Jüdisch jetzt! (eBook)

Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Gütersloher Verlagshaus
978-3-641-29246-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jüdisch jetzt! -  Andrea von Treuenfeld
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Lebensbilder jüdischer Gegenwart
Die meisten Nichtjuden in Deutschland sind noch nie - oder zumindest nicht bewusst - einem jüdischen Menschen begegnet sind. Dementsprechend halten sich in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft oftmals uralte Klischees oder bestimmen undifferenzierte Neuzuschreibungen das Bild. Wie aber sieht das jüdische Leben im heutigen Deutschland wirklich aus? Wie fühlen sich Jüdinnen und Juden in diesem Land? Und was bedeutet eigentlich jüdisch, wenn man sie selbst danach fragt?

In Gesprächen mit der Autorin haben Noam Brusilovsky, Sveta Kundish, Garry Fischmann, Lena Gorelik, Dr. Sergey Lagodinsky, Shelly Kupferberg, Daniel Grossmann, Anna Staroselski, Daniel Kahn, Helene Shani Braun, Prof. Michael Barenboim, Deborah Hartmann, Jonathan Kalmanovich (Ben Salomo), Anna Nero, Philipp Peyman Engel, Nelly Kranz, Dr. Roman Salyutov, Sharon Ryba-Kahn, Leon Kahane, Gila Baumöhl, Zsolt Balla, Dr. Anastassia Pletoukhina, Leonard Kaminski, Renée Röske, Monty Ott und Sharon Suliman (Sharon) Einblicke in ihre Biografie gewährt.

Ein überraschendes und informatives Buch, das die Vielfalt jüdischer Identitäten und jüdischen Lebens in Deutschland sichtbar macht und die Stimmen einer multikulturell geprägten Generation zu Gehör bringt, die - eine ganz neue Selbstverständlichkeit verkörpernd - in ihrer Diversität gesehen werden will.

  • Geschichten einer neuen Generation
  • Berichte von Heimat und Fremdheit, Erwartung und Mut
  • Umfangreiche Hintergrundinformationen zu jüdischer Kultur und jüdischem Leben heute in Deutschland


Andrea von Treuenfeld, hat in Münster Publizistik und Germanistik studiert und nach einem Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin für namhafte Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien. Im Gütersloher Verlagshaus erschienen bereits ihre Bücher 'In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel', 'Zurück in das Land, das uns töten wollte', 'Erben des Holocaust', 'Israel. Momente seiner Biografie' und 'Leben mit Auschwitz'.

Wenn ich mich vorstelle und sage, dass ich als Kantorin amtiere, ist die erste Frage sehr häufig: »Darf eine Frau das überhaupt?« In Israel habe ich einmal dem Taxifahrer erzählt, was ich beruflich mache. Da hat er angehalten und gesagt: »Raus aus meinem Auto!« Und in einer deutschen Gemeinde, in der ich als Kantorin zu Gast war, hat ein Mann zu mir gesagt: »Wie können Sie sich trauen, bei der Bima zu stehen und eine Thora anzufassen? Sie sind doch unrein, Sie sind eine Frau. Sie haben einmal im Monat Menstruation, da ist es verboten, einen Mann anzufassen, die Thora anzufassen, überhaupt in die Synagoge zu gehen.« – »Hören Sie mir gut zu«, habe ich ihm geantwortet. »Wegen dieser Unreinheit sind Sie auf die Welt gekommen, wegen dieser Unreinheit gibt es Menschen und Leben. L‘dor va‘dor – von Generation zu Generation geht das jüdische Leben weiter wegen dieser Unreinheit.«

Es gibt überall Diskriminierungen gegen Frauen, das wissen wir sehr gut. Aber persönlich war ich ihnen bis dahin niemals begegnet. Das waren Geschichten von Freundinnen oder in den Medien. Heute bin ich sehr dankbar für diese Erfahrung. Immer wieder muss ich mich mit diesem Thema auseinandersetzen und das hat mir die Wut und die Kraft gegeben, weiterzugehen. Ich habe begriffen: Ich muss besser sein als meine männlichen Kollegen. So einfach ist das. Ich habe hart gearbeitet in den fünf Jahren meiner Ausbildung, immer mit dem Gedanken: Wenn ich einen Job suche, darf kein Zweifel an mir bestehen.

Aber es verändert sich etwas in Deutschland. Bis Anfang 2000 waren die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland orthodox, inzwischen gibt es mehr liberale. Und auch ein paar Kantorinnen. Trotzdem, es ist für Männer leichter. Denn wenn ich mich vorstelle, ist man eben entweder überrascht oder will etwas Beleidigendes sagen. Ich musste noch nach meinem Abschluss ein ganzes Jahr auf meine Investitur warten und bin dann 2018 Kantorin geworden.

