Anwalt der Bösen (eBook)

Lübckes Todesschütze und Erdo?an - warum ich Menschen vertrete, die keiner verteidigen will
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2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60223-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Anwalt der Bösen -  Mustafa Kaplan
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Nachdem der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke erschossen hatte, beauftragte er, der Ausländer und Zuwanderer abgrundtief verachtete, ausgerechnet den türkischstämmigen Anwalt Mustafa Kaplan mit seiner Verteidigung. In diesem Buch schildert Mustafa Kaplan das Prozessgeschehen hinter den Kulissen, gewährt überraschende Einblicke in die Gespräche mit seinem Mandanten, beschreibt die Schlüsselmomente in dem spektakulären Verfahren und die kriminalistische Spurensuche, die ein politisch motiviertes Attentat erst erklärt.

Mustafa Kaplan, geboren in Antakya (Türkei), arbeitet seit vielen Jahren als Rechtsanwalt in Köln. Er trat in spektakulären Fällen auf - im NSU-Prozess, in islamistischen Terrorverfahren und als Rechtsbeistand des türkischen Präsidenten Erdo?an.

Mustafa Kaplan, geboren in Antakya (Türkei), arbeitet seit vielen Jahren als Rechtsanwalt in Köln. Er trat in spektakulären Fällen auf – im NSU-Prozess, in islamistischen Terrorverfahren und als Rechtsbeistand des türkischen Präsidenten Erdoğan.

Prolog:
Verteidiger mit Leib und Seele


4. Februar 2020, elf Uhr. Anwaltsparkplatz des Landgerichts Köln. Auf dem Weg zu meinem Auto klingelt das Handy. Die Nummer ist mir nicht bekannt. Neugierig drücke ich auf den grünen Knopf und nehme das Gespräch an.

»Kaplan.« Es dauert eine Weile, bis der Anrufer spricht.

»Rechtsanwalt Hannig aus Dresden«, stellt der Mann sich vor.

Er rufe im Namen von Stephan Ernst an, der seit Juni 2019 im Gefängnis in Kassel einsitze. Stephan Ernst – Rechtsanwalt Hannig – Kassel: Das sagt mir etwas, aber direkt klingelt’s noch nicht. Meine Stimme stockt kurz, bevor ich mich nach dem Anliegen meines Anrufers erkundige. Die Antwort erfolgt prompt.

»Es geht um den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke. Herr Ernst wird verdächtigt, ihn aus rechtsextremistischen Motiven erschossen zu haben.«

Bei dieser Nachricht macht es klick. Plötzlich tauchen all die Medienbeiträge über den Fall vor meinem inneren Auge auf. Anfang Juni 2019 starb Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses in der Nähe von Kassel durch die Schüsse eines Neonazis. Der mutmaßliche Täter heißt Stephan Ernst.

»Ernst, sagen Sie? Ja, an den Fall kann ich mich erinnern.«

Meine Antwort klingt ein wenig hölzern. Und deshalb setze ich nach:

»Wie kann ich denn helfen?«

Hannig berichtet, dass er der Anwalt von Stephan Ernst sei.

»Der Angeklagte hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass er Sie als seinen zweiten Strafverteidiger haben will.«

Bis zu meinem Wagen sind es nur noch wenige Meter. Überrascht bleibe ich stehen – und erneut herrscht Stille. Der Anrufer hakt nach.

»Hallo? Sind Sie noch dran?«

Ich sammle mich und frage dann: »Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Person angerufen haben?«

Prompt erwidert der Anwalt: »Spreche ich nicht mit dem Strafverteidiger Mustafa Kaplan aus Köln?«

Ich entgegne: »Doch, doch! Weiß denn Herr Ernst … weiß er, dass ich eine türkische Vita habe?«

Hannig entgegnet: »Ja, das weiß er.«

Erneut hake ich nach: »Weiß Herr Ernst, dass er und ich in politischer Hinsicht wahrscheinlich auf völlig unterschiedlichen Planeten unterwegs sind?«

Mein Gesprächspartner antwortet vage: »Mmhh … ich glaube schon.«

Während ich die Autotür öffne, bitte ich den Anrufer um Bedenkzeit und versichere ihm, dass ich ihn später von meinem Büro aus zurückrufen würde.

Nach der Ankunft in der Kanzlei lässt mir der Anruf keine Ruhe. Unentschlossen, ob ich überhaupt in die Justizvollzugsanstalt fahren und ein Anbahnungsgespräch mit Stephan Ernst führen soll, schießen mir gleichwohl schon die ersten Fragen durch den Kopf: Wie würde mein Gespräch mit Ernst verlaufen? Würde ich merken, dass er etwas gegen Ausländer hat? Würde er meine Beratung überhaupt annehmen? Könnte ich mit ihm zusammenarbeiten? Wäre es moralisch und ethisch vertretbar, dass ich als Anwalt der Opfer im Prozess zu den NSU-Morden nun einen Rechtsextremisten verteidige, der aus menschenverachtenden Motiven heraus einen Regierungspräsidenten getötet hat, weil dieser für eine liberale Flüchtlingspolitik votiert hatte? Geht es Ernst nur darum, die Öffentlichkeit zu täuschen, indem er einen türkischstämmigen Anwalt engagiert? Wäre eine solche Prozesstaktik legitim?

Nach längerem Nachdenken entscheide ich, mir die Sache näher anzuschauen. Meine Neugier ist geweckt. Und ich stelle bei der Bundesanwaltschaft den Antrag, mir eine Besuchserlaubnis zu erteilen. Ich habe schon viele Mörder, Vergewaltiger, Drogenhändler und Pädokriminelle verteidigt. Aber einen Neonazi, dem vorgeworfen wird, aus rechtsextremistischen Motiven einen hochrangigen Politiker getötet zu haben, das wäre auch für mich ein Novum.

