Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland (eBook)

Spiegel-Bestseller
Das zu kurze Leben meines Bruders Gökhan Gültekin und der Anschlag von Hanau
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30879-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland -  Çetin Gültekin,  Mutlu Koçak
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Rassismus tötet - eine bewegende Geschichte und ein aufrüttelnder Appell!

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Attentäter in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven. Gökhan Gültekin war einer von ihnen - einer von denjenigen, die der rassistische Täter nicht in »seinem« Land ertragen konnte. Çetin Gültekin erzählt die berührende Geschichte seines Bruders und zeigt: Wir sind nicht »die Anderen«, wir sind ein Teil der deutschen Gesellschaft.

Gökhan wurde 1982 in Hanau geboren, die Eltern stammten aus der Türkei. Vor dem Anschlag war er bereits zweimal knapp dem Tod entkommen, hatte sich immer wieder ins Leben gekämpft und nie seine positive Art verloren. Doch am 19. Februar 2020 überlebt er nicht. Für die Angehörigen beginnt damit ein Albtraum. Die Familie ist zerrissen zwischen Trauer und dem Kampf um Gerechtigkeit, denn immer wieder kommen neue Versäumnisse der Behörden ans Licht.

Seither setzt sich Çetin Gültekin dafür ein, dass die Opfer und deren Geschichten nie vergessen werden - und kämpft unermüdlich gegen den tief verwurzelten Rassismus in Deutschland.

Çetin Gültekin, geboren 1974 in Hanau, wo er bis heute lebt, ist von Beruf Industriemechaniker; er war bis zum rassistischen Terroranschlag vom 19.02.2020 selbstständig und leitete eine Speditionsfirma. Nach dem Attentat wurde er zu einem der bekannten Gesichter im Kampf gegen Rassismus und für Aufklärung im Namen seines getöteten Bruders, aber auch für die anderen Opfer und Hinterbliebenen.

Kapitel 1
Unsere Wurzeln


Mein Name ist Çetin Gültekin. Seit dem 19. Februar 2020 versuche ich, ohne meinen Bruder zu überleben. Wenn die Dunkelheit in mir jedes noch so kleine Licht auslöscht, dann kommen die quälenden Gedanken. Sie sind falsch, aber sie sind da. Wäre meine Familie nicht in Armut aufgewachsen, hätte mein Vater nicht das Geld gebraucht, dann wäre er nie nach Deutschland gekommen. Dann hätte der Mann mit den kalten Augen Gökhan nicht mit zwei Schüssen hingerichtet. Dann wäre er jetzt bei mir.

Mein Verstand sagt mir, dass Gott entscheidet, wann er einen Menschen zu sich ruft. Aber mein Herz will es nicht verstehen. Nachts verfolgt mich diese Frage: Wo hätten wir die Weichen anders stellen müssen, um Gökhans Tod zu verhindern? Im Nachhinein erscheint mir unser ganzes Leben wie eine Hinführung auf seinen viel zu frühen Tod. Glieder einer Kette, die ineinandergreifen und sich am Ende miteinander verbinden. Der Kreis schließt sich, und es gibt keinen neuen Anfang, keinen neuen Tag.

Ich finde keinen Trost, aber ich suche ihn, dort, wo alles begann. Wenn ich meine Augen schließe, steigt mir der Duft von Jasmin und Pfirsichblüten in die Nase, die reine Luft der Berge füllt meine Lungen. Die Sonne geht langsam über den Hügeln auf und taucht die Landschaft in goldenes Licht. Tahir. Genau dort, über dreitausendsechshundert Kilometer weit entfernt von Hanau, im Landkreis Eleşkirt, hat meine Familie ihre Wurzeln. Die Gültekins.

Unsere Geschichte beginnt in dieser kleinen Stadt unweit von Ağrı, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Ostanatolien, nahe der armenischen Grenze, der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und des Irans, wo jeder Millimeter Erde ein Stück Geschichte in sich trägt. Ein Ort, an dem hauptsächlich kurdischstämmige Menschen leben, aber im Laufe der Zeit verschiedenste Ethnien ihre Heimat fanden, wodurch sich eine besondere Kultur entwickelte. Mit all ihren vielfältigen Einflüssen. Eine beeindruckende Landschaft, viel unberührte Natur – aber auch, speziell im Winter, eine der härtesteten Klimabedingungen des Landes. Extreme Minusgrade, die im Kontrast zu den einladenden Herzen und der Gastfreundschaft der Bewohner stehen. Der Ort liegt vor der Kulisse des Ararat, mit 5165 Metern der höchste Berg des Landes. Laut des Alten Testaments soll nach der Sintflut hier die Arche Noah gestrandet sein. Und auch wenn verschiedene Quellen, unter anderem der Koran, auf einen anderen Ort im Osten der Türkei verweisen, genießt dieser Berg Legendenstatus.

