Pericallosa (eBook)
432 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45654-5 (ISBN)
Evelyn Roll, geb. 1952, ist Journalistin und arbeitete seit 1983 für die Süddeutsche Zeitung in verschiedenen Funktionen, zuletzt als leitende Redakteurin. Die Trägerin des Theodor-Wolff-Preises hat legendäre Reportagen für Die Seite Drei und das SZ-Magazin verfasst und die erste grundlegende Biografie über Angela Merkel geschrieben. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin.
Evelyn Roll, geb. 1952, ist Journalistin und arbeitete seit 1983 für die Süddeutsche Zeitung in verschiedenen Funktionen, zuletzt als leitende Redakteurin. Die Trägerin des Theodor-Wolff-Preises hat legendäre Reportagen für Die Seite Drei und das SZ-Magazin verfasst und die erste grundlegende Biografie über Angela Merkel geschrieben. Sie lebt mit ihrem Mann in Berlin.
Der Höllenengel
Ich wusste es schon, bevor ich es wusste. Und auch der Schmerz war wieder da, bevor ich erkannt hatte, warum. Draußen flog gelb-rot-grün-braun und blau der Herbst vorbei mit dreihundert Stundenkilometern. Drinnen am Fensterplatz im Intercity-Express-Sprinter von Nürnberg nach Berlin hatte ich gegen meine Müdigkeit und die hypnotisch einschläfernden Geräusche der Bahn einen unmöglichen ersten Satz noch einmal in den Wettbewerb geschickt mit möglichen ersten Sätzen, die auch überraschend und wahr sind, aber nicht so unsinnig spektakulär für einen Buchanfang.
Ohne Adolf Hitler wäre ich nicht auf der Welt. Mit diesem Satz also wollte ich anfangen, meine Geschichte zu erzählen; und mit dem Mordanschlag auf mich. Ich dachte an meine ersten schnell hingeschriebenen Notizen, mit denen ich versucht hatte, die Kontrolle zurückzugewinnen, das Geschehene als wissenschaftlich erklärbaren statistischen Ausreißer einzuordnen und mich so zu beruhigen. Kontraphobisches Bewältigungsgestammel war das, unbrauchbar verbotenes Zeug, dachte ich. Erzählen über sich selbst in der dritten Person reduziert die neuronale Aktivität in der Amygdala und schafft so die überlebensnotwendige psychologische Distanz zum Trauma. Taugt aber zu sonst gar nichts.
Vielleicht saß ich auch falsch für eine Entscheidung über erste Sätze. Emotionen und Denken eines Reisenden verändern sich, je nachdem, ob er in Fahrtrichtung sitzt oder andersherum. Es hat Wirkung auf ein Gehirn, ob das Ocker-Blutrot-Wechselgrün-Rostbraun-Himmelblaue auf den Gehirnbesitzer zurast mit dreihundert Stundenkilometern oder von ihm weg. Zum ersten Mal ausprobiert und verstanden habe ich das auf der Rückfahrt aus Polen am Ende der weitesten Reise, die ich in meinem Leben unternommen habe. Obwohl Szypłów, Sulęcinek und Radlin, die Dörfer meiner Vorfahren, und auch die kleine Stadt Jarocin, in der mein Vater geboren wurde, nur 350 Kilometer entfernt liegen von meinem sicheren Schreibplatz in Charlottenburg.
Train-Brain-Hack. Auf jeder Bahnreise seit Polen experimentiere ich damit herum, wenn genug freie Plätze sind im Abteil. Zurückschauen in das, was war. Umsetzen. Blick in das, was kommt. Die Sitzrichtung ändert das Fühlen und das Denken.
Bahnfahren geht voran, während der Reisende zurückschaut. Rudern auch. Denken, fühlen und erzählen sowieso. Schreiben funktioniert immer nur vorwärts, auch wenn die Geschichte, die erzählt werden soll, in der Vergangenheit liegt.
Nur noch die alten Eurocityzüge, die sie auf der Strecke Warschau–Berlin einsetzen, haben dieses Rückfenster im letzten Wagen, an das man sich stellen, auf die Zukunft zurasen und den Parallelen der Schienen dabei zusehen kann, wie sie sich im Unendlichen schneiden, im Unendlichen der Vergangenheit. Erinnern ist Rückwärtsdenken. Rückwärtsdenken, das den Menschen, der sich erinnert, voranbringt. Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Kierkegaard.
