Migration in Deutschland - soziologisch erklärt -  Nausikaa Schirilla

Migration in Deutschland - soziologisch erklärt (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
146 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-040478-6 (ISBN)
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Dieses Lehrbuch bereitet grundlegende Themen zur Migration in Deutschland soziologisch auf und liefert so das Wissen, das Studierende aller sozialwissenschaftlicher Fächer für die Seminar- und Prüfungsvorbereitung benötigen. Es bietet zudem eine Orientierung für alle, die in pädagogischen und sozialen Berufen mit Migration zu tun haben. Zunächst werden klassische Theorien der Migrationssoziologie erklärt und ausgewählte soziostrukturelle Daten eingeordnet. Anschließend werden Migrationstheorien und der Begriff der Transnationalität erörtert. Weitere Kapitel behandeln mit Migration verbundene Themen wie soziale Ungleichheit, Diskriminierung, Rassismus, Familie und Gender. Abschließend wird der aktuelle fachliche Diskurs über postmigrantische und postkoloniale Perspektiven vorgestellt. Jedes Kapitel schließt mit Fallbeispielen, Hinweisen zur weiteren Recherche und ausgewählten Literaturtipps sowie relevanten Prüfungsfragen.

Prof. Dr. Nausikaa Schirilla lehrt an der Katholischen Hochschule Freiburg Soziale Arbeit, Migration und Interkulturelle Kompetenz.

Prof. Dr. Nausikaa Schirilla lehrt an der Katholischen Hochschule Freiburg Soziale Arbeit, Migration und Interkulturelle Kompetenz.

2 Kultur, Diversität, Intersektionalität


Fragen der Kultur und vermeintlicher unterschiedlicher kultureller Werte werden oft als Grundproblem von Einwanderung dargestellt. Dabei wird einerseits die Befürchtung geschildert, Einwanderung von Menschen aus als fremd wahrgenommenen, insbesondere muslimisch geprägten Gesellschaften würden die kulturelle Identität der Einwanderungsländer in Frage stellen (Walzer 2012) und damit zur Erosion sozialen Zusammenhalts beitragen. Andererseits wird oft gemutmaßt, die Anpassung an vorgeblich fremdkulturelle Werte stelle für Zuwander*innen eine große, oft nicht zu bewältigende Herausforderung dar und impliziere für sie Loyalitätskonflikte und Identitätsprobleme, sowohl individuell als intergenerationell (Miller 2012). Phänomene wie ethnische Segregation, Bildungsbenachteiligung, unterschiedliche Partizipationsformen in der Gesellschaft werden gerne mit Bezügen zu Kultur erklärt. Als Gegeninstrument und somit Voraussetzung in der pädagogischen Arbeit mit Migrant*innen gilt infolgedessen auch der Erwerb kulturbezogener Kompetenz, vor allem Kultursensibilität und Interkulturelle Kompetenz für pädagogische Fachkräfte.

Diese Denkmuster setzen einen statischen und homogenen Kulturbegriff voraus, der in der Tat lange die verschiedensten Disziplinen geprägt hat. Der Kulturbegriff ist aber schon seit Jahrzehnten massiv in Bewegung geraten – vor allem angeregt durch den Poststrukturalismus und die Cultural Studies (Hall 1996a, 1997). Kultur wird hier eher als prozesshaft, heterogen und verwoben mit anderen Ebenen thematisiert. So setzte sich beispielsweise der Soziologe Andreas Wimmer mit dem Thema Kulturbegriff theoretisch und empirisch auseinander. In der Studie »Kultur als Prozess« (Wimmer 2005), die hier exemplarisch erwähnt wird, kritisiert Wimmer den traditionellen, bedeutungsorientierten und homogenen Kulturbegriff der Ethnologie, diskutiert aber auch die vielen poststrukturalistischen Ersatzversionen und liefert ein eigenes Modell von Kultur. Er begreift Kultur als Aushandeln von Bedeutungen. Dieses Modell basiert auf einer individuellen und kognitiven wie auch gesellschaftlichen Dimension, nämlich einem System habitueller Dispositionen bewusster Subjekte. Dem korrespondiert auf einer gesellschaftlichen Ebene die – freilich nicht abschließend beschreibbare – Dimension der kollektiven Repräsentationen. In diesen Dimensionen situiert Wimmer wiederum Akteure, die Prozesse des Aushandelns und der Kompromissfindung aktiv vollziehen und damit Veränderungen in den erwähnten Dimensionen bewirken. Wimmer charakterisiert sein Modell so:

