Qualitative Forschung als strenge Wissenschaft? (eBook)

Zur Rezeption der Phänomenologie Husserls in der Methodenliteratur
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2014 | 1. Auflage
224 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0751-6 (ISBN)

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Qualitative Forschung als strenge Wissenschaft? -  Andrea Ploder
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Andrea Ploder zeichnet in ihrer Arbeit systematisch die verschiedenen Wege der Husserl-Rezeption in der Methodenliteratur nach, unterscheidet verschiedene Rezeptionsweisen und prüft ihr Verhältnis zu den Schriften Husserls. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Methodengeschichte und zur methodologischen Grundlagendebatte der qualitativen Sozialforschung. Aus Sicht der philosophischen Husserl-Forschung ist es ein spannendes Fallbeispiel für Probleme und Potenziale einer Rezeption der Phänomenologie in den Einzelwissenschaften. Auf den ersten Blick hat die Phänomenologie Edmund Husserls mit der qualitativen Sozialforschung wenig gemeinsam: Husserl will die VorausSetzungen wissenschaftlicher Erkenntnis freilegen, keine konkreten Sinnzusammenhänge rekonstruieren. Auf Umwegen hat er die deutschsprachige qualitative Sozialforschung dennoch nachhaltig beeinflusst, wie die vorliegende AuseinanderSetzung deutlich macht. Aber wie sehen diese Umwege aus? Wer sind die zentralen Vermittlungsfiguren? Welche Teile des Husserl'schen Denkens wurden rezipiert und welche Veränderungen haben sie im Zuge der Rezeption erfahren? Die dem Buch zugrundeliegende Arbeit wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie als eine der vier besten soziologischen Abschlussarbeiten des Jahres 2012 ausgezeichnet. Die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz hat sie mit einem Förderungsstipendium unterstützt und 2012 als eine der besten Arbeiten des Jahres prämiert.

Andrea Ploder hat in Graz und Utrecht Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaften studiert und arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Rechtsphilosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie leitet gemeinsam mit Johanna Stadlbauer das Grazer Netzwerk Qualitative Forschung, ist Mitglied im Scientific Board des Grazer Methodenkompetenzzentrums und Sektionsrätin der Sektion für Migrations- und Rassismusforschung in der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Methoden, Methodologie und Geschichte der qualitativen Sozialforschung, soziologische Theorie und Methoden der Migrationsforschung.

Andrea Ploder hat in Graz und Utrecht Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaften studiert und arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Rechtsphilosophie der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie leitet gemeinsam mit Johanna Stadlbauer das Grazer Netzwerk Qualitative Forschung, ist Mitglied im Scientific Board des Grazer Methodenkompetenzzentrums und Sektionsrätin der Sektion für Migrations- und Rassismusforschung in der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören die Methoden, Methodologie und Geschichte der qualitativen Sozialforschung, soziologische Theorie und Methoden der Migrationsforschung.

2. Husserl und die Methodologie der qualitativen Sozialforschung


In folgenden Abschnitt werden verschiedene theoretische Positionen vorgestellt, die für die methodologische Fundierung der qualitativen Sozialforschung bedeutsam waren: die verstehende Soziologie nach Max Weber (2.1.), die Sozialphänomenologie von Alfred Schütz (2.2.) und die Phänomenologische Wissenssoziologie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (2.3.). Neben den genannten waren auch andere Theoriestränge für die Entwicklung der qualitativen Methoden relevant – insbesondere der Pragmatismus und der darauf aufbauende Symbolische Interaktionismus sowie die philosophische Hermeneutik.45

Aus der Sicht der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik/Hermeneutischen Wissenssoziologie 46 stehen die Arbeiten von Weber, Schütz und Berger/Luckmann in einer direkten Rezeptionslinie: Zunächst hat Schütz Webers methodologischen Entwurf einer verstehenden Soziologie unter Rückgriff auf Husserl phänomenologisch angereichert. Berger und Luckmann haben die von Schütz begründete ‚Sozialphänomenologie’ wissenssoziologisch gewendet und ihr damit einen noch stärker soziologischen Akzent verliehen. Auf allen drei Stufen gibt es Bezüge zu Husserl, insbesondere bei Alfred Schütz. Hier werden die Positionen in ihrer Relevanz für die qualitativen Methoden dargestellt und ihr Bezug zu Husserl überblicksartig skizziert.47

