Den Faden halten (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00565-5 (ISBN)
Monika Fuchs, geboren 1938 in Hannover, lebte in den USA, auf den Philippinen und heute in Hamburg. Sie hat vier Kinder, diverse Pflegekinder und neun Enkel und arbeitete als Journalistin, Autorin und Köchin.
Monika Fuchs, geboren 1938 in Hannover, lebte in den USA, auf den Philippinen und heute in Hamburg. Sie hat vier Kinder, diverse Pflegekinder und neun Enkel und arbeitete als Journalistin, Autorin und Köchin.
Versagen
Ich war eine hoffnungslose Schulversagerin. In der siebten Klasse blieb ich zweimal sitzen und wurde ohne eine weitere Chance von der Schule genommen, was ich heute als fast kriminelle Tat ansehe. Mir wurde eingetrichtert, ich hätte Rost im Hirn. Es wurde mir so oft gesagt, dass ich es irgendwann selber glaubte. Heute weiß ich, dass es nicht stimmte – ich war einfach extrem schüchtern und in mich gekehrt. Ich saß beim Essen am liebsten unter dem Tisch. Meine Mutter erlaubte das natürlich nicht, aber den beiden Kindermädchen war es egal. Da meine Mutter nicht an allen Mahlzeiten teilnahm, hatte ich oft meine Ruhe. Schaute mich jemand beim Essen direkt an, behielt ich den Bissen im Mund und schluckte nicht herunter. Zur Strafe setzte man mich im Kinderzimmer auf den Tisch in eine für mich schwindelerregende Höhe, ließ die Jalousien hinunter und schloss die Tür ab. Es war stockfinster. Man ging davon aus, dass ich schreien würde, und dazu würde ich schlucken müssen. Das tat ich aber nicht. An den säuerlichen Geschmack im Mund kann ich mich heute noch erinnern.
Bei meiner geliebten Patentante durfte ich jedoch alles. Unterm Tisch sitzen, den Bissen im Mund behalten, die Hand bei einer Begrüßung verweigern. Sie lachte nur, knuddelte mich und sagte: «Du bist eigentlich mein Kind.» Das sagte sie mir im Laufe der Jahre immer wieder, und es waren ihre letzten Worte an mich, kurz bevor sie im hohen Alter starb.
Tiefe Liebe geht auch über den Tod hinaus. Ich denke oft, dass sie noch bei mir ist. Von ihr habe ich gelernt, Körperkontakt zuzulassen und zärtlich zu sein. Bei meinen Kindern konnte ich all das später ohne Verklemmung ausleben, denn ich hatte es ja erfahren.
An meine Grundschulzeit habe ich keine Erinnerung. Ich weiß nicht, wann und wo ich eingeschult wurde. Noch im Krieg? Oder ein Jahr danach? Und wo? Mein ältester Bruder war irgendwann nicht mehr zu Hause. Kinderheim war das Wort. Keine Erklärung dazu. Er blieb ein Jahr weg. Ein Jahr ist lang, ich hatte ihn fast vergessen. Dann kam ich in das besagte Kinderheim. Im Weserbergland. Kinderheim Dr. Ritter. Warum? Ich habe es nie herausgefunden. Gab es dort eine bessere Versorgung? Aber warum blieben die Geschwister dann mit zwei Kindermädchen zu Hause? Aus Angst vor Bomben? Warum dann nur ich? Ein Jahr Trennung von der Mutter. Der Vater war im Krieg. Ihn kannten wir Geschwister gar nicht. Es ist eines der ungelösten Rätsel meines Lebens. Meine Mutter weigerte sich bis zum Schluss, diese Frage zu beantworten.
Nach einem halben Jahre kam plötzlich mein ein Jahr jüngerer Bruder in das Heim. Er war mein Lieblingsbruder. Zu meinem älteren Bruder sah ich auf; meinen kleineren Bruder liebte ich. Er war mein Bruder. Viel Kontakt hatten wir aber nicht, denn die Jungs waren in einem anderen Haus untergebracht. Wir Mädchen wurden von zwei ältlichen adeligen Fräulein betreut – und natürlich von Personal. Ich liebte die Köchin, sie hieß Monika wie ich. Und wenn ich zur Strafe neben der Küche alle Schuhe der Mädchen mit Spucke und Papier putzen musste, drückte sie mich manchmal an ihren üppigen Busen.
