Agent Sonja (eBook)

Kommunistin, Mutter, Topspionin | Vom unglaublichen, aber wahren Leben der Spionin Ursula Kuczynski (alias Ruth Werner), die den Lauf der Weltgeschichte veränderte
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
469 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77492-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Agent Sonja -  Ben Macintyre
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Ursula Kuczynski wuchs in einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Berlin-Schlachtensee auf. In New York bewegte sie sich in den besten Kreisen. Sie hatte Affären, war mehrmals verheiratet und hatte Kinder. Doch ihre große, wahre Liebe galt dem Kommunismus. Ihm diente sie als Saboteurin, Bombenbauerin und Geheimagentin. Ihr Codename: »Agent Sonja«.

1923, Ursula ist gerade einmal sechzehn Jahre alt, wird sie bei einer 1.-Mai-Demonstration von einem Polizisten niedergeknüppelt. Es ist nur ein Grund mehr für sie, der Kommunistischen Partei beizutreten und deren Ideen in die Welt hinauszutragen. Mit Anfang zwanzig begleitet sie ihren ersten Ehemann nach Shanghai, wo sie Richard Sorge kennenlernt. Der Meisterspion wirbt sie für den russischen Geheimdienst an und sorgt dafür, dass sie in Moskau eine Ausbildung zur Agentin absolviert. Von dort aus geht es für sie in die Mandschurei und anschließend in die Schweiz, wo sie ein Bombenattentat auf Hitler plant. In den 50er Jahren wird sie in der DDR unter dem Namen Ruth Werner zur Erfolgsautorin.
Den größten Dienst erweist sie der Sowjetunion aber, indem sie zwischen 1943 und 1949 Informationen über das britische Atomprogramm an Moskau weitergibt - eine der gefährlichsten Spionageaktionen des 20. Jahrhunderts.

Spannend und temporeich wie einen Thriller erzählt der Spionageexperte und Bestseller-Autor Ben Macintyre das unglaubliche, aber wahre Leben einer Spionin, die den Lauf der Weltgeschichte maßgeblich verändert hat.



Ben Macintyre ist millionenfacher Bestsellerautor von zahlreichen Spionageb&uuml;chern. Er ist Kolumnist und stellvertretender Redakteur bei der <em>Times</em> und hat als Korrespondent der Zeitung in New York, Paris und Washington gearbeitet. Er moderiert regelm&auml;&szlig;ig BBC-Serien, die auf seinen hochgelobten B&uuml;chern basieren.

1
Steppenpferd


Am 1. Mai 1924 schlug ein Berliner Polizist mit seinem Schlagstock auf den Rücken einer Sechzehnjährigen ein und trug so dazu bei, eine Revolutionärin zu schmieden.

Bereits seit Stunden waren Tausende Berliner während des Mai-Aufmarschs zum jährlichen Feiertag der Arbeiterbewegung durch die Straßen gezogen. Unter ihnen viele Kommunisten mit einem großen Anteil an Jugendlichen. Sie trugen rote Nelken, auf ihren Transparenten stand »Hände weg von Sowjetrussland«, und sie sangen kommunistische Lieder: »Wir sind die Schmiede; der Zukunft Schlüssel mit unseren Hämmern schmieden wir.« Politische Demonstrationen waren für diesen Tag verboten worden, und missmutig dreinschauende Polizisten säumten die Straßen. Eine Handvoll Braunhemden versammelte sich an einer Straßenecke, um spöttisch zu johlen. Es kam zu Handgreiflichkeiten. Eine Flasche segelte durch die Luft. Die Kommunisten sangen lauter.

In vorderster Reihe der kommunistischen Jugendgruppe marschierte ein schlankes Mädchen mit einer Ballonmütze, das zwei Wochen später siebzehn werden würde. Für Ursula Kuczynski war es die erste Demonstration, und ihre Augen strahlten vor Aufregung, während sie ihr Transparent schwang und die Hymne »Auf, auf zum Kampf« schmetterte. Man nannte sie »Steppenpferd«, und während sie singend mitmarschierte, vollführte sie einen kleinen Freudentanz.

