Die preisgekrönte Autorin und Journalistin Ingrid Carlberg erzählt die erstaunliche und unwahrscheinliche Geschichte des Mannes, der hinter dem begehrtesten Preis der Welt steht: Alfred Nobel (1833-1896). Ein Mann, der durch Kriege reich wurde und doch vom Frieden auf Erden träumte. Sie erzählt meisterhaft von Alfreds mittelloser Kindheit in Stockholm, von familiären Konflikten und romantischen Niederlagen sowie von Erfolgen und Verrat quer durch das Europa des 19. Jahrhunderts bis hin zu seinem Tod in San Remo - und darüber hinaus.
Ingrid Carlberg, Jahrgang 1961, ist Autorin und Journalistin. Sie schrieb von 1990 bis 2010 für die große schwedische Tageszeitung Dagens Nyheter und erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Auszeichnungen, darunter auch die Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala sowie 2013 den Axel-Hirsch-Preis der Schwedischen Akademie. Ihre Biografie über Raoul Wallenberg wurde 2012 mit dem August-Preis für das beste Sachbuch des Jahres ausgezeichnet. Seit 2020 ist sie Mitglied der Schwedischen Akademie.
KAPITEL 1
»Ich habe mit dem Zaren über die Versuche von Nobel gesprochen«
Der große Krieg war nur noch wenige Monate entfernt, als Alfred Nobel zum ersten Mal Bekanntschaft mit dem Sprengstoff Nitroglyzerin machte. Man schrieb das Jahr 1854, und die schwedische Familie Nobel lebte da schon über zehn Jahre in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg.
Alfred war das dritte Kind in der Geschwisterschar und zwanzig Jahre alt. Er trug das dunkle Haar zum Seitenscheitel gekämmt, liebte das Lesen und träumte insgeheim davon, Schriftsteller zu werden. In seiner Kammer brachte er, von Lord Byron und Percy Bysshe Shelley inspiriert – die britischen romantischen Dichter waren seine Hausgötter –, lange philosophische Gedichte zu Papier. Gleichzeitig war Alfred zufällig derjenige der Brüder Nobel, der sich am meisten für Chemie interessierte. Er hatte sogar ein paar Monate bei einem berühmten Professor für Chemie in Paris studiert, und hier in Sankt Petersburg war sein Lehrer Nikolaj Zinin, einer der bekanntesten.
Dem jungen Alfred mangelte es nicht an naturwissenschaftlicher Begabung, wenngleich er es niemals zu einem Universitätsexamen bringen sollte. Glücklicherweise war der joviale Zinin nicht von der formellen Art, sondern pflegte einen entspannten Umgang mit den Studenten und kannte zudem Alfreds Vater, Immanuel Nobel, was sicher eine Rolle spielte. Der vielfältig beschäftigte Immanuel Nobel hatte sich in der russischen Hauptstadt einen Namen als energischer Konstrukteur, ja eine Zeit lang auch als Erfinder einer neuen Art von Seeminen gemacht. Zwar hatten Immanuels Minen ihre Kinderkrankheiten gehabt und waren in den schwarzen Löchern der Bürokratie der russischen Marine stecken geblieben, aber Nikolaj Zinin hatte sie nicht vergessen.
Eines Tages Anfang 1854 lud der Chemieprofessor Immanuel und seinen begabten Sohn Alfred in seine Schmiede ein Stück vor den Toren von Sankt Petersburg ein. Er wollte ihnen das Nitroglyzerin vorführen, den neuen spannenden Sprengstoff, den der Italiener Ascanio Sobrero ein paar Jahre zuvor hergestellt hatte.
Das Nitroglyzerin war eine seltsame Sache, eine ölige und besonders launenhafte Flüssigkeit. Die zur Detonation zu bringen war keine leichte Aufgabe, und wenn es einem denn gelang, wurde die Explosion so heftig, dass der Erfinder selbst Panik bekommen und freiwillig davon Abstand genommen hatte, sein Produkt weiter zu erforschen. Ein chemisch interessantes Element, aber viel zu gefährlich, lautet Sobreros Schluss.
