Geosoziologie (eBook)

Die Erde als Raum des Lebens

(Autor)

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2022 | 1., Originalausgabe
657 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76848-8 (ISBN)

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Geosoziologie - Markus Schroer
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Markus Schroer plädiert in seinem neuen Buch für eine umfassende Ausweitung der soziologischen Denkzone angesichts der Herausforderungen des Anthropozäns. Dieses ist nicht bloß der Begriff für ein neues geologisches Zeitalter, sondern steht für eine umfassende Infragestellung des bisherigen Selbstverständnisses des Menschen und seiner bisherigen Auffassung von Natur, Kultur und Gesellschaft. Geosoziologie untersucht unter Rückgriff auf klassische und aktuelle Texte, wie Böden, Steine, Berge, Meere, Pflanzen, Tiere und Menschen in wechselnden Nachbarschafts-, Konkurrenz- und Kooperationsbeziehungen die Erde als Raum des Lebens gestalten.



<p>Markus Schroer ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Philipps-Universität Marburg. Zuletzt erschienen von ihm im Suhrkamp Verlag: <em>Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums</em> (stw 1761) und <em>Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart</em> (hg. zus. mit Stephan Moebius, es 2573).</p>

13Einleitung – Von der Öffnung der Soziologie für die Erforschung des Anthropozäns


Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Diese Diagnose des Schriftstellers Gerhard Zwerenz (1925-2015) in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1973[1]  wird heute wieder gestellt, wenn auch aus ganz anderen Gründen. In seinem Buch Die unbewohnbare Erde stellt sich der Journalist David Wallace-Wells das »Leben nach der Erderwärmung«[2]  vor. Nicht mehr die soziale Kälte, die nach Meinung des Schriftstellers an die Temperaturen auf dem Mond gemahnen, sondern der Klimawandel birgt heute die Gefahr, zumindest große Teile der Erde unbewohnbar zu machen. Höchste Zeit also, sich um sie zu kümmern – auch soziologisch. Obwohl die im Roman behandelte Problematik der rücksichtslosen Häuser- und Grundstücksspekulationen damit keineswegs als obsolet betrachtet werden soll – die physische Überhitzung des Planeten tritt zur sozialen Kälte eher hinzu als diese abzulösen –, geht es im vorliegenden Buch darum, die Soziologie über solche eher traditionellen Themen hinauszuführen und für das neue Zeitalter zu öffnen, das wir auf Vorschlag der Geologen begonnen haben Anthropozän zu nennen.[3]  Angesichts der Herausforderungen, die das Anthropozän beinhaltet, wird darin für eine umfassende Ausweitung der soziologischen Denkzone plädiert. Nötig ist diese schon deshalb, weil es sich beim Anthropozän um weit mehr als nur eine geologische Kategorisierung des gegenwärtigen Erdzeitalters handelt. Vielmehr ist das gesamte Selbstverständnis des Menschen, seine bisherige Auffassung von Natur, Kultur und Gesellschaft und sein bislang gepflegter Umgang mit anderen Lebewesen in Frage gestellt.

14Angesichts einer solch weitreichenden Diagnose setzen schnell die fast schon üblich gewordenen Reflexe ein, der Soziologie eine sträfliche Vernachlässigung bestimmter Kategorien vorzuwerfen, die nunmehr stärkere Berücksichtigung zu finden hätten. Ein neuer turn ist schnell ausgerufen.[4]  Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Auf der einen Seite ist es zwar tatsächlich so, dass die Soziologie in ihrer Geschichte mit einem reichhaltigen Programm an Themen und Problemen gestartet ist, im Laufe ihrer Entwicklung aber ihren Gegenstandsbereich mehr und mehr eingeschränkt und dadurch eine Vielzahl dieser Themen unbearbeitet gelassen hat, die vernachlässigt zu haben ihr heute durchaus zu Recht vorgeworfen wird. So hat sie trotz ihrer frühen Arbeiten etwa zum Film oder zu den Medien beide Themenkomplexe lange nicht weiterverfolgt[5]  und damit das Feld zunehmend für andere Wissenschaften geräumt, die sich auf der Basis der verwaisten Pionierleistungen eine eigene Existenz aufbauen konnten. Ebenso zogen die heute wieder ganz oben auf der Agenda stehenden Themen wie Natur, Umwelt, Tiere und Pflanzen, geologische Formationen und geographische wie klimatische Verhältnisse lange Zeit kaum soziologische Aufmerksamkeit auf sich. Auf der anderen Seite aber bin ich bei den intensiven Grabungen, die ich für dieses Buch vorgenommen habe, auf eine ganze Reihe von soziologischen Arbeiten gestoßen, die sich durchaus mit geographischen Gegebenheiten und den materiellen Grundlagen von Gesellschaften auseinandersetzen, die deren Ausrichtung, Verfassung und Gestalt untersuchen und die Berücksichtigung von nichtmenschlichen Lebensformen wie Pflanzen und Tieren innerhalb der Soziologie für erforderlich halten.[6]  Diese – vor allem auch aus den Anfangstagen der Soziologie stammenden – Arbeiten erweisen sich angesichts der aktuellen theoretischen Vorstöße des 15Posthumanismus,[7]  der Akteur-Netzwerk-Theorie,[8]  des Neomaterialismus[9]  und einer Soziologie des Lebens,[10]  die der vorliegenden Arbeit als theoretische Ausgangspunkte und grundlegende Basis dienen, als überraschend aktuell, auch wenn die jeweilige Behandlung dieser Themenkomplexe und die theoretische Perspektive insgesamt durchaus unterschiedlich ausfallen.