Der Umzug bog gerade in die Mittelstraße ein, als die Polizei zuschlug. »Plötzlich übertönte vorn im Zug das grelle Quietschen eines zu schnell anhaltenden Wagens den Gesang. Schreie, Pfiffe und Protestrufe folgten. […] Jugendliche wurden aufs Pflaster geworfen und dann zum Lastwagen geschleppt.« In all diesem Getümmel landete Ursula der Länge nach auf dem Bürgersteig. Als sie aufschaute, ragte ein stämmiger Polizist über ihr auf. Schweißflecken unter den Achseln seiner grünen Uniform. Der Mann grinste, hob seinen Schlagstock und ließ ihn mit voller Kraft auf ihr Kreuz niederkrachen.

Ihre erste Reaktion war rasende Wut, gefolgt von den heftigsten Schmerzen, die sie je erlebt hatte. Sie »bekam keine Luft und begann vergebens zu rennen«. Ein junger befreundeter Kommunist namens Gabo Lewin zog sie in einen Hauseingang. »In Ordnung«, sagte er, während er ihren Rücken an der Stelle massierte, wo der Schlagstock sie erwischt hatte. »Gleich wird dir besser sein.« Ursulas Gruppe hatte sich aufgelöst. Einige waren verhaftet worden. Aber mehrere tausend weitere Demonstranten näherten sich auf der breiten Straße. Gabo half Ursula auf die Füße und gab ihr eines der am Boden liegenden Protestschilder. »Ich blieb auf der Demonstration«, schrieb sie später, »nicht ahnend, daß dies eine Entscheidung fürs Leben war.«

Ursulas Mutter war außer sich vor Wut, als ihre Tochter an jenem Abend nach Hause geschwankt kam, mit zerrissener Kleidung und einem violetten Streifen quer über dem Rücken.

Berta Kuczynski wollte wissen, wie Ursula dazu gekommen war, »Arm in Arm mit einer Bande betrunkener Halbwüchsiger johlend durch die Straßen« zu ziehen.

»Wir waren nicht betrunken, und gegrölt haben wir auch nicht«, entgegnete Ursula.

»Wer sind diese Halbwüchsigen?«, verlangte Berta zu wissen. »Was soll denn das, was hast du mit dieser Gesellschaft zu tun?«

»Diese Gesellschaft ist die Ortsgruppe der Kommunistischen Jugend. Ich bin dort Mitglied.«

Berta schickte Ursula direkt ins Arbeitszimmer ihres Vaters.

»Ich respektiere jedes Menschen Ansicht und auch deinen Wunsch, die verschiedenen Weltanschauungen kennenzulernen«, erklärte Robert Kuczynski seiner Tochter. »Ich lasse dir jede Freiheit. Aber ein siebzehnjähriges Mädchen ist noch nicht reif genug, sich bereits politisch festzulegen. Ich bitte dich dringend, gib deine Mitgliedskarte zurück und warte ein paar Jahre mit einer Entscheidung.«

Ursula hatte bereits eine Antwort parat. »Wenn Siebzehnjährige alt genug sind, zu arbeiten und sich ausbeuten zu lassen, sind sie auch alt genug, gegen die Ausbeutung zu kämpfen. […] Und gerade dadurch bin ich Kommunistin geworden.«

Robert Kuczynski sympathisierte mit den Kommunisten und bewunderte den Enthusiasmus seiner Tochter, doch Ursula konnte eindeutig etwas schwierig sein. Die Kuczynskis mochten zwar den Kampf der Arbeiterklasse unterstützen, aber das umfasste nicht den Wunsch, dass ihre Tochter mit ihr verkehrte.

Dieser politische Radikalismus sei doch lediglich eine Eintagsfliege, sagte Robert zu Ursula. »In fünf Jahren wirst du darüber lächeln.«

»In fünf Jahren«, konterte sie, »will ich ein doppelt so guter Kommunist sein wie heute.«

Die Familie Kuczynski war vermögend, einflussreich und zufrieden, und wie jeder andere jüdische Haushalt in Berlin hatte man nicht die geringste Ahnung, dass ihre Welt innerhalb weniger Jahre von Krieg, Revolution und systematischem Völkermord weggefegt werden sollte. 1924 lebten in Berlin etwa 160 ‌000 Juden, das war knapp ein Drittel der in Deutschland lebenden jüdischen Bevölkerung.

