Earth to Moon (eBook)
416 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29969-9 (ISBN)
Für Moon Unit Zappa war die Aufarbeitung eines so traumatisierenden Lebens, das von den Launen des kreativen Genies, dem Kult der Popkultur, dem Kalkül der Berühmtheit und von zerbrechender Liebe geprägt war, sehr oft aufreibend und verletzend, mitunter erhellend. Wenn Moon Unit Zappa vom über das Aufwachsen im überlebensgroßen Schatten von Frank Zappa erzählt, entführt sie die Leser*innen in eine mythische Zeit: in die sexuell freie, wilde Welt des Topanga Canyon, dem Hippie-Himmel Kaliforniens der 1970er Jahre. Doch sie erzählt auch von sich selbst als junger Frau, die es schafft aus dem Schatten und dieser Vergangenheit herauszutreten und davon zu zehren, statt davon verzehrt zu werden.
Moon Unit findet für jeden Lebensabschnitt einen eigenen erzählerischen Stil, eine Musik, einen Ton - konstant bleibt eine junge verletzliche Frau, die versucht, mit den verwirrenden, sich ständig verändernden Ansprüchen ihrer Familie und an sich selbst zurechtzukommen. Moon ist es auch, die es schafft, all diese Widersprüche durch Anmut, Bescheidenheit und Akzeptanz ihrer Traumata aufzulösen. Es ist ihr tiefer Sinn für Humor und inneren Frieden, der sie ankert, mit dem sie immer wieder zu sich selbst zurückfinden kann, wenn sie verloren ist. »Earth to Moon« ist eine kreative, farbenfrohe und wunderbare Geschichte darüber, die Erwartungen an sich selbst abzustreifen und die eigene Vergangenheit anzunehmen.
Moon Unit Zappa wurde 1967 als älteste Tochter des Musikers Frank Zappa geboren. Sie ist Schauspielerin, Musikerin, Autorin, Künstlerin, Podcasterin, stolze Mutter und lebt an der amerikanischen Westküste. Ihr erstes Buch »America, the Beautiful« erschien 2001.
Kapitel 2
Dweezil
Ich liebe das Wort »skedaddle«. Es bedeutet so viel wie »Reißaus nehmen« oder »sich abseilen«. Es enthält die Silbe »Dad«, und ich wünsche mir oft, zusammen mit Frank die Flucht ergreifen zu können, aber dann bleibe ich doch in einer Straße, die nach einem toten Präsidenten benannt ist, wo ich leben und aufwachsen muss.
1969, im Jahr der Mondlandung, haben wir uns als Familie häuslich eingerichtet, Baby Nummer zwei ist unterwegs, und Gail hat bereits ein paar Geschichten über mich gesammelt, die sie stolz herumerzählt. Zum Beispiel die Situation, als sie barfuß und mit mir auf der Hüfte zum Canyon Country Store trampte und ich, noch keine zwei, uns beschützte, indem ich zu dem flirtenden Widerling, der sich ihr näherte, sagte: »Verpiss dich, Perversling«. Und dann war da noch das eine Mal, als ich, nicht viel älter, nackt auf dem Holzfußboden im Wohnzimmer spielte. Bei diesem Anlass soll ich meine Schamlippen gespreizt und einem männlichen Besucher zugerufen haben: »Jerry, guck mal, mein Pipi.« Er sah kurz hin und wandte den Blick ab. »JERRY!«, forderte ich. »GUCK. MAL. MEIN. PIPI!«
»Moon wusste eben, dass er schwul war und sich seiner Angst vor Vaginas stellen musste«, sagte Gail begeistert, wenn sie von dieser Begegnung erzählte.
Gail verkündet mir, ich sei Empathin und meine Magenschmerzen, die mysteriösen Unpässlichkeiten und Gefühlsausbrüche »gehörten zu anderen Menschen«. Sie eröffnet mir, dass ich, genau wie sie, übersinnliche Kräfte besitze und die Fähigkeit habe, die Geheimnisse anderer Menschen zu entdecken sowie die Gegenwart von Geistern besonders dann zu spüren, wenn sie von innerer Unruhe geplagt werden. Bei zahlreichen Gelegenheiten sagt sie mir, dass ich sie vor meiner Geburt als Mutter »auserkoren« habe und dass man, »je jünger man ist, desto mehr von Gott und dem Leben versteht und sich desto besser an all seine vergangenen Leben erinnert.«
Sooft ich Gail das sagen höre, begreife ich doch nicht so ganz die Rechnung, dass man »alles versteht«, wenn man am jüngsten ist. Mein Verstand schmilzt wie Kerzenwachs; ein ganzes Leben auf einer geraden Linie biegt sich zu einem Kreis.