Tahir zählt als Kleinstadt, aber es fühlt sich an wie ein Dorf: Jeder ist um irgendwelche Ecken mit jedem verwandt, alles ist familiär. Eine Großfamilie waren wir im wahrsten Sinne des Wortes. Opa Hasan, der Vater meines Vaters, hatte insgesamt achtzehn Kinder, was damals nichts Ungewöhnliches war. Von seiner ersten Frau hatte er sieben, von der zweiten weitere elf. Mein Vater Behçet war das erste Kind aus zweiter Ehe. Im Mai 1945 kam er auf die Welt, während der Zweite Weltkrieg noch andauerte. Und auch wenn die Türkei nicht aktiv daran beteiligt war, so konnte man die Folgen doch überall spüren. Er war unter schwierigen Umständen aufgewachsen, alle Kinder mussten versorgt werden, aber viel hatte man nicht übrig. Achtzig Prozent der Landesbevölkerung lebten zu dieser Zeit in Dörfern. Die Elektrizität kam dort sehr spät, und wenn es nachts dunkel wurde, benutzte man eben die Gaslampe. Radio, Telefon und Fernsehen gab es noch nicht.

Als kleiner Junge arbeitete mein Vater schon auf dem Feld mit – so wie die anderen Kinder auch. Mit einer Sense wurde gemäht, Getreide, Stroh und Heu zusammengebunden, sodass man es transportieren konnte. Besonders schwierig war der Weg zurück ins Dorf, ein langer Marsch zu Fuß, mehrere Kilometer, mit einem großen Bündel auf dem Rücken. Da er immer nur ein einziges tragen konnte, bezahlte mein Vater jemanden, der einen Ochsenkarren besaß, dafür, das übrige Stroh mitzunehmen. Was ihn fast die Hälfte seines Verdienstes kostete. Angekommen im Dorf, wurden erst die Körner aus den Ähren gedroschen, und danach – im wahrsten Sinne des Wortes – die Spreu vom Weizen getrennt. Traditionen wurden gepflegt, jeder respektierte das Recht des anderen.

Mein Vater kam aus einer frommen sunnitischen Familie, die Religion hatte immer einen hohen Stellenwert. So sollte er mit dreizehn Jahren, nachdem er die Grundschule im Dorf besucht hatte, in ein Internat nach Erzurum kommen, eine weiterführende Schule zur Ausbildung islamischer Geistlicher. Er würde Imam werden, ein Vorbeter und Vorbild für die Gemeinde. Wie sehr freute er sich auf die Schule und darauf, eine andere Welt kennenzulernen.

Der Weg ist das Ziel


Doch so sehr er dieses neue Leben genoss, so schnell machte ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Nach nur einem Jahr musste er die Schule abbrechen und ins Dorf zurückkehren, denn sein Vater war unerwartet verstorben. Jetzt musste er die Vaterrolle für seine zehn jüngeren Geschwister übernehmen. Behçet, selbst erst vierzehn Jahre alt, wurde klar, dass er sich für die Familie würde aufopfern müssen. Er verstand, dass für eigene Ziele und Träume kein Platz mehr war. Früh zu heiraten, wie es für viele damals üblich war, kam für ihn nicht infrage. Unter diesen Umständen so viel Geld anzusparen, dass es für eine eigene Familie gereicht hätte, dann noch im besten Fall für ein paar Ochsen und einen Karren – wie sollte das gehen?

Als er mit einundzwanzig Jahren wehrpflichtig wurde, verließ er zum zweiten Mal in seinem Leben seinen Heimatort. Damals musste man sich noch für vierundzwanzig Monate verpflichten lassen, zwei lange Jahre, in denen die anderen Brüder die Arbeit auf dem Feld übernehmen und für den Rest zu Hause sorgen mussten. Vorerst wurde er an der westlichen Ägäisküste in Kuşadası, dem berühmten Badeort, eingesetzt und anschließend für den Rest seiner Zeit als Soldat im türkischen Teil Zyperns.

