ausgeklammert (eBook)
304 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-30359-4 (ISBN)
Philosophinnen unterliegen fast traditionsgemäß einem doppelten Ausschluss: Die denkende weibliche Person wurde über Jahrhunderte marginalisiert, oft abgewertet, von der Philosophiegeschichte schließlich regelrecht verdrängt. Selbst die wirkmächtige philosophische Schule der Kritischen Theorie, die beginnend im 20. Jahrhundert über die Verstrickung von Gesellschaft, Wirtschaft und Mensch nachdenkt und sich überall da einbringt, wo es um Freiheit, Liebe, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung geht, hat ihre Philosophinnen außen vor gelassen. Schlägt man in gängigen Lexika nach, folgt eine lange Liste von Namen der wichtigsten Protagonisten: Adorno, Horkheimer, Habermas, Benjamin und Co. Alle bekannt, alles Männer. »Einfach unerhört!«, finden die Philosophinnen Kristina Steimer und Henriette Hufgard. In ihrem Debüt begeben sie sich auf die Suche nach den Frauen der Frankfurter Schule und sprechen mit einigen persönlich: Gertrud Nunner-Winkler, Frigga Haug, Eva von Redecker und Karin Stögner. Sie stellen ihre Viten und Forschungen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, erforschen, woher die frauenfeindliche Haltung der Philosophie rührt und wie sie mit unserer Gesellschaft zusammenhängt. Sie zeigen auf, welche Hindernisse die Wissenschaftlerinnen überwinden mussten, und wenden deren Thesen auf den heutigen Diskurs um Gleichberechtigung an. Eine längst überfällige Sprengarbeit in Philosophie und Gesellschaft!
Henriette Hufgard ist Philosophin, Autorin und Künstlerin. Sie studierte an der Akademie der Bildenden Künste und der Hochschule für Philosophie in München. Derzeit schreibt sie an der Freien Universität Berlin ihre Doktorarbeit und untersucht, wie der Rationalismus mit dem Erstarken des europäischen Kolonialismus zeitlich zusammenfällt und welche Bedeutung dabei Bilder haben, die Europäer*innen in den Kolonien malten. Hufgard widmet sich diesen Fragen auch in literarischen Essays und ist seit 2021 Redaktionsmitglied des Literatur- und Kulturmagazins [kon]-paper.
Die Guten und die Gerechten – Vom Geschlechter-Zwiespalt der Moral
Prof. Dr. Gertrud Nunner-Winkler
Von Henriette Hufgard & Kristina Steimer
»16,50 Euro, bitte«, sagt der Taxifahrer und hält vor einer Hofeinfahrt. Das Haus, in dem Gertrud Nunner-Winkler lebt, steht in der kleinen Gemeinde Pullach bei München. Zwei der Orte, an denen Nunner-Winkler lange gearbeitet hat, befinden sich ganz in der Nähe: Über fünfunddreißig Jahre war sie an Max-Planck-Instituten in Starnberg und in München tätig – davon ein Jahrzehnt, von 1971 bis 1981, als wissenschaftliche Mitarbeiterin von Jürgen Habermas. Dieser ist Teil der zweiten Generation der Kritischen Theorie und gilt bis heute als bedeutende Figur innerhalb dieser philosophischen Richtung. Im Jahr 2001 erhält Nunner-Winkler, damals sechzigjährig, einen Professorinnentitel und eine Lehrerlaubnis von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der LMU, während sie zugleich weiterhin am Max-Planck-Institut tätig war.
Was uns vor ihre Tür in Pullach im Isartal brachte, war jedoch nicht diese beeindruckende Karriere – die schon für sich genommen herausragend ist. Besonders, wenn man bedenkt, dass eine akademische Laufbahn für Frauen ihrer Generation – Nunner-Winkler ist 1941 geboren – in Deutschland fast noch unvorstellbar war. Es sind die Inhalte, mit denen sie sich auf ihrem langen Schaffensweg befasste: wie entwickelt sich bei Menschen die Motivation dafür, moralisch zu handeln – und wie wandeln sich die Moralvorstellungen selbst? Sie traf damit den Nerv der Zeit, denn sie verknüpfte das philosophische Thema Moral in ihrer soziologischen Forschung mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Fragen nach Geschlechterrollen und Gender in einer Weise, die bis heute kaum an Virulenz verloren hat.
Wir klingeln. Gertrud Nunner-Winkler bittet uns sogleich an den Esstisch ihrer Wohnung. Dort liegt ein Stapel bleistiftbeschriebener DIN-A4-Blätter, daneben zwei Flaschen Wasser, drei Gläser und eine Vase mit rot-gelben Tulpen.