»Wollen wir das bisher Gesagte auf eine Kurzformel bringen, so wäre Kultur als ein offener und reversibler Prozess des Aushandelns von Bedeutungen zu definieren, der kognitiv kompetente Akteure in unterschiedlichen Interessen zueinander in Beziehung setzt und bei einer Kompromissbildung zur sozialen Abschließung und entsprechenden kulturellen Grenzziehung führt« (Wimmer 2005: 41).

Dieses Modell oder, wie Wimmer selbst sagt, Theorem des kulturellen Kompromisses buchstabiert Wimmer an verschiedenen Beispielen und auf verschiedenen Ebenen mit empirischem Material durch, so zum Thema Globalisierung, Migration, Nationalstaat oder binationale Beziehungen.

Soziologisch betrachtet implizieren die in den Medien, Alltagsdiskursen und teilweise auch wissenschaftlich kursierenden homogenen Kulturbegriffe Schwachstellen: Ein hermeneutisch geprägtes Verständnis von Kultur als geschlossener Welt kann nicht zur Erklärung kultureller Vielfalt und kultureller Distanz beitragen. Auch kann ein homogener Kulturbegriff kulturelle Wandlungsprozesse nicht erklären. Mit rein auf Diskursivität bezogenen Konzepte oder einer neo-institutionellen Erklärung von Kultur stoßen Wimmer zufolge wiederum Versuche einer Konzeptualisierung sozialer Prozesse im Kontext von kulturellem Wandel an Grenzen. Diesen Ansätzen setzt Wimmer ein Konzept von Kultur als Aushandlungsprozess entgegen, um »diese vier Problematiken zu überwinden, ohne in die Gefilde des radikalen Konstruktivismus oder des ökonomischen Rationalismus zu geraten« (ebenda: 17). Infolgedessen entfaltet Wimmer ein Konzept der kulturellen Schemata, um kulturelle Veränderungsprozesse zu diskutieren. So weist er die Diskontinuität und Vielgestaltigkeit von Veränderungsprozessen in der Globalisierung nach und geht auf einer theoretischen Ebene zur Frage der Macht über, um dann wieder über ethnographische Studien und Analysen schweizerischer binationaler Ehen die Mikroanalyse aufzugreifen. In unserem Kontext ist es wichtig hervorzuheben, dass eine Reflexion auf Kulturbegriffe nicht nur theoretische Rahmungen enthält, sondern auch neue Zugänge zur Empirie ermöglicht und kulturelle Interaktionen und Mischungen anders erforschen kann.

Kultur und gesellschaftliche Machtverhältnisse


Festzuhalten ist, dass kulturelle Unterschiedlichkeiten nicht essentialistisch zu verstehen und nicht mit radikaler Andersheit gleichzusetzen sind. Kulturen müssen als in sich vielfältig und heterogen begriffen werden und intrakulturelle Unterschiede sind hervorzuheben. Die Dimension der Offenheit des Kulturellen und deren Unabgrenzbarkeit hängen auch mit den vielfältigen intrakulturellen Differenzierungen zusammen.

Wie aus den Ausführungen von Wimmer hervorgeht, ist für das Verständnis migrationsbedingter Entwicklungen neben einem flexiblen Kulturbegriff auch eine Konzeptualisierung von Machtverhältnissen relevant. Kulturen sind nicht ohne Machtbeziehungen denkbar, sowohl in inter- als auch in intrakultureller Perspektive. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien widmen sich daher der Frage, wie mit dem Rekurs auf Kultur gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse geschaffen, legitimiert, aufrechterhalten und reproduziert werden (vgl. beispielsweise Gogolin & Krüger-Potratz 2006).