Es sind dieselben Schienenwege überall in Europa, die gleichen Gleise, die alte Streckenführung, die ewig ähnlich dumpf beruhigenden Bahngeräusche. Raaktacktack. Raaktacktack. Raaktacktack. Was für ein furchtbares Transportmittel die Bahn gewesen ist, als sie Polen überfallen haben. Richtung Osten reisten Soldaten, Waffen, Fahrzeuge, Munition, Verpflegung und Verbandszeug. Ganze Sanitätswaggons bepackt mit Fliegersalz und Göring-Pillen, mit Pervitin, dem Durchhalte-Crystal-Meth für das deutsche Unbesiegbarkeitsgefühl, zur Aktivierung des Tötungswahns, gegen die Erschöpfung, gegen die Angst und zur Senkung aller Hemmschwellen.
Zurück, Richtung Westen ins Deutsche Reich, transportieren die Züge alles, was geraubt und geplündert werden konnte in den überfallenen Städten und Dörfern. Zurück kommen zunächst noch Särge, später nur noch die Hundemarken der toten Soldaten. Oder gar nichts. Zurück reisen von falschen Versprechen gelockte oder mit Gewalt verschleppte Arbeitssklaven. Dann steht im Fahrplan »Gesellschaftssonderzug zur Beförderung von Arbeitern«. Zurück kommen Lazarettzüge. Verwundete, die Entsetzliches erlebt, getan und gesehen haben. Schwerverletzte, Amputierte, die dem Reichsbahn-Oberzugschaffner, der mein Großvater ist, Grausames erzählen in ihrem Morphiumfieber, wimmernd wie Kinder. Zurück kommen Fronturlauber, äußerlich heil gebliebene, schwer Traumatisierte, die ohne messbares Fieber Unbegreifliches berichten in kurzen, höhnischen oder langen, bitteren Sätzen. Partisanenabknallen. Massenerschießungen. Gaskammern in den Lagern. Massaker und Gewaltorgien ohne jede Soldatenehre. Einer Frau haben sie die Vulva herausgeschnitten und an ein Scheunentor genagelt, während die Frau schrie, zusah und verblutete.
Großvater weiß längst alles. Und will nichts wissen. Und darf nichts wissen. Und weiß nichts. War er verzweifelt und einsam mit seinem Wissen? Er hat ja schon lange nicht mehr an den Nationalsozialismus geglaubt, als die Großmutter noch für Adolf Hitler glühte, sagen die, die ihn gekannt haben. Seine Augen haben geleuchtet, wenn er erzählt hat vom Polackenabknallen, sagen andere, die ihn auch gekannt haben.
Großvater kennt die Fahrpläne und Papiere, auf denen »Umsiedler Sonderzug« steht. Er sieht, dass diese Umsiedler mit ihren auf die Kleidung aufgenähten gelben Sternen in Waggons reisen, die von außen zugesperrt sind. Niemand darf aussteigen. Niemand kommt zurück.
Zurück, Richtung Westen, kommen Dosen und Eimer, gefüllt mit aus den Kiefern der Ermordeten herausgebrochenem Zahngold für die Degussa. Heim ins Reich reisen Schmuck und Wertsachen. Waggons voller Säcke mit Menschenhaar. Die Reichsbahn darf die Säcke behalten zu einem günstigen Preis, eine halbe Reichsmark das Kilo Menschenhaar. Sie lassen Strümpfe daraus machen. Strümpfe für die Mitarbeiter der Bahn.
Ob Großvater Strümpfe aus Menschenhaar getragen hat? Hat er Deportationszüge nach Auschwitz begleitet? Ich weiß es nicht. Ihn kann ich nicht fragen. Großvater lebt nicht mehr. Niemand lebt mehr, der es mir erzählen kann, niemand, der es mir erzählen will. So viele Papiere und Fahrpläne sind vernichtet. Alfred Gottwaldt, der große Bahnhistoriker, ist gestorben. Die Deutsche Bahn hat seinen Nachlass erworben und erschlossen. Einsatzpläne von niedrigen Bahnbeamten haben sie auch dort nicht gefunden.
Als meine Eltern 1951 heiraten, mit Rückenwind, wie man damals sagte, weil mein Bruder schon unterwegs war, schreiben sie bei »Vater des Ehemanns« nicht »Oberzugschaffner der Deutschen Reichsbahn« in die Eheurkunde, sondern »Landwirt«. Warum?
Ich werde auch das vielleicht nicht mehr herausfinden. So vergeblich und ermüdend, es weiter zu versuchen. So trügerisch harmlos, beruhigend und einschläfernd die Geräusche der Bahn. Raaktacktack. Raaktacktack. Raaktacktack.
»Guben«, ruft Großvater über den Bahnhoflautsprecher: »Die nächsten Tausend in die Hölle, bitte …«
Sie war das allerschönste Kind, das man in Polen find … Junge Männer in ihren Konfektionsanzügen für Mörder und Todeskandidaten grölen sich Adrenalin an und Hordenmut, den sie so dringend brauchen für ihre Fahrt ins Schlachthaus.
