Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung -  Liane Simon,  Jürgen Kühl

Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
164 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-034432-7 (ISBN)
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Das Buch widmet sich zwei zentralen Querschnittsthemen in der Frühförderung: der Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen und den Herausforderungen, die sich durch das Inklusionsparadigma ergeben. Im ersten Teil wird gezeigt, wie die Anwendung der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als gemeinsame Sprache für alle Fachleute und die Familien den Verständigungsprozess unterstützen kann. Der zweite Teil erörtert, wie mit der Familienorientierung im Grundverständnis der interdisziplinären Frühförderung die Voraussetzung von Inklusion schon angelegt ist. Der Inklusionsgedanke bestätigt und stärkt das Grundkonzept der interdisziplinären Frühförderung, weil er auf der Familienebene die Grundlage für die Teilhabe an einer inklusiven Gesellschaft schafft.

Prof. Dr. Liane Simon ist Professorin für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg. Prof. Dr. med. Jürgen Kühl, ehem. Vorsitzender und stellvertr. Vorsitzender Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung, VIFF e.V., ehem. Vorstandsmitglied European Association on Early Intervention, EURLYAID

Prof. Dr. Liane Simon ist Professorin für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg. Prof. Dr. med. Jürgen Kühl, ehem. Vorsitzender und stellvertr. Vorsitzender Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung, VIFF e.V., ehem. Vorstandsmitglied European Association on Early Intervention, EURLYAID

Inklusion – Konzeptionelle Öffnung der Interdisziplinären Frühförderung?


Jürgen Kühl


»Die Art und Weise, in der Erwachsene mit Unterschieden umgehen, gibt Kindern Informationen über gesellschaftliche Machtverhältnisse und Diskriminierungsprozesse« (Daniela Kobelt-Neuhaus, 2012, 312).

Einführung


»Inklusion« – ein Schlagwort bei Eltern, in Fachkreisen, in der Presse und in der Öffentlichkeit.

Der konzeptionelle Hintergrund für »Inklusion« ist das im Dezember 2006 von den Vereinten Nationen verabschiedete »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen « (UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities – RPD), in deutscher Sprache kurz als »Behindertenrechtskonvention« oder UN-BRK bezeichnet. Deren Leitmotiv »Inklusion« ist eine ethische Haltung, die den bisherigen gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen radikal in Frage stellt. Danach ist »die Normalität durch eine Heterogenität und Diversität bestimmt« (Sohns, 2010, 91). Die Frühförderung, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat, enthält auch Anteile aus dem System Frühpädagogik. Die Frühförderung, interdisziplinär organisiert, ist verantwortlich für die koordinierte Förderung, Therapie und soziale Unterstützung von Kindern mit Entwicklungsbeeinträchtigungen (von der Geburt bis zur Einschulung) und ihren Familien in ihrem Lebensumfeld. Im Rahmen der Implementierung der Inklusion wird sie langfristig den exkludierenden Charakter als »Sondereinrichtung« hinter sich lassen im Sinne der »natürlichen Vielfalt« aller Kinder. Das stellt einen fundamentalen kulturellen Wandel dar und zugleich eine Abkehr von bisherigen Konzepten von Integration. Der damit verbundene Anspruch ist allgemeingültig, aber bisher weit entfernt von einer gelebten Realität.

Mit der Verabschiedung der UN-BKR wurde am »Deutschen Institut für Menschenrechte« eine Monitoringstelle eingerichtet, die 10 Jahre – 2019 – nach Inkrafttreten des Gesetzes einen Bericht über die bisherige Umsetzung erstellt hat: »Wer Inklusion will, sucht neue Wege«. In diesem Bericht kann man unter Stichworten Informationen abrufen. Das Wort »Frühförderung« kommt nicht vor. Das Wort »Kindergarten« einmal im Kontext von Sondereinrichtungen. Kinder werden erst in Zusammenhang mit schulischer Bildung in den Bericht einbezogen (Institut für Menschenrechte, 2019). Zur frühen Kindheit sind keine Informationen zu finden. Dem steht im Artikel 2b der BRK ausdrücklich gegenüber »die Förderung einer respektvollen Einstellung gegenüber den Rechten von Menschen mit Behinderungen auf allen Ebenen des Bildungssystems, auch bei allen Kindern von früher Kindheit an« (Hervorhebung J.K.).

Diese Tatsache erstaunt, als ein ausführliches Kapitel des Berichtes der Monitoringstelle dem Bereich Bildung gewidmet ist. Im Gremium bilden 7 Juristinnen und Juristen von 11 Personen die überwiegende Mehrheit. Warum ist vorschulische Bildung komplett ausgeblendet? Beginnt die frühe Kindheit rechtlich erst mit dem Schuleintritt? Auch eine beteiligte Sonderschullehrerin scheint den frühkindlichen Bildungsbereich nicht zu vertreten. Es ist unumstrittener Konsens, dass sich die BRK an alle Menschen von der Geburt bis zum Lebensende richtet. Alle im Zusammenhang mit dem Thema »Behinderung« in Deutschland geltenden Gesetze werden (durchaus mit Hindernissen) auch auf Kinder jeden Alters angewandt. Warum werden Kinder von 0 Jahren bis zur Einschulung von der Monitoringstelle nicht einmal erwähnt?