Vor Ort in der Schmiede wollte Nikolaj Zinin Vater und Sohn Nobel das Nitroglyzerinproblem demonstrieren. Den Traum, einen effektiveren Sprengstoff als das tausend Jahre alte Schwarzpulver zu erfinden, hegten damals viele europäische Chemiker, und Sobreros neues »Sprengöl« war vielversprechend – wenn es einem nur gelingen würde, es zu zähmen. Es wie das Schwarzpulver mit einer Zündschnur zu zünden funktionierte nicht. Das Nitroglyzerin brauchte zur Detonation einen kräftigen Schlag, doch auch das half nicht immer.
Professor Zinin strich Sprengöl auf einen Amboss und schlug fest mit seinem Hammer darauf. Erstaunt sahen Immanuel und Alfred, wie nur der kleine Teil der Flüssigkeit, die vom Schlag getroffen worden war, explodierte – der Rest blieb still auf dem Amboss.
Das Rätsel beschäftigte Vater und Sohn Nobel, aber da und dort konnte noch keiner von ihnen ahnen, welch große Bedeutung das seltsame Öl in ihrem Leben einnehmen sollte.
*
Alfred Nobels Leben hatte sich gewisslich zum Besseren gewendet seit der elenden Kindheit im Stockholm der 1830er-Jahre. Familie Nobel wusste, was wirtschaftliche Misere bedeutete. Einige Monate vor der Geburt des Sohnes Alfred Bernhard brannte das Haus der Familie bis auf die Grundmauern nieder. Der Baumeister und Mechaniker Immanuel Nobel, der schon zuvor schwer verschuldet war, musste Konkurs beantragen. Nur wenige Wochen nach Alfreds Geburt am 21. Oktober 1833 wurde der frischgebackene Vater im Armenhaus von Stockholm eingetragen.
Die Schulden hingen Immanuel weiter nach, und schließlich waren sowohl die Behörden als auch die zahlreichen Gläubiger es leid. Ende 1837 wurde entschieden, dass Immanuel Nobel festgenommen und in Beugehaft genommen werden sollte, wenn er nicht binnen zwei Wochen bezahlen würde. Leider fehlte es ihm immer noch an Geld. So sah sich Immanuel gezwungen, der sicheren Inhaftierung zu entfliehen. Noch vor Ablauf der Frist verließ er das Land, und seine Ehefrau Andrietta blieb mit den drei Söhnen, dem achtjährigen Robert, dem sechsjährigen Ludvig und dem vierjährigen Alfred, allein zurück. Eine einjährige kleine Tochter starb kurz darauf.
Nach einem kurzen Gastspiel im finnischen Åbo hatte Immanuel beschlossen, sein Glück in der russischen Hauptstadt Sankt Petersburg zu suchen. Das brauchte seine Zeit. Fünf schwere Jahre lang mussten Andrietta und die Kinder sich allein in Stockholm durchschlagen. In einer Schrift von Verwandten wird behauptet, dass die Brüder Nobel, um die Familie zu ernähren, gezwungen waren, auf der Straße Schwefelhölzer zu verkaufen. Doch zumindest konnten sie es sich leisten, in die Schule zu gehen, und mussten nicht wie viele andere Armenkinder in ihrem Alter von morgens bis abends in schäbigen Fabriken schuften.
Die Seeminen brachten die Wende. Immanuel Nobel war mit einem gut geschmierten Mundwerk, einem niemals versiegenden Strom von Ideen und trotz seiner problematischen Situation mit einer beeindruckenden Fähigkeit begabt, Kontakte zu knüpfen. In Sankt Petersburg hatte ihn dieses Talent in die Kreise um einen der wichtigsten Vertrauten des Zaren Nikolaus I. geführt, den Befehlshaber der russischen Marine Fürst Alexander Sergejewitsch Menschikow. Auf einem Empfang in Menschikows schickem Palast belauschte Immanuel zufällig eine Diskussion zwischen zwei Experten der Marine in Sachen Seeminen. Sie hatten Probleme mit der Fernsteuerung. Immanuel dachte schnell nach und schlug eine Lösung vor. Kurz darauf hatte er eine mit Schwarzpulver gefüllte Seemine konstruiert, die sowohl die russischen Marineexperten wie auch den Fürsten Menschikow und den Zaren jubeln ließ. Immanuels Mine benötigte keine Fernsteuerung, sie explodierte, wenn das Schiff auf sie traf.