Am Ende des ersten Jahres meiner Ausbildung habe ich ein Praktikum in der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig gemacht. Sie hatte schon 1995 die erste Rabbinerin nach dem Krieg angestellt, das war ein großer Skandal. Es hatte also schon eine Vorbeterin gegeben, aber eine Kantorin? Die Gemeinde war ein bisschen verzweifelt, dass ich da war, dennoch war es sofort eine gute Beziehung. Und ich bin einfach geblieben und habe ein paar Jahre später die Leitung der Liturgie übernommen. Heute bin ich vor allem eine Vorsängerin, lese die Psalmen, die Gebete aus der Thora und dem Prophetenbuch mit verschiedenen Melodien. Und außerdem bin ich Sozialarbeiterin, begleite Leute bei Hochzeiten und Begräbnissen, besuche Kranke, bereite aber auch Jugendliche auf ihre Bar Mizwa oder Bat Mizwa vor und unterrichte sie. Sehr viele Aufgaben eines Rabbiners oder einer Rabbinerin überschneiden sich in diesem Bereich mit denen des Kantors oder der Kantorin. Es geht nicht nur um schöne Musik und Gebete. Man organisiert das Gemeindeleben, ist Seelsorgerin und arbeitet mit Menschen.

Aber jüdisch war nicht immer ein Thema. Ich bin in Tschernobyl geboren und war vier Jahre alt, als die Tragödie, der Reaktorunfall, passierte. Wir mussten fliehen, waren kurz in Lettland und sind dann zurückgegangen in die Westukraine. Mein Vater war Offizier, kein typischer Beruf für jüdische Leute, denn es gab viel Diskriminierung. Deswegen waren jüdische Bräuche kein Thema und kein Teil vom Alltag. Bei den Großeltern war das ein wenig anders, aber Religion spielte auch bei ihnen keine Rolle, obwohl beide sehr orthodox aufgewachsen sind. Einer meiner Urgroßväter war Kantor und Vorbeter. Nach der Revolution, als es öffentlich nicht mehr erlaubt war, hat er heimlich zu Hause gebetet und auch Minjan versammelt. Und zu Pessach hat man heimlich Mazzot gebacken. Aber die Familie hat das mit der Zeit hinter sich gelassen, weil es zu gefährlich war, insbesondere mit kleinen Kindern, die im Kindergarten, in der Schule etwas hätten erzählen können.

Aber Jiddisch und jiddische Lieder als letzter Bestandteil dieser Tradition waren immer im Hintergrund der Familie. Die Großeltern haben untereinander nur Jiddisch gesprochen, es ist die Muttersprache meiner Mama. Ich stamme also nicht nur aus einer Familie von Jiddisch Sprechenden, sondern auch aus einer sehr musikalischen Familie. Meine Großeltern waren unglaublich gute Volksliedsänger, und meine Mama und ihr Bruder sind Musiker geworden. Als es in den Neunzigerjahren wieder erlaubt war, jüdisch zu sein und sich jüdische Gemeinden bildeten und es plötzlich jüdische Theaterstücke und Purim-Spiele und Veranstaltungen mit Musik gab, war meine Mama eine der ersten Künstlerinnen in der Westukraine, die jiddische Lieder sang. Sie war auch meine erste Musiklehrerin. Deshalb hat sie mich sehr unterstützt, als ich im Gymnasium in Israel – 1995 sind wir nach Holon in die Nähe von Tel Aviv gezogen – Jiddisch als zweite Fremdsprache gewählt habe. Es war ein Kunst-Gymnasium und ich habe klassische Musik gelernt, Piano und Gesang. Aber auch in Israel ist Jiddisch nicht populär und nicht beliebt. Es ist sowieso sehr schwer, in Israel von der Musik zu leben, noch dazu von jiddischer, von Klezmer-Musik. Ich habe mich dann auf klassische Musik fokussiert. Ich hatte einen Traum und wusste, diesen Traum kann ich nur irgendwo anders erfüllen. 2007 bin ich deshalb nach Wien gegangen.

Ich konnte kein Deutsch, aber Jiddisch hat mir sehr geholfen. Und dann habe ich auf der Straße ein Plakat mit Werbung für ein Konzert eines jüdischen Chors gesehen. Ich habe recherchiert und gesehen, sie singen viele jiddische Lieder. Da habe ich mir gedacht: Sveta, du hast keine Freunde hier und momentan auch kein Hobby, vielleicht wäre es nicht schlecht, du singst jiddische Lieder und hast Spaß. Der Dirigent hat nicht erwartet, dass ich eine professionelle Sängerin bin – ich war schon Opernsängerin, auf dem Weg zur Opernbühne – und auch nicht, dass ich so viel Erfahrung mit Hebräisch und mit Jiddisch habe. Er hat mich sofort eingeladen, ein paar Tage später mit ihm nach Moskau zu fliegen zu einem Klezmer-Festival.