Aber nein, aber nein, sprach sie, ich küsse nie … Ein mageres, bleiches Mädchen hat ihre Hände durch den mit Stacheldraht gesicherten Spalt eines Viehwaggons gesteckt. Großvater reicht ihr seine Henkelkanne. Das Mädchen trinkt, gierig und dankbar, mit geschlossenen Augen.
Drei Männer, die etwas weiter hinten auf dem Bahnsteig stehen in ihren schwarzen SS-Uniformen von Hugo Boss, schauen sich das an; ostentativ gelassen ziehen sie an ihren Zigaretten mit weichen Lippen. Dann treten sie die Kippen aus. Langsam, wie simultanchoreografiert und in Zeitlupe, heben sie ihre am Lederband geschulterten Maschinenpistolen mit den Mündungen Richtung Großvater und ballern in den Bahnsteigboden vor seine Füße. Steinsplitter spritzen. Großvater tanzt. Lang und hager.
Ich kauere mit angezogenen Knien in der Fensternische eines bäuerlichen Zimmers. Fremde Menschen und Kinder sitzen hungrig gut gelaunt vor Suppentellern, Brot und Butter um den Esstisch. Großvater tanzt. Großvater singt. Großvater spielt Geige, Kurzhalsgeige, die er nicht unter das Kinn geklemmt hält, sondern auf sein Herz drückt zum Tanz. Großvater schaut liebevoll-ironisch zur Fensternische, in der ich in einem hellen Licht sitze und denke: Wird der sich aber freuen, wenn er heute Abend merkt, dass ich Gitarre spielen kann.
Auf dem Sklavenmarkt vor einem kohlebrandverklinkerten, westfälischen Bahnhof prüft der andere Großvater im fichtengrün-maßgeschneiderten Smoking mit beiden Händen die Oberarme einer unterernährten jungen Frau. Sie steht vor ihm in einem zerschlissenen, absurd eleganten, taubenblauen Reisekostüm. Die Jacke mit Beffchen liegt über ihrer Schulter. Jetzt soll sie den Mund öffnen, damit Großvater Eugen ihre Zähne inspizieren kann wie ein Pferdehändler, bevor er plötzlich breitbeinig am Bug der Titanic steht, im weißen Knickerbockeranzug jetzt, mit cremefarbenem Einstecktuch, cremefarbenen Strümpfen und weißen Schuhen, die Arme weit oben über der Brust verschränkt, den Panamahut in den Nacken geschoben. Gleich wird das Schiff mit dem Großvater in der Talsperre versinken. Aber dann steht er neben mir in Sicherheit auf der Klamer Brücke, seine warme, schwere Hand auf meiner Schulter; angenehm ist das, meine Stirn am kühlen Eisengeländer. Gemeinsam schauen wir zu, wie in der Talsperre jetzt alles sehr schnell geht. Das Heck ist schon vollgelaufen. Die Lichter an Bord gehen aus.
»Kann sein, Line«, sagt Großvater, »dass wir die Wahrheit gar nicht mehr wiederfinden, und deinen...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abendzeitung • Aneurysma • Autobiografie Frauen • Bayerischer Rundfunk • blinde Flecken • Das Mädchen und die Macht • deutsche Erinnerung • Deutsche Geschichte • Deutschland • Die Erste. Angela Merkels Weg zur Macht • Erinnerung • Evelyn Roll • Familiengeschichte • Flucht • Gedächtnis • Gehirn Buch • gehirn forschung • Gehirnforschung • Generation Baby Boomer • Generationenbuch • Generationengeschichte • Geschichtsbild • Großeltern • Heimat • Hirnblutung • Hirnforschung • historische Verantwortung • Identität • Journalistenschule München • Journalistin • Kindheit 50er Jahre • Konzentrationslager • Kriegsenkel • Kriegskinder • Lebensgeschichte Frauen • Lebenslügen • Macht der Erinnerung • Memoir • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegsgeneration • Nachkriegszeit Deutschland • Nationalsozialismus • Neuroscience • Polen • Scham • Schicksale • Schlesien • Schuld • Süddeutsche Zeitung • SZ • Überlebensgeschichte • verdrängte Erinnerungen • Verdrängung • Vergangenheitsbewältigung • Vergessen • Vertreibung • wahre Begebenheit Buch • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher • Wie entstehen Erinnerungen • wie funktioniert das Gehirn • wie verändern wir Erinnerungen • Wirtschaftswunder • Wirtschaftswunderland • Zeitgeschichte 2. Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-426-45654-0 / 3426456540 |
ISBN-13 | 978-3-426-45654-5 / 9783426456545 |
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