Zurück im Dorf, meisterte er weiter den schwierigen Alltag, träumte davon, seiner Familie ein leichteres Leben ermöglichen zu können. Bis er davon hörte, dass Vertreter der Regierung ins Dorfcafé kommen und Arbeiter für Deutschland anwerben würden. Deutschland? Gleich so weit weg, in ein fremdes Land? Doch wie er erfuhr, wurden dort dringend Arbeitskräfte gebraucht. Im Zweiten Weltkrieg, an dem Deutschland mit Hitler maßgeblich beteiligt war, starben auch Millionen von deutschen Soldaten und Zivilisten, darunter viele junge Männer, die nun beim Wiederaufbau und in der Industrie fehlten. Somit war man auf ausländische Arbeiter angewiesen und schloss – angefangen mit Italien im Jahr 1955 – nach und nach diverse Abkommen mit verschiedenen Ländern. Und auch wenn ursprünglich so nicht gedacht, waren dies die ersten Schritte zu einem Einwanderungsland.

Die Wirtschaft boomte, und es wurden immer mehr Arbeitskräfte gebraucht. Zudem wurde 1961 die Berliner Mauer gebaut, was den Zustrom ostdeutscher Arbeiter unmöglich machte und die anderweitige Nachfrage wiederum erhöhte. Noch im selben Jahr schloss die Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei ein Anwerbeabkommen für eine staatlich regulierte Arbeitsmigration ab. Einige Landsleute hatten diesen großen Schritt bereits gewagt, und 1968 war es dann auch für meinen Vater an der Zeit. Er traf die schwierige Entscheidung, ebenfalls diesen Weg zu gehen: Er sollte seinen Teil zum Wirtschaftswunder des fremden Landes beitragen.

Mit dreißig weiteren Männern aus seinem Dorf reiste er in die Hauptstadt Ankara. Natürlich bedrückte ihn der Abschied, er war heimatverbunden und hing sehr an seiner Familie. Aber wieder einmal ging es nicht um ihn und um seine Bedürfnisse, sondern darum, Geld für seine Geschwister zu verdienen. Durch die Presse und aus Erzählungen anderer hatte er mitbekommen, wie sich der Lebensstandard der Gastarbeiter, die nach Deutschland gingen, schlagartig änderte. Wie sie ihre Familien von dort aus unterstützen konnten, indem sie Geld schickten, Häuser und Nutztiere für die Landwirtschaft kauften, all das, was ihm bisher nicht möglich gewesen war. Die große Arbeitslosigkeit in der Heimat, ein Fachkräftemangel in Deutschland – sie wurden gebraucht, man lud sie sein. Und auch wenn viele damals ungelernt waren oder eben nur einfache Bauern, waren sie perfekt für die anstehenden Aufgaben, da sie hart im Nehmen waren und nahezu pausenlos arbeiten konnten.

In Ankara landete er vor deutschen Ärzten und Krankenschwestern und musste sich nackt ausziehen, abtasten lassen und verschiedene Tests erdulden, für die er sich schämte und die seinen Stolz verletzten. Er hatte bisher nie Kontakt zu anderen Frauen außerhalb der Familie oder des Dorfes gehabt, nicht verwandten Frauen nie die Hand gegeben, so wie er es von Älteren gelernt hatte – für ihn eine Sache des Respekts. Plötzlich wurde er von einer völlig Fremden berührt, was ihm umso unangenehmer war. Das Erlebnis hat er nie vergessen, obwohl er ungern an diese erniedrigenden Momente zurückdachte.

Bei den Gesundheitschecks wurden nur die Besten und Stärksten ausgewählt. Und wer sie nicht bestanden hatte, verlor im Dorf sein Gesicht, weil viele dachten, dass mit ihm irgendetwas nicht in Ordnung sei. Die Abneigung der Väter heiratsfähiger Töchter war so groß, dass diese Männer als potenzielle Ehemänner oft nicht mehr infrage kamen. Mein Vater bestand jedoch die Kontrollen und kam nur zurück ins Dorf, um seine Liebsten noch einmal fest in die Arme zu schließen. Die Ungewissheit und der Umstand, dass man so viel zurückließ, die Heimat, in der man geboren und aufgewachsen war, die Familie, die Liebe all der Menschen, die...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-641-30879-8 / 3641308798
ISBN-13 978-3-641-30879-7 / 9783641308797
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