2.1. Verstehende Soziologie nach Max Weber

Max Webers Werk gilt als Referenzpunkt für eine verstehende Soziologie, die heute als eine der Grundlagen qualitativer Sozialforschung betrachtet wird.48 Besondere Relevanz hat es nach wie vor für die Sozialwissenschaftliche Hermeneutik, die in einer methodologischen Linie von Weber über Schütz zu Schütz/Luckmann und Berger/Luckmann steht. Die Arbeit von Schütz’ und Husserls Stellenwert darin sind Gegenstand des nachfolgenden Kapitels (2.2.). Im vorliegenden Abschnitt wird Webers Konzept einer verstehenden Soziologie dargestellt und ein Stück weit der Frage nach der Beziehung Webers zu Husserls Werk nachgegangen.

In seinem berühmten Text zur ‚Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis aus dem Jahr 1904 charakterisiert Max Weber die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, die „die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens […] in ihrer Eigenart verstehen [will] – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“49 Er stellt sich die Frage, „in welchem Sinn […] es ‚objektiv gültige Wahrheiten’ auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturerleben überhaupt“50 geben kann. Seine Antwort ist der Entwurf einer verstehenden Soziologie. Die naturwissenschaftliche Orientierung an allgemeinen Gesetzen lehnt er ab, weil sie dem Forschungsgegenstand der Soziologie nicht angemessen ist:

Für die exakte Naturwissenschaft sind ‚Gesetze’ um so wichtiger und wertvoller, je allgemeingültiger sie sind; für die Erkenntnis der historischen Erscheinungen […] sind die allgemeinsten Gesetze, weil die inhaltsleersten, regelmäßig auch die wertlosesten. […] Die Erkenntnis des Generellen ist uns in den Kulturwissenschaften nie um ihrer selbst willen wertvoll.51

Gegenstand der Sozialwissenschaften sind Weber zufolge vor allem „geistige […] Vorgänge, welche nacherlebend zu ‚verstehen’52 sind. Die Soziologie ist demnach eine Wissenschaft von den Kulturbedeutungen gegenwärtiger und vergangener Erscheinungen. Sie interessiert sich nicht für allgemeine Gesetze, sondern für die Genese und gegenwärtige Bedeutung sozialer und kultureller Phänomene in ihrer Eigenart. Diese Phänomene begreift sie als geistige Vorgänge, die auch nur geistig (auf dem Wege des Verstehens) erfasst werden können.53

Was Weber meint, wenn er von Verstehen spricht, lässt sich am besten anhand seiner Definition der Soziologie als Wissenschaft erläutern:

Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln’ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales Handeln’ aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.54

Einheit der soziologischen Analyse ist demnach das seinem (subjektiven) Sinn nach auf das Handeln anderer bezogene Handeln von Individuen.55 Ziel der Analyse ist es, dieses Handeln auf der Basis eines deutenden Verstehens ursächlich zu erklären.56

Als Verstehen bezeichnet Weber die Deutung des subjektiv gemeinten Sinns einer Handlung.57 Er geht davon aus, dass jedes sinnhafte Handeln prinzipiell verstehbar ist.58 Zu unterscheiden ist jedoch zwischen dem „aktuelle[n] Verstehen des gemeinten Sinnes einer Handlung“59 (wir verstehen den Sinn des Gedankens oder Affekts, der sich in der Handlung (z.B. den Satz ‚2x2=4’ aussprechen) ausdrückt (z.B. dass 2x2=4)) und dem erklärenden Verstehen, in dem uns die Motive der Handelnden aus dem Sinnzusammenhang, dem Kontext der Handlung heraus einsichtig werden (wir verstehen, welchen Sinn die Person A zum Zeitpunkt t mit der Äußerung des Satzes ‚2x2=4’ verbindet – z.B. eine Antwort auf eine Frage zu geben). Während wir als Alltagsmenschen fortwährend auf die Kompetenz zum aktuellen Verstehen angewiesen sind, sieht Weber die Aufgabe der Soziologie als Wissenschaft darin, soziales Handeln erklärend zu verstehen.

