Riverman (eBook)

Eine amerikanische Odyssee

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
384 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-29536-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Riverman -  Ben McGrath
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Fluss ohne Wiederkehr - auf den Spuren eines großen amerikanischen Abenteurers.
»Eine wunderschön erzählte und fast schon mythische Geschichte über die Suche eines Mannes nach Frieden.« Elizabeth Gilbert

An seinem 43. Geburtstag stieg Dick Conant, ein Goldjunge, der nie ganz so erwachsen wurde, wie es seine Umgebung erwartete, in ein selbstgebautes Boot, um trotz eines aufziehenden Schneesturms eine Reise anzutreten. Der Beginn einer gewaltigen Odyssee eines unkonventionellen Mannes durch die flüssigen Arterien Amerikas, eine Reise zu den unbekannten Rändern der Gesellschaft.

»Riverman« ist das bewegende Porträt eines komplexen und faszinierenden Mannes. Es ist auch die Geschichte eines Menschen, der zwar allein reiste und doch von sozialen Verbindungen lebte und in seinem Kielwasser unzählige Menschen zusammenbrachte. Ein erzählerisches Porträt eines Amerika, das wir nur selten zu Gesicht bekommen: ein Land mit unkonventionellen Charakteren, kleinen Gemeinden an großen Gewässern und längst vergessenen Wasserwegen.

Ben McGrath ist langjähriger Mitarbeiter von The New Yorker. Er lebt mit seiner Familie außerhalb von New York City in einer kleinen Stadt am Hudson. »Riverman« ist sein erstes Buch.

1
Steinzeitmentalität


Im Sommer 1999 erlebte Richard Perry Conant – damals neunundvierzig Jahre alt – den herrlichsten Tag seines ereignisreichen und an dramatischen Wendungen nicht armen Lebens. Der Tag begann vielversprechend: Als Conant aufwachte, verspürte er keine Übelkeit. Er hatte in einem Wäldchen am Ostufer des Yellowstone River campiert und am Vorabend große Mengen ungereinigtes Flusswasser getrunken. War heute Montag? Er war sich nicht sicher. Es gefiel ihm, dass sein Zeitgefühl verschwamm. Über eine Woche zuvor hatte er seinen Job als Hausmeister in einem Krankenhaus für Kriegsveteranen in Boise aufgegeben. Er war noch immer sauer, dass Bill Clinton während des Amtsenthebungsverfahrens so nachsichtig behandelt worden war, und hatte vielleicht auch von der modernen Welt überhaupt die Nase voll. Bevor er aufgebrochen war, hatte er auf dem Dachboden des Hauses, das er gemietet hatte, etliche Packungen tiefgefrorenen Fisch eingelagert – eine Stinkbombe mit langer Zündschnur. Dann war er in den Yellowstone-Nationalpark gefahren und hatte dort Elche, Ziegen, Büffel und – auf den üppigen Wiesen der Blacktail-Hochebene – einen Schwarzbären beobachtet. Dann hatte er bei Walmart ein Kanu gekauft und es in der Nähe der Grenze zwischen Montana und Wyoming zu Wasser gelassen. Sein Ziel: der Golf von Mexiko.

Mittlerweile hatte er den Yankee Jim Canyon passiert, eine Engstelle zwischen der Absaroka Range und der Gallatin Range, durch die sich der Fluss wild schäumend zwängt. Einige Tage zuvor war er in einer Stromschnelle namens Boateater gekentert, hatte dabei aber Glück gehabt und nur eine Machete und einen Hut verloren. Das Wasser war eiskalt, und er hatte überlegt, wie er so etwas künftig vermeiden könnte, und etwa mit dem Gedanken gespielt, Ausleger an seinem Kanu anzubringen, um es zu stabilisieren. Doch er hatte kein Auto mehr, mit dem er das erforderliche Material hätte besorgen können. Als er jetzt am Morgen auf einer Brücke stand und angespannt auf den Flussabschnitt blickte, der vor ihm lag, hielt ein Lastwagen neben ihm, und der Fahrer fragte, nur halb im Scherz, ob jemand ertrunken sei. Nicht wirklich witzig. Conant frühstückte zügig (Süßkartoffeln mit scharfer Soße und wieder Flusswasser) und brachte seine Ausrüstung in die alte Ordnung, darunter ein Vorrat an Pepto-Bismol, ein Mittel gegen Magenbeschwerden, und ein Notizbuch mit marmoriertem Einband, in dem er einige Appelle an sich selbst festgehalten hatte: »MITTEL GEGEN INSEKTEN. WEITER TOTSCHLAGEN. In Stromschnellen: festhalten. AUGEN ZUMACHEN.« Kein Wort mehr von einem Ausleger. Dann war er wieder unterwegs, ein einsamer Kanufahrer unter vereinzelten Ruderbooten, um zehn Uhr vormittags, in sieben Knoten starker Strömung.

