Das Land, das ich liebe (eBook)
416 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31023-3 (ISBN)
Jelena Kostjutschenko berichtete viele Jahre lang über die politische Repression in ihrem Heimatland, bis ihre Zeitung eingestellt und sie ins Exil gezwungen wurde. Ihr Buch zeichnet ein eindringliches Bild von Russland aus der Sicht derer, die es brutal unterdrückt - Dorfmädchen, die zur Sexarbeit rekrutiert werden, queere Menschen in der Provinz, Patientinnen und Ärzte auf einer ukrainischen Entbindungsstation oder Journalistinnen wie sie selbst. In ihren packenden Reportagen und persönlichen Essays wirft sie einen schonungslosen Blick hinter Putins Propaganda und zeigt eine Welt, die Leserinnen und Lesern in Westeuropa ansonsten verborgen bleibt: die Lebensrealität der Ausgegrenzten und Ausgeschlossenen.
Im März 2022 überquerte Jelena Kostjutschenko als Reporterin für Russlands wichtigste unabhängige Zeitung, die Nowaja Gaseta, die Grenze zur Ukraine, um über den Krieg zu berichten. Ihre Mission: dafür zu sorgen, dass die Russinnen und Russen von den Gräueltaten erfuhren, die Putin in ihrem Namen beging.
Aus ihren zahlreichen Reportagen der letzten fünfzehn Jahre hat Jelena Kostjutschenko dreizehn für dieses Buch ausgewählt. Sie verbindet sie mit autobiografischen Essays, entstanden seit dem Überfall auf die Ukraine 2022, zu einer kaleidoskopischen Erzählung über ihr Heimatland, das sich zu einem zunehmend autoritären, homophoben Staat entwickelt.
Kostjutschenko berichtet von der Annexion der Krim, dem Krieg im Donbass und aus dem belagerten ukrainischen Mykolajiw. Sie erzählt vom Leben eines queeren Paares im russischen Hinterland, besucht obdachlose Kinder, die sich in der Ruine eines verlassenen Krankenhauses in Moskau eingerichtet haben, begleitet eine 24-Stunden-Schicht in einem Moskauer Polizeirevier und verschafft sich Zutritt zu einem von der Öffentlichkeit abgeschirmten geschlossenen Heim für psychisch Kranke. Sie erzählt aber auch sehr persönliche Geschichten von sich und ihren Erfahrungen als junge, lesbische Frau, als LGBTQ-Aktivistin und als Reporterin der Nowaja Gaseta, die die Ermordung von vier Kolleginnen und Kollegen miterlebt hat.
Getrieben von der Überzeugung, dass die höchste Form der Liebe und des Patriotismus die Kritik ist, dokumentiert Kostjutschenko unerschrocken das Leben in Russland aus der Sicht derer, die systematisch zum Schweigen gebracht werden.
Mit einem exklusiven Vorwort für die deutsche Ausgabe.
Jelena Kostjutschenko, geboren 1987, ist eine der bekanntesten Investigativjournalistinnen Russlands. Ihre Themen sind die politische Repression und die Korruption in ihrem Heimatland. Sie berichtete über Menschen, die von der russischen Regierung zunehmend brutal an den Rand gedrängt werden: über streikende Arbeiter, Obdachlose, Menschen mit Behinderungen und LGBTQ-Aktivsit*innen. Sie war die Erste, die über Pussy Riot schrieb, und wurde mehrfach verhaftet und misshandelt. Seit ihrem 17. Lebensjahr arbeitete sie für die Nowaja Gaseta, die wichtigste unabhängige Zeitung Russlands, die seit März 2022 nicht mehr gedruckt werden darf. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Gerd-Bucerius-Förderpreis Freie Presse Osteuropas, dem European Press Prize und dem Paul Klebnikov Civil Society Fellowship. Da Kostjutschenko wegen ihrer Kriegsberichterstattung aus Mykolajiw und Cherson eine langjährige Haftstrafe droht, lebt sie mittlerweile im Exil.