Das passt so gar nicht in die öffentliche Diskussion, in der zunehmend die Bedeutung und die Qualität frühkindlicher Bildung zum Thema wurden. Außerdem verweisen Fachleute unterschiedlichster Professionen auf die hohe Bedeutung der frühen Lebensjahre im Rahmen der Gesamtentwicklung. Inklusion in die Gesellschaft beginnt nicht in der Schule! Inklusion beginnt für alle Kinder in der Schwangerschaft bzw. nach der Geburt. Die Interdisziplinäre Frühförderung hat den Auftrag, frühzeitig inklusive Entwicklungsprozesse bei einer Bedrohung der kindlichen Entwicklung zu fördern.

Wie weit die Realität der Umsetzung der Konvention bezogen auf Kinder von 0 bis 3 Jahren entfernt ist, macht 2019 ein Appell unterschiedlicher Fachverbände und freier Wohlfahrtsverbände deutlich. Es geht dabei um die unübersichtlichen Zuständigkeiten zwischen dem Bildungs-, dem Gesundheits- und dem Sozialbereich, und das wiederum auf den unterschiedlichen Ebenen (Bundesregierung, Landesregierung, obere Verwaltungsbehörden und kommunale Verwaltungen). Der Appell wurde durch die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin veröffentlicht. »So ist zum Beispiel in jeder Hinsicht inakzeptabel, dass das Sozialrecht den jeweiligen IQ-Wert von Kindern und Jugendlichen zum prägenden Merkmal erhebt, weil sich danach die behördliche Zuständigkeit entscheidet« (Appell, 2019, 447). »Aufgrund der hierdurch entstehenden Zuständigkeitsstreitigkeiten werden viele Kinder und Jugendliche und Familien nicht nur zwischen den Behörden hin und her geschoben, erhalten keine, verspätet oder nur unzureichende Hilfen« (ebenda, 448).

Wie begründet diese Forderung nach Klarheit ist, wurde während der letzten 20 Jahre deutlich. Das SGB IX wurde im Juli 2001 verabschiedet und ist in unterschiedlicher Weise sehr verzögert und oft unzureichend umgesetzt worden. Es wurde 2 Jahre später durch die Frühförderverordnung (FrühV) ergänzt und 2016 in das Bundesteilhabegesetz integriert (siehe Kap. 8.1).

Trotz dieser oben beschriebenen »Nichtexistenz« der Interdisziplinären Frühförderung hat sich im Arbeitsbereich selbst bei der Umsetzung der BRK eine lebhafte Diskussion entfaltet, die vorwärtsweisend ist

1         Verortung von Inklusion für die Interdisziplinäre Frühförderung


Inklusion wird für die Interdisziplinäre Frühförderung als Anlass für Veränderungen von bisherigen Arbeitskonzepten und Arbeitsbedingungen angesehen. Es geht dabei um die Frage, wie die beiden unterschiedlichen Systeme Frühförderung und Frühpädagogik zusammengeführt werden können.

In den allgemeinen Diskussionen um Inklusion im frühen Kindesalter scheinen weniger die Kinder selbst, ihre Familien und ihre Lebenssituationen, sondern die Institutionen, die Arbeitskonzepte und Arbeitsbedingungen im Vordergrund zu stehen. Wie werden sich diese durch Vorgaben der Konvention verändern? Dazu heißt es, »alle geeigneten Maßnahmen einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen zur Änderung oder Aufhebung bestehender Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken zu treffen, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen darstellen« (Allgemeine Verpflichtungen a. und b.). In der Interdisziplinären Frühförderung beschäftigt sich die Diskussion aus gutem Grund stärker mit der Sorge um den Erhalt der erreichten Qualitätsstandards u. a. der Interdisziplinarität und der Familienorientierung (vgl. Speck, 2012, 46-49).

Es ist unstrittig, dass die fachlichen Kompetenzen der Interdisziplinären Frühförderung weiter zur Verfügung stehen müssen, sowohl für Kinder als auch für die Bedürfnisse ihrer Familien. Bisher sind die Interdisziplinären Frühförderstellen und die Sozialpädiatrischen Zentren sowie einige andere spezialisierte Institutionen die »Kompetenzzentren«. Wie werden sie diese Kompetenzen in Zukunft einbringen können?

Der Bereich der frühen Förderung allgemein, der frühen Therapie und Familienbegleitung ist in Bewegung. Einerseits wird das Recht auf einen Krippenplatz für Kinder ab dem Alter von 1 Jahr intensiver in Anspruch genommen und damit werden etliche Kinder mit einem Förder- oder Therapiebedarf früher erkannt. Andererseits kommen Kinder, die in der Interdisziplinären Frühförderung begleitet wurden und werden, jetzt zunehmend in jüngerem Alter in Krippen oder Kindergärten. Daraus ergeben sich zwangsläufig Überschneidungen von bisher eher getrennten Arbeitsfeldern. Die Inklusive Frühpädagogik gilt als »Ermöglichungsraum für alle Kinder« (Klein, Ferdinand 2016, 109), aber in Krippen oder Kindergärten ist dann meistens die Expertise für die Weiterführung der Frühförderung im Kita-Alltag, insbesondere deren...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2023
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Andreas Seidel, Hans Weiß
Zusatzinfo 3 Abb.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Frühe Hilfen • Frühförderung • Pädagogik
ISBN-10 3-17-034432-3 / 3170344323
ISBN-13 978-3-17-034432-7 / 9783170344327
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