Die Felswände des Canyons traten zurück, und das Kanu schoss hinaus in ein Tal, das zu beiden Seiten von nahe gelegenen Dreitausendern flankiert wurde. Die Pappeln entlang der Ufer rauschten im böigen Wind und überzogen den Boden mit ihrem Sommerschnee. An der Wasseroberfläche entstanden ohne erkennbaren Grund wirbelnde Strudel und verschwanden sogleich wieder, während am Rand von Conants Sichtfeld Regenbogenforellen auftauchten. Das Tal machte seinem Namen alle Ehre: Paradise Valley. Conant hatte weite Teile der Welt bereist und war in allen achtundvierzig zusammenhängenden Bundesstaaten der USA gewesen, doch dieses Flusstal erschien ihm als das malerischste, das er je mit eigenen Augen gesehen hatte.

Der Nachmittag brachte schwüle Hitze, und Conant musste immer öfter Slalom fahren, denn die langen, geraden Abschnitte wurden immer weniger, aber er navigierte geschickt über Untiefen und durch Stromschnellen. Siebzig Kilometer weit glitt er dahin und schrammte dabei nur zweimal an einen Felsen. Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang erreichte er, aufgeputscht vom Adrenalin, schließlich Livingston, eine Stadt, die zu gleichen Teilen aus Kunstgalerien und Saloons zu bestehen schien. Yuppies und Cowboys. Conant hatte Kunst studiert und besaß Gelüste, die eines Falstaff würdig gewesen wären. Er konnte sich vorstellen, sich an einen solchen Ort zu gewöhnen.

Doch vorher hatte er sozusagen noch etwas zu erledigen. Er spielte mit dem Gedanken, Weihnachten in Mississippi zu verbringen (in Natchez oder Vicksburg) und das neue Jahrtausend in New Orleans einzuläuten. Er hielt sich dazu an, nicht zu »säumen«, wie er gern sagte, in Erinnerung an seinen verstorbenen Vater, der Colonel in der Armee gewesen war und einen ausgeprägten Sinn für rechtschaffenes Handeln gehabt hatte. In der Spielbank eines Hotels im Süden der Stadt machte er ein wenig Gewinn, mit dem er die von Bernard DeVoto herausgegebene gekürzte Fassung der Journals of Lewis and Clark[1] erstand, ein passendes Vademecum für eine Durchquerung des Kontinents auf dem Wasser.

Als Conant in einem Park neben ein paar Baseballplätzen die Ausrüstung in seinem Kanu neu sortierte, kam eine junge dunkelhaarige Frau vorbei, die mit ihrem Hund Gassi ging. Sie kamen ins Gespräch. Die Frau hieß Tracy. Sie schien fasziniert von seinem Vorhaben, vielleicht auch beeindruckt von seiner Tollkühnheit. Conant, der seit Woodstock fast immer nur Latzhosen getragen hatte, hatte sich in den zurückliegenden Jahren daran gewöhnt, dass ihn die Leute eher als Eigenbrötler denn als charmantes Raubein betrachteten. Er war eben der Hausmeister gewesen, Studienabschluss hin oder her. Er war athletisch gebaut und von Haus aus ein sportlicher Typ, brachte jedoch mittlerweile bei einer Größe von 1,85 Meter deutlich über hundert Kilo auf die Waage. Darüber konnten auch seine blauen Augen mit dem durchdringenden Blick und sein schütteres blondes Haar nicht hinwegtäuschen. Er ging mit wachen Sinnen durch die Welt und war bisweilen überaus empfindlich. Doch jetzt stand ihm eine Frau gegenüber, die ihn vielleicht so sah, wie er sich selbst noch immer voller Überzeugung sah: intelligent, abenteuerlustig, charismatisch, ehrgeizig.