Kapitel 1
Die Männer aus dem Fernsehen
Ich habe keine Erinnerungen an mich als kleines Kind, erst an die Zeit, als ich etwa vier war, vielleicht auch drei. Ich erinnere mich an Silhouetten, die sich über mich beugten. Und an meine Großmutter. Sie starb, als ich fünf war, also muss ich bei meinen frühen Erinnerungen jünger gewesen sein. Großmutter machte gemeine Scherze und lachte, wenn sie mir auf die Finger haute. Sie war krank und nicht immer bei Verstand. Wenn sie der Wahnsinn überkam, wurde sie ganz schüchtern und versuchte sich einzuschmeicheln. Sie bildete sich ein, sie wohne bei fremden Menschen, deswegen versuchte sie, uns zu gefallen. Wenn sie wieder zu sich kam, war sie die Frau, die sie viele Jahre gewesen war: das Familienoberhaupt. Sie war es gewohnt, dass man ihr gehorcht, und sie forderte diesen Gehorsam ein.
Ich war oft krank, ständig erkältet. Nur selten ging ich aus dem Haus. In meinen Erinnerungen herrscht immer dämmriges Licht: Gegenüber wird gebaut, und das Haus verdeckt langsam das Licht. In der rechten Zimmerecke steht ein Klavier – gekauft auf Zuwachs. Mama hofft, dass ich eines Tages lerne, es zu spielen. In der linken Ecke steht ein Fernseher. Er läuft, aber das Bild ist unscharf, voller Schnee, dadurch wirkt es schwarz-weiß.
Der Fernseher war riesig, oder zumindest kam er mir kleinem Ding so vor, und hatte einen gewölbten silbergrauen Bildschirm aus dickem Glas. Darauf ließ sich gerne Staub nieder. Ich rückte einen Stuhl heran, kletterte herauf und berührte den Bildschirm mit dem Finger. Mir war, als berührte ich die Flügel einer Motte, ganz, ganz zärtlich. Elektrostatik, sagte Mama.
Ich erwartete den Abend wie ein mir rechtmäßig zustehendes Vergnügen. Dann sollte die Sendung »Gute Nacht, ihr Kindlein« kommen. Die Marionetten, ein Schweinchen namens Chrjuscha und ein Häschen namens Stepascha, würden sich unterhalten, und dann würde ein Trickfilm laufen. Ich mochte die gezeichneten Trickfilme, aber manchmal kamen auch welche mit Knetfiguren oder Puppen. Das erschien mir wie eine gemeine Verschwendung des Wunders Fernseher. Mit Puppen konnte ich selber spielen.
Ich bemerkte, dass Mutter den Fernseher immer schon eher einschaltete als zu »Gute Nacht, ihr Kindlein«. Sie kam von der Arbeit, hängte ihren Mantel auf und ohne die Schuhe auszuziehen, setzte sie sich gleich auf die Couch. Sie wartete ein paar Minuten, bis die Füße nicht mehr so sehr wehtaten, dann stand sie auf, ging schweren Schrittes zum Fernseher und schaltete ihn ein. Da lief eine Serie über Erwachsene oder die Nachrichten. Ich hasste Nachrichten, ich verstand nicht, wie man sich so was freiwillig anschauen konnte. Das Bild, das sich durch den Schnee kämpfte, war verschwommen. Die Leute schrien, gingen irgendwohin, manchmal waren da auch Moderatorinnen und Moderatoren – sie sahen alle gleich aus und redeten auch alle gleich. Ich verstand nicht, was sie sagten. Mama schaute hin und schwieg. Sie war sehr müde.
Allmählich begriff ich, was passierte. Mama erklärte mir, dass unser Land früher die Sowjetunion gewesen war, aber heute hieß es Russland. Und dass es in der Sowjetunion besser war, es gab viel Essen, und die Menschen waren nett. Jetzt war es anders. Später erfuhr ich, dass Mama Chemikerin war, aber da, wo sie gearbeitet hatte, bekam jetzt niemand mehr Geld, deswegen arbeitete sie jetzt als Putzfrau und als Lehrerin und wusch auch noch die Windeln in meinem Kindergarten. Deswegen war sie so müde und nahm mich nicht so oft in den Arm, wie ich es gern hätte. Ich fragte, wer daran schuld war, dass aus der Sowjetunion Russland geworden war. Mama sagte: Jelzin. Und wer ist Jelzin? Der Präsident. Was ist ein Präsident? Der wichtigste Mensch im Land.
