Schätze finden statt Fehler suchen (eBook)

Herausforderndes Verhalten verstehen in Kita, Krippe und Kindertagespflege
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
112 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-82880-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schätze finden statt Fehler suchen -  Anja Cantzler
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Herausforderndes Verhalten bringt pädagogische Fachkräfte an ihre Grenzen. Die Kinder selbst aber wollen nicht provozieren. Hinter ihrem gezeigten Verhalten steckt ein Bedürfnis, eine Not, ein guter Grund. Diesen zu ergründen und dabei ruhig und klar uzu bleiben, macht die Professionalität pädagogischer Fachkräfte aus. 12 Beispiele aus dem Kita-Alltag werden reflektiert, Hintergrundwissen vermittelt und Handlungsalternativen aufgezeigt.

Anja Cantzler ist Diplom-Sozialpädagogin, Coach (DGfC), Supervisorin (DGSv) und freiberufliche Referentin in der Weiterbildung von Erzieher:innen sowie Autorin.

Anja Cantzler ist Diplom-Sozialpädagogion, Coach (DGfC), Supervisorin (DGSv) und freiberufliche Referentin in der Weiterbildung von Erzieher(inne)n sowie Autorin.

2 „Hör auf zu beißen, du bist doch kein Hund“


Kommunikation will gelernt sein

Der angemessene Umgang mit beißenden Kindern in der Kindergruppe gehört mit zu den schwierigsten und herausforderndsten Aufgaben von Fachkräften in der Kleinkindpädagogik. Insbesondere, wenn es zu sichtbaren Verletzungen gekommen ist und das Beißen häufiger auftritt, wird es schnell zu einem schwerwiegenden Problem für alle Beteiligten. Denn das Beißen wird vollkommen anders wahrgenommen und bewertet als andere Formen der Grenzverletzung.

Oftmals geraten Fachkräfte zusätzlich unter Druck, weil auch Eltern schnell beunruhigt sind, wenn ihr Kind gebissen worden ist. Nicht selten kommt es bei diesem Thema zu schwerwiegenden Krisen in der Zusammenarbeit, die sich auf die gesamte Elternschaft auswirken können. Dabei gerät dann das Kind mit seinen tatsächlichen Absichten und Bedürfnissen vollkommen aus dem Blick.

Das Beispiel


Die fast zweijährige Leni läuft seit einigen Tagen einem anderen, etwa gleichaltrigen Kind hinterher. Und wenn sie es dann erreicht hat, beißt sie zu. Auch in anderen Situationen fällt Leni verstärkt dadurch auf, dass sie andere Kinder beißt. Mal geschieht das im Spiel mit anderen Kindern und ein anderes Mal in der Garderobe beim Umziehen.

Gerade noch spielte Leni friedlich mit Tim im Bau- und Konstruktionsbereich, da kommt es zwischen den Kindern zum Streit um ein Spielzeug. Tim nimmt Leni das Spielzeugauto weg. Bevor Fachkraft Christina es verhindern kann, beißt Leni zu. Tim beginnt zu weinen, und auf seinem Arm zeichnet sich ein geröteter frischer Bissabdruck ab.

Um Schlimmeres zu verhindern, eilt Christina zu den Kindern. An Leni gewandt sagt sie: „Warum beißt du denn schon wieder? Du bist doch kein Hund. Außerdem weißt du doch, dass das Tim wehtut.“ Die Fachkraft ist verzweifelt. Sie versteht nicht, warum Leni, die sonst ein sehr fröhliches und aufgeschlossenes Kind ist, in letzter Zeit häufiger ein solch aggressives Verhalten an den Tag legt und andere Kinder verletzt. Mittlerweile beschweren sich auch die Eltern über Leni und fordern, dass Christina doch bitte dafür sorgen solle, dass Leni mit diesem anormalen Verhalten aufhört.

Was ist hier passiert?