Kulturelle Aspekte in einer Migrationsgesellschaft können nicht ohne machttheoretische Ansätze thematisiert werden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass das Verhältnis von Kultur und Macht erkenntnistheoretisch und wissenschaftstheoretisch weitergedacht werden muss und möchte in diesem Kontext noch einmal auf die Arbeiten von Stuart Hall und die Cultural Studies eingehen.

Die Cultural Studies entstanden in den 1980er Jahren am »Birmingham Institute für Contemporary Cultural Studies« um im Kontext einer marxistisch geprägten Soziologie kulturelle Phänomene insbesondere der Popkultur und anderer Massenkulturphänomene zu erforschen sowie die Unterschiede von Hoch- und Massenkultur in Frage zu stellen, ohne einerseits einen kruden Materialismus zu reproduzieren und andererseits die kulturellen Formationen losgelöst zu gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu analysieren. Insbesondere bei Stuart Hall als dem wichtigsten Vertreter der Cultural Studies ging dieser Zugang eine Synthese mit Rassismuskritik und Rassismustheorien ein. Hall macht deutlich, dass – auch im Kontext von Migration und Kolonialismus – Kultur niemals außerhalb von Machtverhältnissen zu betrachten ist, aber auch nicht auf diese zu reduzieren ist (Hall 1996a).

Hall (ebenda: 271 ff) entfaltet das Studium des Kulturellen in einem diskurskritischen Zugang über den Begriff der Repräsentation. Unter Repräsentation versteht Hall (1997: 15) den Prozess, in dem Bedeutungen erzeugt und ausgetauscht werden, dieser ist sprachlich organisiert. Repräsentationen stellen einerseits ein vielfältig gemischtes Ensemble geteilter oder teilbarer Elemente dar, weil sie ja intersubjektiv kommuniziert werden; andererseits stehen die Träger von Bedeutung, nämlich die Zeichen, in keinem festen Verhältnis zu ihrem Bezeichneten, sie sind frei flottierend und werden in der sozialen Praxis festgelegt. Da Bedeutungen nicht dem Bezeichneten inhärent sind und Bedeutung nicht abhängig ist von einem geschlossenen System, das Dingen Bedeutung verleiht, werden Bedeutungen in verschiedenen Praktiken erzeugt oder zugeschrieben. Hier wiederum werden Machtverhältnisse sichtbar.

Diese Analyse begreift der Soziologe Hall als Adaption textkritischer Methoden aus den poststrukturalistisch geprägten Literaturwissenschaften; Hall nutzt gleichsam die poststrukturalistischen Ansätze, um Kultur als offen, frei flottierend zu begreifen und trotzdem Macht und Hierarchien zu denken. Daher benennt Hall hier auch die Grenzen des rein textkritischen Zugangs (ebenda: 271). Während einerseits dem Kulturellen etwas »Dezentriertes« anhafte, etwas, das sich dem Versuch entzieht, Kultur direkt und unmittelbar mit anderen Strukturen zu verbinden, fließen andere, also gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit materielle Strukturen in das Kulturelle immer wieder ein und können aus Cultural Studies nicht ausgeschlossen werden. Macht und Politik wirken innerhalb diskursiver Strukturen und sind als solche zu analysieren; aber Macht ist auch mehr, und vor allem ist sie nicht allein durch ihre diskurskritische Analyse zu verändern.

Konsequenterweise sagt Hall (ebenda), dass es nicht ausreiche, bei der Ebene der Bedeutungen zu verbleiben. So geht es in der Analyse von Repräsentationen um gesellschaftliche Systeme wie auch um Wissen und Wissenssysteme. Wissen steht...

Erscheint lt. Verlag 11.1.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Bildung • Diskriminierung • Ethnizität • Familie • Gender • Integration • Intersektionalität • Kultur • Migrationsprozesse • postkoloniale Perspektive • Segregation • Soziale Ungleichheit • Transnationalität
ISBN-10 3-17-040478-4 / 3170404784
ISBN-13 978-3-17-040478-6 / 9783170404786
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