Tracy fragte ihn, was er nach seiner Reise vorhabe. Die Frage lag nahe, aber sie war nicht leicht zu beantworten. Was konnte ein Mann mittleren Alters, der seinen Job hingeschmissen und sein Haus mit Stinkbomben verseucht hatte, vom Leben noch erwarten, wenn er auf einem der längsten Flusssysteme der Welt erfolgreich knapp fünftausend Kilometer zurückgelegt hatte, vom Yellowstone über den Missouri zum Mississippi? Conant mochte Universitätsstädte und blauen Himmel. Und er mochte Krankenhäuser – vor dem Job als Hausmeister hatte er als OP-Assistent gearbeitet und bei der Vorbereitung von Operationen geholfen. Jetzt sagte er, er überlege, sich hier in der Nähe niederzulassen, in Bozeman, und liebäugele mit dem Gedanken, Bakteriologie zu studieren. Dann wäre er zwar schon ein bisschen spät dran mit der Fortsetzung seiner medizinischen Laufbahn, aber nach der langen Paddelfahrt nach Livingston, die alle seine Kräfte gefordert habe, fühle er sich wieder jung und sei voller Optimismus. Als er später weiter flussabwärts fuhr und das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, fiel ihm wieder ein, wie die Frau ihn bei der Aussicht auf seine Rückkehr leicht verschämt und mit leuchtenden Augen angesehen hatte. In sein Notizbuch schrieb er: »Ich hoffe, ich sehe Tracy wieder.«

· · ·

Nach einer Woche auf dem Wasser war er mitunter ein wenig wacklig auf den Beinen. Der Boden unter seinen Füßen schien sich zu heben und zu senken, als wogten darunter die Wellen. Er gewöhnte sich an, den trügerischen Sand zu meiden, der die Farbe von Schießpulver hatte, rasch nachgab und ihm die Schuhe von den Füßen saugte, und verließ sich lieber auf Schotterbänke, je felsiger, desto besser. Auf einer Strecke von mehreren Hundert Kilometern überwand der Fluss gut sechshundert Höhenmeter, ließ dann die Berge hinter sich und verlangsamte seinen Lauf. Die Temperaturen erreichten an die vierzig Grad. Das Tal mit der üppigen Vegetation wandelte sich in karges Prärieland, die ockerfarbenen Uferhänge waren von roten Streifen und Kohleschichten schraffiert. Er sah Fußspuren von Tieren, die größer als seine Hände waren, und einen Rotluchs, so groß wie ein Schäferhund.

Die Schwindelgefühle ließen mit der Zeit nach, doch die Insekten machten Conant weiter zu schaffen. Kriebelmücken, die nach ihren Angriffen so schnell wieder verschwanden, dass er schon bald nicht mehr zwischen echten Stichen und Phantomstichen unterscheiden konnte – eine Art vorauseilende Paranoia; ganze Wolken von Stechmücken, die sich in seinen Atem mischten; Moskitos, die ihn in den Wahnsinn trieben, weil sie, angezogen von der Feuchtigkeit, seine Augäpfel attackierten und in den Falten seiner Lider hängen blieben. Als er die Beipackzettel der Mittel gegen Juckreiz studierte, die in Drugstores erhältlich waren, fiel ihm auf, dass die meisten davon Ammoniak enthielten. Also stöberte er in den Regalen mit Putzmitteln und erstand für einen Dollar fünfzig einen halben Liter Haushaltsammoniak. Eine versuchsweise lokale Anwendung verursachte keinen Hautausschlag, woraufhin er sich das Zeug in großen Mengen besorgte und es täglich großzügig zur Linderung auftrug. Um an Händen, Füßen und im Gesicht Risse in der Haut zu heilen und Blasen vorzubeugen, verwendete er Bag Balm, ein Desinfektionsmittel für Nutztiere auf der Basis von Lanolin. Als ihm das Lederfett für seine Schuhe ausging, behandelte er auch diese mit Bag Balm und stellte fest, dass es Nässe genauso gut abhielt wie Lederfett, und das zum halben Preis.

Seitdem er im Yankee Jim Canyon gekentert war, nagte an seinem Brillengestell der...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Übersetzer Felix Mayer
Sprache deutsch
Original-Titel Riverman
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2024 • Biografie • Biographien • Boot • eBooks • Flusswandern • Forrest Gump • Into the wild • Kajak • Kanu • Neuerscheinung • Reportage • verschollen • Verschwinden • Wahre GEschichte
ISBN-10 3-641-29536-X / 364129536X
ISBN-13 978-3-641-29536-3 / 9783641295363
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