Und dann war ich in Moskau auf diesem Klez-Fest – und es war der Schock meines Lebens. Ich konnte nicht glauben, dass ich nach so vielen Jahren des Recherchierens und Übens keine Ahnung hatte von dieser Jiddisch-Welt. Keine Ahnung hatte von dieser internationalen Community. Heute sind diese Leute meine besten Freunde, mit ihnen habe ich meine Hauptprojekte. Diese Atmosphäre und die Musik und die Kreativität und die Lebensfreude – das war wirklich eine Offenbarung. Innerhalb von zwei, drei Tagen hat sich die Vorstellung von meinem beruflichen Leben um 180 Grad gedreht.

Später, als ich schon jiddische Lieder sang, habe ich Musikaufnahmen von meinem Großvater gefunden. Es gibt das schöne jiddische Wort »jiches« – das ist etwas, was du von deiner Familie bekommst. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt viele Sachen vergessen, hatte gedacht, ich singe diese Lieder, weil es mir passt. Aber da habe ich gemerkt, dass ich einfach das weitermache, was die frühere Generation schon gemacht hat. Und je tiefer ich in das jiddische Lied und die jiddische Welt und Kultur gegangen bin, umso mehr habe ich verstanden.

Ich hatte keine Ahnung von Religion, auch nach dreizehn Jahren nicht, die ich in Israel verbracht habe. Ich habe immer von Religion Abstand gehalten. Irgendwann aber habe ich gemerkt, ich kann das jiddische Lied nicht verstehen, ohne mich mit Religion auszukennen. Man kann nicht bloß Lieder lernen, man muss die Geschichte verstehen, die Tradition, die Küche, die Tänze – und eben auch die Religion. Religion und religiöse Begriffe sind ein Teil der Sprache und der Lieder. Ohne den Kontext zu kennen, kann man nicht wirklich begreifen, um was es geht. Die Kantoren-Musik und die liturgische jüdische Musik waren immer meine Leidenschaft. Seit ich achtzehn war, habe ich Aufnahmen gehört, aber nicht sehr viel verstanden, weil die Sprache ja auch so anders ist, es ist kein modernes Hebräisch. Ich habe es gehört als schöne Musikstücke, schöne Stimmen, schöne Melodien, aber nicht gewusst, was für ein Teil der Liturgie das ist oder zu welchem Zweck und zu welchem Feiertag man dieses oder jenes Gebet singt.

Im Sommer 2011 war ich beim Yiddish Summer in Weimar. Dort hörte ich von der Kantoren-Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam und dachte: Das ist genau, was ich will. Ich hatte schon sehr viele Freunde in Berlin, und die jiddische Szene und die Klezmer-Gemeinde ist dort ganz prächtig. Während meines Studiums hatte ich schon das starke Gefühl gehabt, dass beide Musikrichtungen sich beeinflussen, einander bereichern. Und ich brauche beide. Auch wenn es sehr viele Konflikte schafft, denn das Religiöse und das Künstlerische, sie gehen nicht Hand in Hand. Es ist sehr schwer, eine Balance, einen Kompromiss zu finden. Denn ich bin so frei in Gedanken und so liberal – aber wenn ich auf meine eigene Religion schaue, dann finde ich sehr viele Sachen, die ich nicht akzeptieren will. Es ist dumm und diskriminierend, wenn zum Beispiel koscherer Wein nur von jüdischen Personen gemacht sein kann, sonst ist er unkoscher. Und wenn eine nichtjüdische Person die Flasche öffnet, wird der Wein dadurch auch unkoscher. Also bitte! Als Künstlerin und als moderner Mensch und als jemand, der nicht mit Religion aufgewachsen ist, muss ich mit einer Lupe kommen und sagen: »Das ja, das nein.« Das ist schon eine andere Welt, und es ist oft für mich unglaublich schwierig. Aber ich sage: »Okay, das ist die Tradition meiner Vorfahren und deshalb mache ich es.« Das hilft mir, sehr vieles auch zu akzeptieren.

Als ich damals meinen Eltern gesagt habe, ich will eine Kantoren-Ausbildung anfangen, waren sie ein bisschen nervös....

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Zusatzinfo Mit 26 s/w Porträtfotos
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • Antisemitismus • Auschwitz • Biografie • Biographien • eBooks • Engelmann • Erben des Holocaust • Freitagnacht Jews • Heimat • ich bin jude • Ich war das Mädchen aus Auschwitz • Juden heute • Juden in Deutschland • Judentum • Jüdische Kultur • Jüdisches Leben • Jüdisches Leben in Deutschland • Jüdisch heute • Junge Juden in Deutschland • Kosher • Leben mit Auschwitz • Mein deutsch jüdisches Leben • Miteinander reden • Neuerscheinung • Reiner Engelmann • Schächten • Tova Friedman • Verschwörungstheorien • Versuche, dein Leben zu machen • Wahre Geschichten • Was ist jüdisch
ISBN-10 3-641-29246-8 / 3641292468
ISBN-13 978-3-641-29246-1 / 9783641292461
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