Die Sache mit Gott ist auch deshalb verwirrend, weil Gail und Frank sagen, dass sie deshalb nicht an Gott glauben und Atheisten sind, weil sie beide katholisch erzogen wurden. Jetzt sind sie »heidnische Absurdisten«, was meiner Meinung nach bedeutet, dass sie jeden Tag neu entscheiden, nach welchen seltsamen Regeln sie ihren Ideen Ausdruck verleihen, aber dass Eichen und Druiden auch eine Rolle spielen. Gail sagt auch, dass ich nicht in die Kirche gehen darf, es mir aber erlaubt ist, im Fernsehen Die fliegende Nonne anzuschauen. In Gails Gebetskartensammlung darf ich ebenfalls stöbern. Seit sie einen Artikel darüber gelesen hat, dass es sich beim Zustand der Geistesabwesenheit um eine Form der Genialität handelt, ist sie überzeugt, dass ich ein Wunderkind bin. »Earth to Moon«, sagt sie liebevoll, um mich in ihre Welt zurückzuholen.
Ich entwickle nicht nur außergewöhnliche »Fähigkeiten«, sondern erhalte auch alle Arten von außerirdischen Geheiminformationen, und zwar durch Osmose, durch das Belauschen von Gesprächen oder direkt von Gail. Sie liebt es zu reden, und ich liebe es, ihr zuzuhören und jede ihrer Bewegungen zu beobachten, wenn sie kocht oder putzt oder raucht oder telefoniert oder Auto fährt oder für reinschneiende Freaks Tee kocht oder näht oder Bilder für mich malt. Ich gebe gut Acht, wenn sie über spontane Selbstentzündung, Area 51, UFOs, Schwarze Löcher und darüber spricht, wie man freundliche Außerirdische von den »grauen Wesen« unterscheiden kann. Sie redet auch über Karma, Stonehenge, Wünschelruten, Telepathie, Reflexzonenmassage, den Fluch des Pharao und der Mumie, Bigfoot, Loch Ness, die Hexenprozesse von Salem, den Unterschied zwischen guten und bösen Hexen und darüber, wie man weiße Magie oder schwarze anwendet. Was all das betrifft, stelle ich Gail nicht infrage, denn ich liebe sie und sie liebt mich. Auch niemand sonst stellt sie infrage. Diese Dinge werden einfach als die reine Wahrheit angesehen und gelten bei uns zu Hause als ganz normal.
Wenn Gail nicht gerade ihre Lamaze-Atmung praktiziert oder Kette raucht, nutzen wir das Ouija-Brett, um mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Gail ermutigt mich auch zur »Außersinnlichen Wahrnehmung« und sogenannten »Fernwahrnehmung«, bei der es darum geht, mich die Vergangenheit, die Zukunft oder auch etwas Verborgenes oder weit Entferntes sehen zu lassen; sie gibt mir dazu Karten, die mit Dreiecken, Quadraten, Kreisen und Wellenlinien verziert sind. Spielerisch üben wir Senden und Empfangen. Außerdem spielen wir ein Gedächtnisspiel namens »Konzentration« mit ganz normalen Hoyle-Spielkarten. Und dabei erleben wir sozusagen aus der ersten Reihe, wie mein Vater der hausherrlichen Freude frönt, Besucherinnen die Titten von der Brust zu gieren, anstatt Gail beim Hausputz zu helfen und den Staub vom Boden zu saugen.
Ich liebe die besondere Aufmerksamkeit, die Gail mir widmet, und ihren okkulten Hausunterricht, aber einiges von dem, was Frank und Gail tun und sagen – und auch die Leute und Dinge, die sie im Haus haben –, macht mir Angst. Die Bilder von Orgien an den Wänden zum Beispiel oder wenn Gail wütend ist. Dann auch das Stöhnen, das aus dem anderen Zimmer kommt, oder die Geschichte von dem Verrückten, der mit einem Gewehr in der Log Cabin auftauchte. Offenbar schlug mein geistesgegenwärtiger Vater vor, dass alle nach draußen gehen und das, was sie in den Händen hielten, in einen Brunnen auf dem Grundstück werfen sollten. Es funktionierte; der Kerl warf seine Waffe hinein. Dann sagte Frank, dass alle fortgehen müssten, damit er zurück ins Studio könne. Auch das funktionierte.
Als Gails Mutter Tutu aus Hawaii eintrifft und Gail das Atmen regelmäßiger übt und Frank ihr etwas mehr Aufmerksamkeit schenkt, etwa indem er sich näher neben sie stellt oder öfter ihren Arm berührt, wenn sie auf Möbelstücke klettert oder von ihnen hinuntersteigt, weiß ich, dass das Baby bald kommt.