Im Zuge ihrer erfolgreichen Etablierung als universitäres Fach fehlen in der Soziologie die Einlassungen zu Raum, Umwelt, Natur, Pflanzen und Tieren jedoch in zunehmenden Maße, weil sich der Gedanke immer mehr durchsetzt, dass sich der moderne Mensch aus der Umklammerung der physischen Welt erfolgreich befreit habe und sich mit ihr folglich auch nicht länger auseinanderzusetzen brauche, nach dem Motto: Keine Stimme den Besiegten! Leicht erkennbar stoßen wir hier auf einen der Hauptstränge der klassischen Modernisierungserzählung, der von der mithilfe der Technik erzielten Emanzipation von naturräumlichen Verhältnissen handelt, denen vormoderne Gesellschaften noch weitgehend ausgeliefert sind. Angesichts dieser Entwicklung begreifen sich sowohl die moderne Gesellschaft als auch der moderne Mensch als aus den Zusammenhängen der Natur weitestgehend herausgelöst. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, die mit dem schillernden Wort Globalisierung angezeigt wird, wird eine Weltgesellschaft in Aussicht gestellt, die sich mithilfe der Transport- und Kommunikationsmedien in einem solchen Ausmaß aus erdräumlichen Zusammenhängen etabliert hat, dass diese wie die Überbleibsel einer längst überwundenen Epoche erscheinen, die bald vollstän16dig beseitigt sein werden.[11]  Der Mensch wird parallel dazu als ein vor allem geistiges, mobiles Wesen ohne Körper vorgestellt, das sich in seinen Handlungen von klimatischen Verhältnissen, geographischen Gegebenheiten und nachgerade archaisch wirkenden Kategorien wie dem Boden nicht länger einschränken lässt. Nach diesem weit verbreiteten Missverständnis hat sich der Mensch von einem ehemaligen Sklaven der Natur zunehmend zu ihrem Herrscher aufgeschwungen. Seine Emanzipation von den materiellen Gegebenheiten der Erde gipfelt in dem Versuch, seinen Heimatplaneten zu verlassen, um sein Glück auf anderen Planeten zu suchen.[12] 

Es ist exakt diese von der Soziologie wesentlich mitgetragene Vorstellung einer zunehmenden Emanzipation des Menschen aus erdräumlichen Verhältnissen, der in der hier vorgelegten Geosoziologie vehement widersprochen werden soll, da immer deutlicher wird, dass es sich dabei um einen fatalen Irrtum handelt, der sowohl die Gesellschaft als auch die sie beobachtende Soziologie in eine Sackgasse geführt hat. Das Konzept des Anthropozäns hat seine Bedeutung vor allem darin, auf die Erde als Schicksal der Menschen erneut aufmerksam zu machen und in Erinnerung zu rufen, dass sie unser Lebensraum ist, zu dem es – zumindest derzeit und wohl auch noch auf längere Zeit hin – keine Alternative gibt. Obwohl dieser Gedanke nicht gänzlich neu ist, prägt er doch maßgeblich die aktuelle politische Debatte darum, ob und wie sich dieser Lebensraum auf Dauer erhalten lässt.

Trotz der hochproblematischen Entwicklung der Soziologie im Sinne einer sukzessiven Einschränkung ihres Gegenstandsbereichs soll hier jedoch keineswegs eine lineare Geschichte des Vergessens und der Vernachlässigung erzählt werden. Zwar hat sich die Auffassung von Soziologie letztlich durchgesetzt, die sich allein auf das Handeln der Menschen und deren Belange ausrichtet. Einige Fachvertreter:innen scheinen die Zukunft der Soziologie gar in ihrer Reduzierung auf eine Art Umfragewissenschaft zu sehen, die sich mit theoretischen Überlegungen generell nicht länger belasten zu müssen meint.[13]  Immer wieder aber wird im Laufe der Soziologiegeschichte auch Einspruch erhoben gegen eine zu abstrakt werdende Vorstellung von Gesellschaft, so als ob diese gänzlich unabhängig vom physischen Raum und materiellen Gegebenheiten existieren könnte. Eine der Aufgaben des vorliegenden Buches ist es, diese Stimmen wieder zu Wort kommen zu lassen und dabei gerade diejenigen zu versammeln, für die die Berücksichtigung der nichtmenschlichen materiellen Welt innerhalb der Soziologie noch selbstverständlich war. Um die Einsichten zu Umwelt, Natur, Steinen, Pflanzen und Tieren zu erfassen, die die enorme Reichhaltigkeit des Faches unter Beweis stellen, wird es daneben aber immer auch nötig sein, über die inzwischen allzu eng gezogenen Grenzen der Soziologie hinauszugehen und Anthropologie, Geschichte, Geographie und Philosophie...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Anthropozän • gaia • Klimawandel • Latour • neues Buch • STW 2324 • STW2324 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2324
ISBN-10 3-518-76848-4 / 3518768484
ISBN-13 978-3-518-76848-8 / 9783518768488
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