Die Freitage waren es, die mich beinahe in die Flucht trieben. Freitags mussten sich Jungs und Mädchen im großen Speisesaal in zwei Reihen aufstellen. Dr. Ritter öffnete das Goldene Buch, in dem jede Missetat, jedes kleine Vergehen, jede Lüge, jedes Versagen der Woche eingetragen war. Der oder die Sünder wurden aufgerufen, mussten sich mit heruntergezogener Hose oder hochgeschobenem Rock bäuchlings auf eine Turnbank legen, und es gab je nach Vergehen eine bestimmte Anzahl Schläge mit dem Gürtel. Als mein Bruder dran war, fiel ich ohnmächtig zu Boden. In meinem Elternhaus hatte es niemals Prügel gegeben.
Ich selber wurde nie geschlagen. Aber wir Kinder mussten bei kleinsten Vergehen nachts mit dem Gesicht zur Wand im Dunklen zwischen uralten, knarrenden Schränken auf dem Boden knien. Lange. Oder, im Nachthemd und barfuß, im Garten bei Dunkelheit mit einer Taschenlampe in der Hand Holzscheite zählen. Dabei konnte ich noch gar nicht zählen.
Ich mache niemandem einen Vorwurf, aber all dies hinterließ, weil unerklärt, Spuren. Im Leben kann alles Mögliche, Unmögliche, Skurrile, Verrückte passieren; aber man sollte Kindern erklären, warum.
Später wurde ich in demselben Lyzeum eingeschult, das auch meine Mutter besucht hatte. Und ich hatte dieselben Lehrerinnen. Eine hatte inzwischen ein Glasauge, die andere ein steifes Bein. Die meisten hatten Hörprobleme. Sport gab es nicht, dazu fehlte Lehrpersonal. Die Schulbücher waren uralt, die Lehrerinnen auch. Das Gebäude war bombenbeschädigt, die Klassenzimmer seit Jahren nicht renoviert. Die großen Fenster blieben das ganze Jahr über geschlossen, damit es nicht zog. Das Pausenbrot aß man an seinem Platz. Lustiges Herumlaufen auf einem Pausenhof gab es nicht. Es fehlte das Aufsichtspersonal, und die alten Lehrerinnen schafften kaum noch den Unterricht. Ich nehme an, dass sie sich zwischendurch hinlegen mussten. Musikunterricht fand auch nicht statt. Lehrerinnenmangel. Aber Religion wurde unterrichtet! Weil ich nicht innig genug gebetet hatte, bekam ich mit einem kleinen, biegsamen Stock einige Schläge auf die Hand. Ich war eher verblüfft, als dass es wehtat. Meine Mutter war erklärte Atheistin, und Beten war mir unbekannt.
Was mich in der Schulzeit lähmte, war die Atmosphäre. Die abgestandene Luft im Klassenzimmer. Immer roch es nach hart gekochtem Ei und alter Kleidung. Nach Schweiß und fettigen Haaren. Manche Mädchen putzten sich die Nase und schoben das Taschentuch in den Ärmel. Andere kauten an ihren Fingernägeln oder hatten feuchte Schweißflecken unter dem Arm, und die Lehrerinnen hatten ungeputzte gelbliche Zähne. Das alles raubte mir meine Aufmerksamkeit. Ich sah lieber schnell aus dem Fenster, und schon wurde ich gerügt. Freundinnen fand ich nicht unter diesen Mädchen. Ich beherrschte auch nicht ihre Gesprächsthemen und war dadurch für sie eine arrogante Gans. Ich hüllte mich in Schweigen, schien etwas Besseres sein zu wollen. Dabei war ich nur verschreckt von so viel Hässlichkeit. Mein Pech war, dass ich aus einem sehr stilvollen, feinsinnigen Elternhaus kam und eine zwar strenge, aber gute Erziehung genossen hatte. Perfekte Reinlichkeit gehörte dazu, das galt als minimalste Rücksichtnahme gegenüber anderen Menschen. Damit war ich weit von der Realität der anderen entfernt, als lebte ich auf einem anderen Stern.