In der Spielsituation mit Tim verteidigt Leni ihr Spielzeugauto. Mit knapp zwei Jahren fehlt ihr vermutlich noch die sprachliche Möglichkeit, um Tim zu verdeutlichen, dass sie das Spielzeug gerne haben möchte, und sie greift deswegen auf eine naheliegende körperliche Aktion zurück.

Beißen beginnt oft da, wo Sprache endet.

Leni, die sich in anderen Situationen überdurchschnittlich gut sprachlich mitteilen kann, befindet sich vermutlich gerade in ihrem Notfallprogramm. Sie wird von ihren Gefühlen so überrollt, dass es ihr im Moment nur darum geht, sich gegen Tim zur Wehr zu setzen. Leni befindet sich im Angriffsmodus, und ohne in irgendeiner Form darüber nachzudenken, beißt sie zu.

Dieses Verhalten trifft bei Christina auf Unverständnis. Die Fachkraft kann überhaupt nicht nachvollziehen, warum Leni gerade in der letzten Zeit öfters durch Beißen auffällt. Wie viele andere Erwachsene bewertet Christina dieses Beißen als etwas Tierisches und damit nicht zum menschlichen Verhalten zugehörig; deshalb nutzt sie auch im Beispiel den Vergleich mit dem Hund.

Im Allgemeinen wird das Beißen aus Erwachsenensicht oftmals als eine erheblich schlimmere Grenzverletzung wahrgenommen als andere Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Hauen, Schubsen oder An-den-Haarenziehen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass eine Bisswunde häufig lange sichtbar bleibt und damit immer wieder an den Vorfall erinnert. Hinzu kommt das Wissen darum, wie infektiös der menschliche Biss sein kann.

Schnell manifestieren sich darüber hinaus die unterschiedlichsten Ängste der Eltern. Die Eltern des beißenden Kindes machen sich Sorgen, ob ihr Kind normal ist. Im schlimmsten Fall trauen sie sich nicht mehr, mit ihrem Kind irgendwo hinzugehen. Die Eltern des gebissenen Kindes stellen infrage, ob ihr Kind in der Kinderbetreuung noch sicher ist, und fordern von den Fachkräften, besser aufzupassen. Zusätzlich sorgen sich die anderen Eltern, ob ihr Kind zukünftig auch betroffen sein könnte und möchten wissen, wie die Fachkräfte dies zu verhindern wissen. Hier kommen die vielfältigsten Emotionen der Erwachsenen ins Spiel. Auch Christina wird in unserem Beispiel bereits durch besorgte Eltern unter Druck gesetzt. Und dabei gerät Leni mit ihren guten Gründen für das Beißen völlig in den Hintergrund.

Die Theory of Mind beschreibt die Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen anderer hineinversetzen und es logisch erschließen zu können. Die Theory of Mind ist ein wichtiger Baustein in der Entwicklung von Kindern und trägt zum Verständnis für das Verhalten eines Kindes grundlegend bei (vgl. Stangl 2022).

Das Verhalten Lenis wird lediglich verurteilt, und sie erhält die Aufforderung, das Beißen zu unterlassen. Leni fehlt eine adäquate Handlungsalternative. Die Botschaft, dass Beißen nicht erwünscht ist, eröffnet ihr für ähnliche Situationen keine andere Möglichkeit, wie sie handeln könnte. Die Folge davon ist in vielen Fällen, dass das unerwünschte Verhalten fortgesetzt wird und sich nicht selten eher verstärkt.