Ich behalte recht. Am 5. September 1969 wird mein Bruder Dweezil in Hollywood, Kalifornien geboren. Sein vollständiger Name lautet Ian Donald Calvin Euclid Dweezil Zappa. Die Leute dachten, mein Name sei seltsam, aber bei seinem drehen sie erst recht durch. Ich kann es kaum glauben, als ich höre, wie Frank und Gail erzählen, dass die Krankenschwestern in der Klinik über den Namen auf seiner Geburtsurkunde so empört waren, dass sie sich weigerten, Gail nach der Entbindung meines Bruders das Essen zu servieren. Er heißt Dweezil, weil er die gleichen Baby-Zehennägel hat wie Gail, die Frank »Dweezil-Zehen« getauft hat, weil die Nagelbetten an ihren kleinen Zehen so winzig sind. Seine anderen Namen stammen von den Jungs aus der Band meines Vaters. In ein paar Jahren wird mein Bruder um eine Namensänderung in Dweezil Zappa bitten und seinen Wunsch erfüllt bekommen.
Ich liebe meinen stillen engelsgleichen kleinen Bruder über alles. Ich liebe seine Locken, seine grünen Augen, seine langen Wimpern, und ich liebe es, ihm dabei zuzusehen, wie er an seinen Füßen knabbert, wenn Gail ihn in der Küchenspüle badet. Ich liebe seine vollen rosa Lippen und seinen Sabber. Ich bin dankbar dafür, dass er vorübergehend etwas Ruhe in unser geschäftiges Haus bringt. Alle außer mir scheinen begeistert, als Gail verrät, dass sie den besten Orgasmus ihres Lebens hatte, als sie Dweezil aus der Vagina presste. Ich weiß zwar nicht genau, was sie damit meint, aber es macht mich ganz kribbelig.
Als Dweezil zwei Jahre alt wird, habe ich mich bereits mit einer ganzen Reihe von Komplikationen herumzuschlagen. Auf den Tischen liegen Robert-Crumb-Comics, Omni-Magazine, leere Tee- und Kaffeetassen sowie Aschenbecher mit den ausgedrückten Winstons meines Vaters und den Marlboro Reds meiner Mutter. Ein mannigfaltiges Aufgebot geiler Träumer, Spinner, Sonderlinge und Schleimer tummelt sich bei uns in schnorrender Dauerrotation. Ich trage zur Sicherheit immer noch meinen Schnuller um den Hals, weil ich nie weiß, wem zu trauen ist und wem nicht, wen mein Vater bumst und wen nicht. Im Haus riecht es nach geifernden Männern und Frauen, die auf unserem Küchentresen tanzen. Unser Garten ist voller Oleander, Efeu, Fingerhirse, Hundescheiße, den Überresten alter Milchtüten und Wachs, das nach Nelken duftet. Ich mag es nicht, wenn sich Fremde in unserem Garten tummeln, Kerzen ziehen oder sich nackt in der Nähe meiner Spielsachen herumtreiben. Meine Füße fangen gerade erst an zu heilen, nachdem ich sie mir in Gegenwart von zwei Ladies, die auf mich achtgeben sollten, an einem Heizstrahler verbrannt habe.
Verstehen Sie mich nicht falsch, es gibt auch schöne Zeiten. Wenn mein Vater zu Hause ist, umarmt mich Gail ganz fest, und während Frank komponiert und seine Musik bearbeitet, malt er mir Käfer auf die Nase. Oder er kitzelt mein Kinn mit seinen starken, behänden Gitarrenfingern und lässt mich auf seinem Knie wippen, damit es sich witzig anhört, wenn ich spreche oder singe. Ich liebe es, wenn mein Vater 45er-Platten mit gruseligen Geräuschen wie von knarrenden Böden, rasselnden Ketten, seltsamem Lachen, heulendem Wind oder polterndem Donner abspielt. Ich beachte, wie sanft und präzise er die Nadel in die Rillen der Platte setzt. Ich schaue auf den Tonarm des Plattenspielers und höre zu, wie mein Vater den Geschwindigkeitsregler einstellt, um mir zu demonstrieren, wie unterschiedlich ein und...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Übersetzer | Iris Hansen, Teja Schwaner, Karolin Viseneber, Daniel Müller |
Zusatzinfo | mit Bildteil |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Earth to Moon |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2023 • 2024 • Abwesenheit des Vaters • aus dem schatten treten • Ausstieg Sekte • Beziehungstrauma • Biografie • Biografie starke Frau • Biographien • Bücher über starke Frauen • Eat Pray Love • eBooks • emotionale Vernachlässigung • Erziehungstrauma • Familienhölle • Familientrauma • Im Schatten des Vaters • Innerer Frieden • Kunst • Laissez-faire Folgen • Laissez-faire Trauma • Musik • Mut machen • Neuerscheinung • posttraumatisch • Sektenaussteiger • Selbstbefreiung • Selbstermächtigung • Sexualisierte Gewalt • Sexuelle Gewalt • Starke Frau • Traumabewältigung • Traumatisierte Kinder • Vater Tochter Beziehung • Vernachlässigung • Zwangsheirat |
ISBN-10 | 3-641-29969-1 / 3641299691 |
ISBN-13 | 978-3-641-29969-9 / 9783641299699 |
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