So kam es, dass die Familie Nobel zum Sprengstoff kam, »wie der Zufall oft die Hand des Menschen leitet«, wie Immanuel später feststellen sollte. Hinterher behauptete er, dass er sich vor dem Schritt gefürchtet habe, aber zu dem Schluss gekommen sei, das Wagnis sei gerechtfertigt. »Als die Idee zu dieser Waffe in mir reifte, war mein Ziel nicht, den Krieg blutiger oder zerstörerischer zu machen, sondern vielmehr, Kriege zu erschweren und in ihren gegenwärtigen Dimensionen unmöglich zu machen. Dergestalt, dass man das Vorrücken eines Feindes mit so großen Opfern verknüpfte, dass eine Kriegserklärung gleichbedeutend mit der Ankündigung des eigenen totalen Untergangs wäre.«
Diese Gedanken sollte Alfred Nobel viele Jahre später wiederholen.
Zar Nikolaus I. zahlte dem Ausländer Immanuel Nobel unter der Bedingung, dass er »sein Geheimnis keinem anderen Staat offenbarte«, 25000 Silberrubel für seine Erfindung.
An Alfred Nobels neuntem Geburtstag, dem 21. Oktober 1842, konnte Mutter Andrietta endlich für sich selbst und die Kinder einen Reisepass nach Sankt Petersburg abholen. Sie reisten ab.
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Die schwedischen Reisepässe der Familie Nobel galten bisher als für die Nachwelt verloren. Doch das historische Archiv des russischen Geheimdienstes in Moskau ist eine Goldgrube. Einhundertfünfundsiebzig Jahre später finde ich sie dort mithilfe eines russischen Researchers. Die Pässe sind gut erhalten, Stempel und rote Siegel sind intakt. Der Sammelpass von Andrietta und den Kindern hat große gelbe Flecken. Aus den handschriftlichen Notizen auf der Rückseite geht hervor, dass sie am 27. Oktober 1842 auf der Polizeistation von Åbo registriert wurden. Da enden die Notizen.
Im selben Archiv findet sich ein umfangreiches Register über alle Ausländer, die in Sankt Petersburg ankamen. Schon damals war der russische Geheimdienst gründlich. Es dauert eine Weile, Andrietta und die Söhne zu finden. Erst am 26. Februar 1843 wird ihre Ankunft in der russischen Hauptstadt registriert.
Wie sie sich gesehnt haben müssen, wie sie die Tage gezählt haben müssen! Was war passiert? Ob jemand krank wurde? Wir können nur raten. Als sie schließlich ankommen, hinterlässt Andrietta bei der russischen Polizei nicht mehr Informationen, als von ihr verlangt werden. Sie gibt an, die Ehefrau des Fabrikbesitzers Immanuel Nobel zu sein und dass sie mit ihren gemeinsamen Kindern nach Sankt Petersburg gekommen sei, um sich in seinem Zuhause auf der »Lit. 4 Nr. 400« (heute Litejnyi Prospekt 34) niederzulassen.
*
Immanuel Nobel hatte seine mechanische Werkstatt vom neu renovierten Winterpalast aus gesehen auf der anderen Seite der Newa, am Ufer des Nebenflusses Große Newka. Der Stadtteil hieß Peterburgskaya Storona (die Petrograder Seite, heute Petrogradskaya) nach der ungefähr einen Kilometer entfernten Peter-und-Paul-Festung.
Die Familie wuchs. Während der ersten Jahre in Sankt Petersburg brachte Andrietta zwei weitere Söhne, Emil und Rolf, zur Welt und später noch ein kleines Mädchen, das im Alter von nur zwei Jahren starb. Nach einiger Zeit zogen die Nobels in ein Haus direkt neben der Werkstatt an der Großen Newka, ein neoklassizistisches Holzhaus aus dem späten 18. Jahrhundert, das von einer Witwe vermietet wurde. Das stilechte eingeschossige Haus unterschied sich laut der Familie »beträchtlich von der ärmlichen Tristesse der Umgebung«. Zum Ufer hin war...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Übersetzer | Susanne Dahmann |
Zusatzinfo | mit zahlreichen Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nobel : den gåtfulle Alfred, hans värld och hans pris |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 2023 • Alexander von Humboldt • Biografie • Biographien • Dynamit • eBooks • Erfinder • Friedensnobelpreis • Geschichte • Kriegführung • Neuerscheinung • Pazifismus • Sanremo • Schweden • Testament |
ISBN-10 | 3-641-27204-1 / 3641272041 |
ISBN-13 | 978-3-641-27204-3 / 9783641272043 |
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