»Ich habe mal alles vom Tisch geräumt, damit wir Platz haben, aber dachte mir – Wasser brauchen wir schon!«, sagt sie und lächelt auffordernd. Das folgende dreistündige Gespräch beweist – nicht nur auf dem Tisch brauchten wir Platz: Die Themen, in die wir eintauchen, verlangen in ihrer Aktualität und Komplexität einen ebenso wachen wie weiten Geist.
Moral und Geschlecht: It’s a match! Not
Wir befinden uns im Jahr 1982. Es ist das Jahr, in dem das erste in vitro gezeugte Baby geboren wird, Helmut Schmidt von der SPD wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum als Bundeskanzler gestürzt und Helmut Kohl von der CDU zu seinem Nachfolger gewählt. In den Radios ersingt sich Nicole mit dem Lied Ein bißchen Frieden den Grand Prix Eurovision de la Chanson und E. T. – Der Außerirdische kommt mit durchschlagendem Erfolg in die Kinos. Vor allem aber ist es das Jahr, in dem sich eine hitzige feministische Debatte um die Moral entzündet. Eröffnet wurde diese von der US-amerikanischen Psychologin Carol Gilligan und ihrem Vorgesetzten Lawrence Kohlberg, Professor für Erziehungswissenschaften an der Harvard University School of Education. Und innerhalb kürzester Zeit knüpfte die Soziologin, Psychologin und kritische Theoretikerin Gertrud Nunner-Winkler daran an, ähnlich wie auch andere namhafte US-amerikanische Protagonist:innen wie die kritische Philosophin Seyla Benhabib. Auf dem Spiel stand nichts Geringeres als das Moralvermögen der halben Welt: die Moral der Frauen – eine ›weibliche Moral‹?
Alles nahm seinen Anfang darin, dass Kohlberg ein Modell entworfen hatte, das die Entwicklung des moralischen Empfindens von Kindern und jungen Erwachsenen in sechs Stufen rekonstruieren und darstellen konnte. Was Kohlbergs Kollegin Carol Gilligan an diesem Stufenmodell störte, war recht einfach ersichtlich: In den Erhebungen schienen Frauen in großer Zahl auf der dritten Stufe ihre Entwicklung zu beenden, während Männer es wie von Zauberhand fast immer auf Stufe vier schafften. Auch auf Stufe fünf und sechs, die nur sehr wenige Befragte erreichten, waren mit 78 Prozent vor allem Männer vertreten.1
Gilligan veröffentlichte daraufhin 1982 einen Gegenentwurf zu Kohlberg: Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau.2 Darin vertrat sie die These, dass Kohlberg die Besonderheiten weiblichen Moralempfindens außer Acht lasse. Er werte bei seinen Erhebungen die Antworten so aus, dass die Bezugnahme auf, von Gilligan als ›männlich‹ identifizierte, Aspekte der Moral – besser bewertet werden als die Berücksichtigung von interpersonellen – ›weiblichen‹ – Aspekten der Moral, wie Bindung und Fürsorge. Letztere sei aber schlicht das weibliche Pendant der Moral und nicht minderwertig gegenüber der männlichen Variante.
Die Kritik, die Gilligan an Kohlbergs Forschung übte, schlug in Windeseile erst in den USA und sehr bald auch im Rest der Welt große Wellen. So stieß sie, kaum ein Jahr nach ihrer Veröffentlichung, auch im Wirkens- und Schaffenskreis um Jürgen Habermas auf großes Interesse. Zu diesem Kreis gehörte auch Gertrud Nunner-Winkler.
Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Soziologen Rainer Döbert, entwickelte sie, auf den philosophischen Thesen von Habermas aufbauend, einen ganz eigenen Zugriff auf die Frage nach dem Geschlecht (und) der Moral. Motivierend war für beide die Irritation darüber, dass die Moral auf einmal zwiegespalten sein sollte. »Warum«, erinnert sich Nunner-Winkler im Gespräch mit uns, »sollte es eine weibliche Moral der Fürsorge geben – aber keine Moral der Unbestechlichkeit für Finanzbeamte oder eine Sorgfaltsmoral der Brückenbauer?« Die Differenzen, die Gilligan in den Erhebungen zur Moral aufgedeckt hatte, führte sie auf Geschlechterrollen in der Gesellschaft zurück – nicht auf eine Art des ›Frau-Seins‹, in dem eine ganz eigene Form der Moral verborgen läge.