Robert René Kuczynski war Deutschlands renommiertester Bevölkerungswissenschaftler, ein Pionier der Verwendung von Zahlenmaterial zur Formulierung von Sozialpolitik. Seine Methode zur Berechnung des Bevölkerungswachstums – die Nettoreproduktionsrate/Fertilitätsrate nach Kuczynski – findet noch heute Anwendung. Roberts Vater, ein erfolgreicher Bankier und Präsident der Berliner Börse, vererbte seinem Sohn die Leidenschaft für Bücher sowie das nötige Geld, sich ihr auch hingeben zu können. Als freundlicher, zerstreuter Gelehrter und stolzer Nachkomme von sechs Generationen Intellektueller besaß Kuczynski die größte Privatbibliothek Deutschlands.

1903 heiratete Robert mit Berta Gradenwitz, der Tochter eines Bauunternehmers, einen weiteren Spross der deutsch-jüdischen Wirtschafts- und Kulturelite. Berta war Künstlerin, intelligent und eher faul. Ursulas früheste Erinnerungen an ihre Mutter bestanden aus Farben und Texturen: »Alles schimmert braun und gold. Der Samt, ihre Haare … ihre Augen.« Berta war keine übermäßig talentierte Malerin, was ihr jedoch niemand gesagt hatte, weswegen sie glücklich vor sich hinpinselte, und sie war ihrem Mann eine hingebungsvolle Ehefrau, wobei sie allerdings die tägliche, ermüdende Arbeit der Kinderbetreuung ihren Angestellten überließ. Die kosmopolitischen und säkularen Kuczynskis verstanden sich vor allem als Deutsche und erst mit großem Abstand als Juden. Zu Hause sprachen sie häufig Englisch oder Französisch.

Die Kuczynskis kannten jeden, der in den linksintellektuellen Kreisen Berlins Rang und Namen hatte: den prominenten Sozialisten Karl Liebknecht, die Künstler Käthe Kollwitz und Max Liebermann, den Industriellen und späteren Außenminister Walther Rathenau. Albert Einstein war einer von Roberts engsten Freunden. An jedem beliebigen Abend versammelte sich eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern, Politikern und Intellektuellen, Juden und Nichtjuden gleichermaßen, um den Esstisch der Kuczynskis. Wo genau Robert in dem verwirrenden politischen Kaleidoskop Deutschlands stand, war ebenso umstritten wie wechselhaft. Seine Ansichten reichten von links der Mitte bis weit links, aber Robert war ein wenig zu sehr von sich selbst eingenommen, als sich durch bloße Etiketten festlegen zu lassen. Wie Rathenau bissig bemerkte: »Kuczynski bildet immer eine Ein-Mann-Partei und stellt sich dann auf deren linken Flügel.« Sechzehn Jahre lang bekleidete er den Posten des Direktors des Statistischen Amtes im Bezirk Berlin-Schöneberg, eine leichte Aufgabe, die ihm viel Zeit ließ, um wissenschaftliche Abhandlungen, Artikel für linksgerichtete Zeitungen zu verfassen und sich an fortschrittlichen sozialen Kampagnen zu beteiligen, insbesondere zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den Elendsvierteln Berlins (die er selbst aufgesucht haben mag oder auch nicht).

Ursula Maria war das zweite der sechs Kinder von Robert und Berta. Das erste, der drei Jahre vor ihr im Jahr 1904 geborene Jürgen, war der einzige Junge in der Familie. Auf Ursula folgten vier Schwestern: Brigitte (1910), Barbara (1913), Sabine (1919) und Renate (1923). Brigitte war Ursulas Lieblingsschwester, die ihr in Alter und politischer Orientierung am nächsten war. Es bestand nie ein Zweifel daran, dass der Sohn im Rang die erste Stelle einnahm: Jürgen...

Erscheint lt. Verlag 30.10.2022
Übersetzer Kathrin Bielfedt, Jürgen Bürger
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2. Weltkrieg • aktuelles Buch • Atomprogramm • bücher neuerscheinungen • DDR • Deckname "Sonja" • Großbritannien • Kommunismus • KPD • Neuerscheinungen • neues Buch • Russischer Geheimdienst • Ruth Werner • Sowjetunion • Spionage • Ursula Beurton • Ursula Hamburger • Ursula Kuczynski
ISBN-10 3-458-77492-0 / 3458774920
ISBN-13 978-3-458-77492-1 / 9783458774921
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