Mama zeigte ihn mir, als die Nachrichten liefen. Der wichtigste Mensch im Land war alt und hässlich, und er hatte einen Riesenkopf. Ich verstand nicht, was er sagte. Er nuschelte, wie meine Großmutter, wenn sie krank war, und zog die Wörter in die Länge.
Ich sah ihn an und dachte: Du bist schuld, dass meine Mutter so erschöpft herumläuft. Dass sie beim Gehen mit den Füßen schlurft wie eine alte Frau. Dass sie nicht mit mir spielt und mich nicht so oft in den Arm nimmt, wie ich es gern hätte. Dass die Menschen früher nett waren und in der Sowjetunion wohnten, und jetzt wohnten wir in Russland, und Russland war schlechter. Wenn Jelzin auf dem Fernsehbildschirm erschien, verzog ich das Gesicht und sagte: Der ist böse. Als Antwort lächelte Mama manchmal. Also fing ich an, regelmäßig mit ihr Nachrichten zu schauen und auf Jelzin zu schimpfen, um sie lächeln zu sehen.
Manchmal besuchten Mama Freunde aus der Studienzeit. Sie saßen in der Küche, ich wuselte um sie herum. Wenn sie über Jelzin sprachen, spitzte ich die Ohren. In der nächsten Gesprächspause sagte ich: Jelzin ist böse. Die Erwachsenen lachten. Sie sagten: Deine Tochter ist schon ganz erwachsen. Die Erwachsenen sagten mir, dass Jelzin ein Trinker war. Also sagte ich fortan: Jelzin ist ein böser Trinker. Auch darüber lachten alle.
Je älter ich wurde, desto mehr verstand ich von den Nachrichten. Bergarbeiter schlugen mit ihren Helmen auf eine Brücke in Moskau. Mama überwies den Bergarbeitern Geld, sie sagte: Sie haben nichts zu essen. Die Tschetschenen führten Krieg gegen die Russen. Ich hatte Angst vor den Tschetschenen, ich dachte, sie wären schreckliche, bärtige Bösewichte, fast so wie Piraten, zu gern hätte ich einen von ihnen mal gesehen. Außerdem gab es Banditen. Die habe ich auch nicht gesehen, aber gehört. Manchmal wurde vor unseren Fenstern geschossen. Dann sagte Mama: Geh vom Fenster weg.
Als ich fünf war, erfuhr ich, dass wir alle sterben werden. Und dass auch Mama sterben kann. Bald darauf wurde mir klar, dass Mama nicht nur irgendwann am Alter sterben kann, sondern schon jetzt, wegen der Banditen. Seitdem fürchtete ich die Abende. Abends ist das Böse näher, die Dunkelheit bereitet ihm den Weg. Ich setzte mich ans Fenster und schaute aufmerksam in die Dunkelheit. Ich glaubte daran, dass mein Blick Mama den Weg nach Hause leuchtete, sie beschützte. Manchmal wurde die Angst zu groß. Dann nahm ich eine Metalldose mit Knöpfen und sortierte sie. Die Knöpfe schützten mich ein bisschen vor der Angst.
Als ich in der dritten Klasse war, sah ich einmal Banditen aus der Nähe. Es war auf dem Heimweg, ich ging nicht über die Straße, sondern durch die Hinterhöfe. Mama verbot mir, das zu tun, aber ich wollte schnell nach Hause. Ich sah drei Männer, und noch einen, aber der gehörte irgendwie nicht dazu. Ich weiß noch, dass sie schwarze Ledermäntel trugen – aber vielleicht habe ich mir das auch später ausgedacht. Einer von ihnen fluchte derb, dann zog ein anderer eine Pistole, sie war klein und sehr, sehr schwarz. Ich versteckte mich im nächsten Hauseingang und wartete auf die Schüsse. Es waren zwei. Ich wartete noch ein bisschen, dann steckte ich den Kopf hinaus. Der Mann, der allein gewesen war, lag zusammengekauert auf dem Boden, hinter seinem Ohr war es rot. Die Banditen waren nicht zu sehen. Ich machte einen großen Bogen um den Mann und rannte schnell nach Hause. Mama erzählte ich nichts davon. Ich wusste, dass einem vor Aufregung das Herz stehen bleiben kann, und ich wollte mit meinem ganzen kleinen Körper, dass sie lebte.