Aber wie können wir die Motive einer Handlung verstehen, die wir nicht selbst gesetzt haben? Laut Weber stehen uns dafür grundsätzlich zwei Wege offen: das einfühlende Verstehen „durch die nacherlebende Phantasie“60 und das intellektuelle Verstehen.61 In beiden Fällen werden Deutungen produziert, die nur vorläufige Gültigkeit haben: Jede Deutung kann grundsätzlich falsch sein, weil von äußeren Vorgängen nie eindeutig auf innere Abläufe geschlossen werden kann. Insbesondere den Selbstzeugnissen von AkteurInnen bezüglich ihrer Handlungsmotivationen kann nicht ohne weiteres vertraut werden.62 Zur Kontrolle von im Verstehensprozess generierten Deutungshypothesen empfiehlt Weber deshalb die Methoden des Vergleichs (eine „Vergleichung möglichst vieler Vorgänge […] welche sonst gleichartig, aber in dem entscheidenden einen Punkt […] verschieden geartet sind“63) und des Gedankenexperiments (das „Fortdenken […] einzelner Bestandteile der Motivationskette und der Konstruktion des dann wahrscheinlichen Verlaufs, um eine kausale Zurechnung zu erreichen“64).

Als Scharnier zwischen Verstehen und Erklären hat Weber das Konzept der Idealtypen entwickelt: Im Weg des einfühlenden oder intellektuellen Verstehens und über Recherchen zu den „konkret historischen oder typisch soziologischen Vorbedingungen“65 des zu untersuchenden Handelns müssen Forschende zunächst die Maßstäbe rekonstruieren, die zur Erklärung der in Frage stehenden Handlung relevant sein könnten: Sie müssen fragen, welches Handeln in einer gegebenen Situation objektiv richtig,66 subjektiv zweckrational oder auch nur sinnhaft verständlich gewesen wäre. Auf der Basis dieses Interpretationsvorgangs bilden sie Idealtypen, die in weiterer Folge als Vergleichsmaßstab für das Handeln dienen, das tatsächlich stattgefunden hat. Gültige Idealtypen müssen nach Weber vor allem zwei Kriterien erfüllen: Sie müssen sinnadäquat („nach den durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten“67 typischerweise verstehbar) und kausaladäquat (erfahrungsgemäß wahrscheinlich68) sein. Ein guter Idealtypus ist zudem möglichst eindeutig und trennscharf (ein ‚reiner’ Typus). Konkretes Handeln wird nicht als Konkretisierung eines Typus sondern in seiner Abweichung von den Idealtypen erklärt.69

Webers Konzept der verstehenden Soziologie war für die weitere Entwicklung der interpretativen Verfahren grundlegend. Obwohl er selbst Zeit seines Lebens statistische Analysen vorgezogen hat,70 hat sein Plädoyer für eine verstehende Soziologie vielen methodischen PionierInnen als theoretischer Bezugspunkt (und Rückendeckung) gedient. Insbesondere sein Fokus auf soziales Handeln und subjektiven Sinn bestimmt die interpretativen Verfahren bis heute.71 Noch immer zielen viele Verfahren der Datenerhebung und -analyse darauf ab, Zugang zu subjektivem Handlungssinn, zu Sinnstrukturen und Spuren von Sinnsetzungen zu gewinnen.72 Bis heute ist außerdem die Typenbildung eine beliebte Strategie der interpretativen Analyse, jedoch nicht immer im Weberschen Sinn. Eine explizite Fortsetzung hat Webers Konzept des Idealtypus vor allem in der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik gefunden, von der weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird.73

Ob und inwiefern Husserl die verstehende Soziologie Webers beeinflusst hat, ist schwer zu rekonstruieren. Weber erwähnt Husserl in einer Fußnote zu...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2014
Vorwort Katharina Scherke
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Empirische Sozialforschung
Schlagworte Alfred • Aron • Berger • Biografieforschung • Edmund • Ethnomethodologie • Gabriele • Gurwitsch • Husserl • Luckmann • Max • Methoden • Methodenliteratur • Peter L. • Phänomenologie • phänomenologische Ethnografie • phänomenologische Wissenssoziologie • Qualitative Sozialforschung • Rezeption • Rezeptionsanalyse • Rosenthal • Schütz • Sozialphänomenologie • sozialwissenschaftliche Hermeneutik • Thomas • Verstehende Soziologie • Weber • Wissenssoziologie
ISBN-10 3-7445-0751-3 / 3744507513
ISBN-13 978-3-7445-0751-6 / 9783744507516
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