die Vorfreude darauf! Und sobald ich die Tasse in der Hand halte, kann ich abschalten, ich lasse die Seele baumeln und fühle mich glücklich und frei. So kann ich dem Pop- und Jazzmusiker Roger Cicero nur zustimmen, der mal sagte: »Guter Kaffee ist wie gute Musik – beides berührt die Seele.«
Der Tag verlief weiter ohne dramatische Ereignisse, und die Nacht ließ uns gar nicht erst auf dumme Gedanken kommen, denn wir arbeiteten fast durchgehend. Immer wieder, wenn wir uns gerade ins Bett gelegt hatten, kam der nächste Anruf, für eine Samstagnacht nicht ungewöhnlich. Da der Dienst am nächsten Tag gleich weiterging, war ich dankbar, als ab vier Uhr dann alle offensichtlich erst mal versorgt waren. Zumindest bis um 7:30 Uhr. Da begann es dann von Neuem. David blieb tapfer dabei, und wir brachten auch diesen Dienst hinter uns. Sonntagnacht kamen wir deutlich mehr zum Schlafen.
Bei Judith Gärtner hatte ich noch mal angerufen. Es ging ihr nach Infusion und Medikament schon viel besser. Am Montag wollte sie bereits wieder arbeiten. Das war jetzt zehn Jahre her, und dazwischen war einiges passiert.
Judith zog ihre Jacke aus, nahm auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch Platz und legte mir ihren Impfpass hin.
»Hast du irgendwelche...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2023 |
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Co-Autor | Isabelle Müller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Aktives Zuhören • Arztpraxis • autobiografisches Sachbuch • Biografie Frauen • Einsamkeit überwinden • Gute Besserung • Hilfe bei Einsamkeit • Lebensgeschichten • Menschlichkeit in der Medizin • Mut machen • Notärztin • Notfallmedizin • psychosomatische Folgen • richtig zuhören • Sachbuch Gesellschaft • Tübingen • Vorbild für Frauen • Wahre Geschichten • zuhören können • Zuhören lernen |
ISBN-10 | 3-426-44638-3 / 3426446383 |
ISBN-13 | 978-3-426-44638-6 / 9783426446386 |
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