Zu jener Zeit zogen unendlich viele Mütter ihre Kinder ohne die Väter groß, die entweder im Krieg gefallen, noch in Kriegsgefangenschaft oder schwer traumatisiert zurückgekehrt waren. Nicht jeder wohnte in einem Haus mit einem intakten Badezimmer und einem Zimmer für jedes Kind. So viele Menschen hatten alles verloren und bauten sich erst langsam und mühselig wieder eine neue Heimat oder ein Nest für die Kinder auf. Was spielte es da für eine Rolle, ob das Kind gepflegt in die Schule ging? Schon allein ein Gymnasium zu besuchen, war ein Privileg. Ich lebte in einem goldenen Ei – und wusste es nicht einmal.
Inzwischen hatte ich heimlich fast die ganze Bibliothek meiner Eltern gelesen. Manches verstand ich noch gar nicht, wie zum Beispiel Die gute Ehe oder Vermassung und Kulturzerfall. Aber vieles erschloss sich mir; es war der Beginn meiner Leseleidenschaft und meiner Liebe zur Literatur. Doch mit der Schule war es nach der siebten Klasse vorbei – ich wurde in eine Schneiderlehre gesteckt. Im besten Modesalon der Stadt. Wie meine Eltern das bewerkstelligt hatten, weiß ich nicht, war ich doch als Schulversagerin in Ungnade gefallen. Eine Lehre! Diese Peinlichkeit! Alle in meinem Umfeld gingen aufs Gymnasium, niemand machte eine Lehre. Schon wer auf die Waldorfschule ging, war Abschaum. Waldorfschule, ein Ort für Unfähige. Aber eine Lehre? Das war unfassbar. Bis zum Anfang der Ausbildung weinte ich mich leise durch die Nächte. Die Nacht vor meinem ersten Tag verbrachte ich im Bett meines ältesten Bruders. Ich lag neben ihm und beobachtete die Fische in seinem beleuchteten Aquarium. Unsere Eltern machten derweil Urlaub. Das Hausmädchen, das auch für uns kochte, überreichte mir belegte Brote. «Dein Lieblingskäse», sagte sie und knuffte mich in den Arm. Heute weiß ich, sie fühlte mit mir.
Eine ganz andere Zeit begann. Eigentlich war ich noch ein Kind, aber ich durfte wegen mangelhafter Leistungen nicht mehr im Strom mit den anderen Kindern mitschwimmen, sondern wurde aussortiert und in ein anderes Gefüge «eingeschleust»: in den Strom der arbeitenden Bevölkerung. Mein Tag fing früh an – um sieben Uhr. Das hieß: aufstehen um sechs Uhr. Da drehte sich ein Gymnasiast noch einmal um, und sogar unser Hausmädchen schlief noch. Ich fuhr mit dem Fahrrad an den Bahngleisen entlang, durch Regen und Schnee, durch Dunkelheit oder Sommerluft, durch Sturm oder Frühnebel. Drei Jahre lang. Was ich zu Anfang nicht wusste: Ich fuhr dem Erfolg entgegen! Ich, zu groß, zu dünn, zu schüchtern und voller Sehnsüchte, war von Erwachsenen in eine Richtung geschoben worden, um die ich nicht gebeten hatte – und verfiel nach kurzer Zeit der ersten, obgleich nicht einzigen Leidenschaft meines Lebens: der Mode.
Das Nähen lag mir. Ich verstand das System, war schnell und geschickt und konnte erkennen, was gut war und was nicht. Ich liebte den Umgang mit Stoffen. Während meiner Lehrzeit beobachtete ich genau, wie die Directrice die Schnitte vorbereitete. Zuerst zeichnete sie für die Kundin mehrere Entwürfe. Diese entschied sich daraufhin, und der Schnitt wurde auf...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abschied • Alter • Älterwerden • Autobiografien • Beziehungen • Biografien • Biographien Frauen • Ehe • Essen • Familie • Frauen • Frau Fuchs kocht sich zum Nordpol • Hamburg • Kochen • Lebensklugheit • Lebenskrisen • Lebensweisheit • Liebe • Neuseeland • Philippinen • Schwarzwald • Social Dining • Supper Club • Tim Mälzer • Tod • Unternehmerin • USA • Vincent Klink |
ISBN-10 | 3-644-00565-6 / 3644005656 |
ISBN-13 | 978-3-644-00565-5 / 9783644005655 |
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