Die Banditen waren wegen Jelzin aufgetaucht, genau wie die Dunkelheit vor unseren Fenstern und die langen Abende, wenn ich darauf wartete, dass Mama von der Arbeit kam, und an Jelzin lag es auch, dass wir nicht genug Geld hatten – mittlerweile wusste ich, was Geld ist, und was es wert ist. Manchmal hatten wir kein Essen im Haus. Mit neun fing ich an, in einem Ensemble zu singen. Von Zeit zu Zeit gaben wir Konzerte in Krankenhäusern oder Theatern, dafür wurden wir bezahlt. Die einfachen Sänger und Sängerinnen bekamen 30 Rubel, die Solosängerinnen 60. Ich wollte Solosängerin sein. 60 Rubel – das waren sieben Laibe Schwarzbrot.
Ich fragte Mama: Wenn die Sowjetunion so ein gutes Land war, warum habt ihr es nicht beschützt? Mama erwiderte: Weil man uns betrogen hat. Jelzin hat uns betrogen.
Seitdem schaute ich die Nachrichten mit schadenfreudigem Eifer: Ich wartete darauf, dass Jelzin stirbt. Das mussten sie in den Nachrichten unbedingt zeigen. Aber er starb und starb nicht. Andere Leute starben. Begräbnisse waren damals an der Tagesordnung, ständig trug man mit rotem Stoff verkleidete Särge durch unseren Hof. Ich ging hin und fragte: Woran ist er gestorben? Woran ist sie gestorben? Die Menschen vergifteten sich mit Alkohol, erhängten sich, kamen bei Schießereien um, wurden bei Raubüberfällen getötet oder starben in Krankenhäusern, in denen es keine Medikamente und keine Ärzte gab. Aber meine Mama lebte, mein Blick beschützte sie. Manchmal verhandelte ich mit Gott. Ich sagte zu ihm: Wenn Mama stirbt, dann gehe ich in den Wald und lebe dort, und was willst du dann machen?
Und als ich in der siebten Klasse war, machte Jelzin Folgendes: An Neujahr, als Mama und ich am schön gedeckten Tisch saßen, sagte er vom Fernseher aus: Ich bin müde, ich gehe. Und hörte auf, Präsident zu sein. Das war das Neujahrswunder. Mama lachte und weinte, sie rief ihre Freunde an, und ich dachte: Das war es. Jetzt beginnt ein neues Leben.
Ein halbes Jahr später waren Wahlen. Man wählte Putin. Der sah ganz anders aus als Jelzin: jung, sportlich, mit klaren Augen. Die Augen waren das Einzige an seinem Gesicht, das man sich gut merken konnte. Bemerkenswert war auch die Stimme. Es schien, als müsste er sich beherrschen, um nicht zu knurren. Dafür freuten sich alle, wenn er lächelte.
Mama hatte nicht für Putin gestimmt. Sie sagte: Der ist...
Erscheint lt. Verlag | 18.10.2023 |
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Übersetzer | Maria Rajer |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • Alexej Nawalny • Anna Politkowskaja • Attentat • Beslan • Diskriminierung • dmitri muratow • eBooks • Feminismus • Friedensnobelpreis • Gender equality • Giftanschlag • Homophobie • Kreml • Kremlkritiker • Krieg in der Ukraine • Krim • Krim-Annexion • Leben in Russland • LGBTQ • Meinungsfreiheit • Neuerscheinung • nowaja gaseta • Nowitschok • Pussy Riot • Putin • Queer • Ukraine • Ukraine-Krieg • Vergiftung • Wladimir Putin |
ISBN-10 | 3-641-31023-7 / 3641310237 |
ISBN-13 | 978-3-641-31023-3 / 9783641310233 |
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