Mein Name ist Mustafa Kaplan. Von Beruf bin ich Anwalt – ein Organ der Rechtspflege, wie es in der drögen Juristensprache so schön heißt. In diesem Buch beschreibe ich den wohl größtmöglichen Widerspruch, der sich in der Berufswelt ergeben kann – ein Paradoxon, das sich im realen Leben nur sehr selten ergibt: Ein türkischstämmiger Strafverteidiger vertritt vor Gericht Stephan Ernst, den Rechtsextremen, der das Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verübt hat. Der Fall sorgte bundesweit für Schlagzeilen. »Quotentürke« haben mich manche Kritiker genannt und mir unterstellt, dass ich mich von einem Neonazi vor den Karren habe spannen lassen, um für den Lübcke-Todesschützen ein milderes Urteil zu erwirken.

Dabei bin ich ein Anwalt, der schon immer zwischen unterschiedlichen ideologischen Welten unterwegs war. Mal agierte ich als Nebenklägervertreter im Prozess um die Morde der NSU-Terrorgruppe, mal vertrat ich den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan gegen den TV-Moderator Jan Böhmermann wegen verbaler Entgleisungen.

Kein Zweifel, ich bin stur – einer, der sich nicht vorschreiben lässt, wen er vertreten darf und wen nicht. Sei es den Junkie, sei es den Roma, der als Dieb aufgefallen ist, sei es einen deutschen Räuber, sei es einen islamistischen Terrorverdächtigen mit arabischen Wurzeln. »Für einen Anwalt gibt es keine Schubladen, sondern nur Mandanten, für die du der letzte Anker bist.« Das Zitat, so heroisch es klingen mag, entspricht voll und ganz meinem Rechtsverständnis.

Der Satz beschreibt einmal mehr, dass ich als Anwalt auch unliebsame Eskalationen nicht scheue, weder mit Richtern noch mit Staatsanwälten oder Medien. Als Jurist eilt mir der Ruf voraus, mitunter auch gerne zu polarisieren. »Ich lasse mir von niemandem das Rückgrat verbiegen.« Ein Credo, dem ich stets gefolgt bin.

Was wurde ich angefeindet, als ich den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan vertrat! Noch schlimmer wurde es, als ich, der »Türken-Anwalt«, das Mandat des Neonazis Stephan Ernst übernahm. Davon will ich hier erzählen. Zum ersten Mal gewährt dieses Buch einen intimen Blick hinter die Kulissen des spektakulärsten Staatsschutzprozesses der letzten Jahre.

Darum aber geht es nicht allein: Es war ja nicht einfach, in Almanya Fuß zu fassen – in einem Deutschland, das mir anfangs so fremd war wie der Kölner Dom, den ich damals für eine außergewöhnliche, aber schöne Moschee hielt. Zu Beginn dieses Buches werde ich schildern, wie es mir als einem türkischen Zuwandererkind gelang, mich aus armen Verhältnissen hochzuboxen und Strafverteidiger zu werden. Nie habe ich es hingenommen, wenn deutsche Jugendliche mich »stinkender Türke« nannten; ich habe gekämpft mit Fäusten und mit meinem Hirn – je nachdem, was gefragt war. Es war nicht immer einfach, aber ich habe es geschafft.

Obwohl ich kein Deutsch sprach, gelang es mir nach meiner Ankunft in Almanya schnell, im rechtsrheinischen Kölner Stadtteil Mülheim Kontakte zu knüpfen. Der Fußball verband, da war es egal, ob du deutsch oder türkisch gesprochen hast. Immer wieder bin ich rassistischen Ressentiments begegnet. Als streitbarer Geist habe ich mir nichts gefallen lassen und bin stets offensiv dagegen vorgegangen. Im Studium beschimpfte ich im überfüllten Vorlesungssaal mit 900 Studierenden meinen seinerzeit sehr renommierten Juraprofessor wegen einer fremdenfeindlichen Äußerung als »Nazischwein«.

Aus der Sicht anderer Menschen wirke ich vermutlich wie ein Mann voller Gegensätze, wie ein Protagonist zahlreicher Widersprüche. Für mich hingegen ergibt das, was ich mache, einen Sinn. Ich persönlich sehe den sprichwörtlichen roten Faden. Denn tatsächlich geht es mir einzig um »Recht und Gerechtigkeit«. So simpel das auch klingen mag.

Erzählen will ich über meine Gefühlswelt, meine Ängste, Vorbehalte, Zweifel und Gedankengänge, über meine Lebensstrategie bis hin zur Taktik im Gerichtssaal. Schließlich geht es um das schwierige Verhältnis zu einem Mann wie dem Lübcke-Killer, der durch seine rassistische Weltanschauung alles mit Füßen getreten hat, wofür ein Anwalt wie ich steht: Weltoffenheit, die Willkommenskultur für Flüchtlinge, ein soziales Gewissen für die Verlierer im Kapitalismus, das resolute Eintreten gegen den Rechtsextremismus und auch das Recht eines jeden Menschen auf eine engagierte und sachgerechte Verteidigung vor Gericht.

Mit dem schriftlichen...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anwalt • Erdogan • Jan Böhmermann • Kriminalität • Mustafa Kaplan • Nazis • NSU-Skandal • NSU-Terrror • Recep Tayyip Erdogan • Rechtsanwalt • Rechtsradikale • Rechtsradikalismus • Stephan Ernst • Strafverteidiger • Verbrechen • Walter Lübcke
ISBN-10 3-492-60223-1 / 3492602231
ISBN-13 978-3-492-60223-5 / 9783492602235
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