Christina sagt in unserem Beispiel zu Leni, sie müsse doch wissen, dass Tim das Beißen wehtut. Dabei lässt sie den Entwicklungsstand der knapp zweijährigen Leni außer Acht. Um zu wissen, dass der Biss Tim wehtut, müsste Leni sich in Tim hineinversetzen können. In ihrem Alter ist dies aufgrund der kognitiven Reife jedoch noch nicht möglich. Auf Grundlage der Theory of Mind sind dieser Perspektivwechsel und das damit verbundene Einfühlungsvermögen den meisten Kindern frühestens ab dem Alter von drei bis vier Jahren im Ansatz möglich. Erst dann wäre Leni eventuell in der Lage, sich soweit in Tim einzufühlen, um zu wissen, dass das, was sie gerade tut, bei Tim Schmerz auslöst. Dass ihr Biss Tim verletzt, war demzufolge gar nicht von Leni beabsichtigt.

Beißen als Kommunikationsmittel

Beißen – aber auch Kratzen, Hauen, Schubsen – dient Kindern, die sich mitten in der Sprachentwicklung befinden, als Kommunikationsmittel. Ihnen fehlen die konkreten Worte und die Sprachkompetenz, ihre Bedürfnisse zu verbalisieren, ohne körperlich zu werden. Sie bringen mit körperlichen Mitteln zum Ausdruck, was sie gerade beschäftigt und wobei sie noch Begleitung und Unterstützung brauchen. Dabei kann das Beißen für die vielfältigsten Botschaften stehen – zum Beispiel:

Ich mag dich und möchte Nähe und Kontakt zu dir.

Lass mich in Ruhe!

Geh weg!

Gib mir das wieder.

Ich bin wütend auf dich.

Komm mir nicht zu nah!

Es liegt bei den Fachkräften, diese Botschaft zu erkennen und als Teil der altersentsprechenden Kommunikation zu verstehen.

Was könnte Christina stattdessen tun?


Erst forschen und dann handeln.

Als erstes sollte Christina sich vor Augen führen, dass das Beißen ein sogenanntes Reifungsphänomen (vgl. Gutknecht 2015, S. 11) ist. Das bedeutet, dass es sich hierbei zunächst einmal um ein völlig alters- und entwicklungsentsprechendes Verhalten für eine Zweijährige handelt. Da Leni sonst sehr fröhlich und aufgeschlossen ist und nicht zu anderen aggressiven Verhaltensweisen neigt, ist eher auszuschließen, dass das Beißen in ihrem Temperament begründet ist oder es sich um eine Verhaltensstörung handelt. Damit kann Christina Druck aus der ganzen Geschichte nehmen – zum einen für Leni und zum anderen auch für sich selbst.

Definitionen

Reifungsphänomene sind Verhaltensweisen, die in einem bestimmten Alter auftreten und dann wieder verschwinden.

Entwicklungsvarianten werden als auffällig wahrgenommen und möglicherweise mit dem besonderen Temperament des Kindes begründet.

Verhaltensstörungen sind in Intensität, Häufigkeit und Dauer gravierend auffällige Verhaltensweisen, sodass die weitere Entwicklung des Kindes dadurch beeinträchtigt ist.

(vgl. Gutknecht 2015)

Es gibt viele Gründe, warum jüngere Kinder beißen. Zunächst einmal ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Mund eine zentrale Rolle im Kleinkindalter spielt. Kinder entdecken ihre Welt mit dem Mund: Bausteine, Krümel auf dem Fußboden, einfach alles, was in ihr Blickfeld gerät. Sie saugen und essen mit dem Mund. Und sie küssen mit dem Mund, was bei kleinen Kindern, die gerade ihre Zähne bekommen, auch mal schmerzhaft vonstattengehen kann. Jüngere Kinder haben noch keine...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Vorschulpädagogik
Schlagworte achtsame Kommunikation • Aggression • Bedürfnisorientierung • Gewaltfreie Kommunikation • Herausforderndes Verhalten • Kinderrechte • Kindertagespflege • Kindeswohl • Kindliche Entwicklung • Kita • Krippe • Pädagogische Fachkraft • Resilienz • Resilienzförderung • Selbstregulation • Verstehen
ISBN-10 3-451-82880-4 / 3451828804
ISBN-13 978-3-451-82880-5 / 9783451828805
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