Nunner-Winkler suchte nach einer Antwort auf folgende Fragen: Unterscheiden sich Frauen in ihrem Moralempfinden von Männern? Sind sie gar, statistisch gesehen, weniger zu moralischen Urteilen fähig als ›der Mann‹? Oder ist doch anzunehmen, dass es eine Essenz des Weiblichen gibt, die in das universell, also allgemeingültig gedachte Konzept der Moral einen Graben schlug? Der Ausgangspunkt, gegen den sich ihre Bestimmung von Moral richtete, ist Gilligans Annahme von zwei Moralen – einer fürsorglichkeitsorientierten flexiblen, also anpassungsfähigen, »weiblichen Moral« und einer gerechtigkeitsorientierten rigiden »männlichen Moral«. Flexibilität bedeutet übersetzt so etwas wie Biegsamkeit oder Dehnbarkeit. Bezogen auf moralische Urteile heißt Flexibilität, dass Gesetze der Auslegung bedürfen und Ausnahmen unter gewissen Umständen erlaubt sind – besonders, wenn abzusehen ist, dass aus dem Tun der gebotenen, also richtigen Handlungen schädliche Folgen für andere Menschen entstehen. Rigidität oder Starre hingegen bedeuten, dass Prinzipien uneingeschränkt Folge zu leisten ist.
Nunner-Winkler kritisierte an Gilligans Ansatz nicht nur die vergeschlechtlichte Zuteilung von Fürsorglichkeit und Prinzipientreue auf das binäre Geschlechtersystem von Mann und Frau. Sie wendete sich ebenfalls gegen die von Gilligan behauptete Annahme, dass ›die Frauen‹ aus ihrem innersten Wesen heraus eine flexible Moralität haben, während ›die Männer‹ generell und aufgrund ihres Mannseins eine rigide Moralvorstellung vertreten würden.
Die Schule der Moral?
Aber warum sollte dieses ganze Brimborium irgendjemanden außerhalb der Philosophie interessieren? Und warum ist es so wichtig, in diesem Kontext Gertrud Nunner-Winkler und ihre Forschung in den Blick zu nehmen? Gut, da haben sich in den Siebzigerjahren einige Soziolog:innen, Feminist:innen und Philosoph:innen in einem Fachdiskurs darüber aufgeregt, ob die Moral nun weiblich oder männlich ist. Sie haben dafür oder dagegen argumentiert, dass das Geschlecht, sei es nun biologisch oder sozial determiniert, ein wichtiger Faktor dafür ist, zu verstehen, wie wir Menschen zu moralischem Handeln in der Lage sind – und was eigentlich der mysteriöse Inhalt von Moral ist. Welche Rolle sollte das heute für Menschen spielen, die sich nicht zu der ausgesprochen kleinen Gruppe nerdiger Philosophie-Historiker:innen zählen? Wo sollte dieser Diskurs, der irgendwo in Zeitungen von damals sein Maximum an Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht hatte, heute überhaupt noch eine Rolle spielen? Vergilbt dieser Streit nicht jenseits unserer heutigen Gesellschaft auf Dachböden und in Archiven?
Tun wir einen Moment so, als beschäftigten sich nicht nur alle Soziolog:innen und Philosoph:innen am liebsten mit feministischen Diskursen der Siebziger- und Achtzigerjahre. Über Moral. Innerhalb der Kritischen Theorie. Sagen wir gar – der statistischen Einfachheit halber –, alle Geisteswissenschaftler:innen Deutschlands kennen kein Thema, das sie mehr erfüllt: Wir kommen auf knapp 400 000 erwerbstätige Hochinteressierte.
Anders sieht es da an der Institution Schule aus: Mit rund 800 000 beschäftigten Lehrkräften und jährlich – ausgehend vom Schuljahr 2020/2021 – fast elf Millionen Schüler:innen bilden Lehrende und Beschulte einen doch recht beachtlichen Interessent:innenkreis. Aus eigener Erfahrung wissen wir, dass die...
Erscheint lt. Verlag | 20.9.2023 |
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Illustrationen | Henriette Hufgard |
Zusatzinfo | mit 8 s/w-Abbildungen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Alexander Kluge • Care-Arbeit • denkende Frau • deutsche Geistesgeschichte • Diskriminierung von Frauen • eBooks • Eva von Redecker • female empowerment • Frauenliteratur • Gesellschaftskritik • Hannah Arendt • Jürgen Habermas • Kritische Theorie • Literaturkritik - Feminismus • Max Horkheimer • Misogynie • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Nicole Seifert • Patriarchat • Philosophie • Philosophie des 20. Jahrhunderts • Rassismus • Richard David Precht • Sachbuch • Sexismus • Simone de Beauvoir • Soziologie • Svenja Flaßpöhler • Theodor W. Adorno • The quartet • Walter Benjamin |
ISBN-10 | 3-641-30359-1 / 3641303591 |
ISBN-13 | 978-3-641-30359-4 / 9783641303594 |
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