Rebellin (eBook)

Meine Flucht aus Saudi-Arabien oder Wie ein Hashtag mein Leben rettete
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2022 | 1. Auflage
256 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-27420-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rebellin -  Rahaf Mohammed
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Rettung per Twitter: Die dramatische Fluchtgeschichte einer jungen Frau aus Saudi-Arabien
Der Hashtag #SaveRahaf ging im Januar 2019 innerhalb von Stunden um die Welt. Die damals 18-jährige Rahaf Mohammed rief via Twitter um Hilfe, verschanzt in einem Hotelzimmer in Bangkok, auf der Flucht vor ihrem Leben in Saudi-Arabien und ihrer Familie, die sie körperlich wie seelisch misshandelt hat. Eine Abschiebung durch die thailändischen Behörden hätte ihren Tod bedeutet. Aber ihr verzweifelter Appell im Netz wird gehört und innerhalb kürzester Zeit geteilt. Die Vereinten Nationen nehmen sich ihrer an, und Rahaf bekommt in Kanada Asyl. In diesem Buch erzählt sie ihre dramatische Geschichte: von der Unterdrückung als Frau in Saudi-Arabien, der Bedrohung durch ihre Familie, ihrer riskanten Flucht, ihren Ängsten, ihren Träumen und Idealen und ihrem Neuanfang in Freiheit.

Rahaf Mohammed wurde 2000 als Tochter eines hochrangigen Politikers in Saudi-Arabien geboren und gemäß einer sehr strengen Auslegung des Islam erzogen. Mit achtzehn beschloss sie, dem Leben in Unterdrückung, das Frauen in ihrem Heimatland zugedacht ist, zu entkommen, setzte sich während eines Familienausflugs ab und floh nach Bangkok. Hier wurde sie von den thailändischen Behörden festgehalten, schaffte es aber, mithilfe ihres frisch eröffneten Twitter-Accounts die Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und so Asyl in Kanada zu erhalten. Heute engagiert sie sich von dort aus als Aktivistin für die Rechte von Mädchen und Frauen in Saudi-Arabien.

KAPITEL 2
Eine Mädchenkindheit


Eine Erinnerung aus meiner frühen Kindheit ist mir geblieben – einer dieser schwebenden, traumartigen Gedanken –, die mir dabei hilft, mich in einem neuen Leben zurechtzufinden, die mir Halt gibt und mich glauben lässt, dass auch Unschuld und Hingabe mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich meine die Erinnerung an die Jahre, bevor ich alt genug war, zur Schule zu gehen. Wie ein weich gezeichnetes Gemälde in sanften Farben sehe ich vor mir einen Raum voller spielender, lachender, singender und einander neckender Kinder. Die Geräusche von damals klingen noch heute in mir nach wie ein Echo – eine entfernte Melodie, die mir den Atem stocken lässt. Wir sind alle zusammen: meine zwei älteren Schwestern Lamia und Reem, meine Brüder Mutlaq und Majed, ich und unser Kindermädchen Sarah. Ich hüte diese Erinnerung wie einen Schatz, denn sie erzählt die Geschichte der ersten sechs Jahre meines Lebens.

Wir hielten uns die meiste Zeit im Fernsehzimmer im Erdgeschoss unseres Hauses auf. Es war relativ eng für sechs Personen, vielleicht neun Quadratmeter, und es gab nichts als ein paar Kissen am Boden und einen Fernseher, doch hier verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit. Ich kam mir vor wie das glücklichste Kind der Welt. Meine Schwester Joud war noch nicht geboren, und mein kleiner Bruder Fahad war kränklich und musste im Zimmer meiner Mutter bleiben. Ich wusste damals nicht, was ihm fehlte, nur dass er schlecht Luft bekam. Er konnte nicht rennen oder auch nur schnell gehen und war ständig außer Atem. Die ersten Jahre entfernte er sich niemals von unserer Mutter. Später erfuhr ich, dass er Asthma hatte, doch als ich klein war, wusste ich nur, dass er krank war.

Unser Kindermädchen Sarah war aus Indonesien. Wir hatten immer Kindermädchen, die meisten gingen jedoch nach zwei Jahren wieder. Sie hatten alle eigene Kinder in ihrer Heimat und kamen zum Arbeiten nach Saudi-Arabien, um Geld zu verdienen und für sie sorgen zu können. Aber manche blieben länger, so auch Sarah. Ich glaube, sie war vier oder fünf Jahre bei uns – auf jeden Fall, solange ich noch klein war. Sarah war wie eine Mutter für uns: Sie war groß, dick und lustig. Ich war verrückt nach ihr. Sie schnitt Grimassen, kniff ein Auge zu, streckte die Zunge heraus und machte lustige Geräusche dabei. Sie tat, als wäre sie eine Katze, und miaute uns an, oder ein Hund, und kläffte wie ein Welpe. Sie kitzelte uns und jagte uns durchs Zimmer.

Ich war ein neugieriges und lebendiges Mädchen. Sarah ermunterte mich, Antworten auf meine Fragen zu suchen und mich als jüngstes Kind im Spielzimmer zu behaupten. Wenn ich hinfiel, mir das Knie aufschlug oder Streit mit meinen Geschwistern hatte, nahm sie mich in ihre großen Arme. Wenn meine Familie ein Fest feierte – und das kam oft vor, denn so kommen Familien in Saudi-Arabien zusammen –, verbrachten wir auch Zeit mit unseren Cousins, Cousinen und Tanten. Sarah aber war immer da, wie ein Schatten, und wachte über uns. Sie hatte Schokolade in der Tasche und steckte uns wie die zauberhaften Nannys, die wir aus dem Fernsehen kannten, hin und wieder etwas Süßes zu, meist um uns von irgendeinem Konflikt abzulenken.

Die ersten sieben Jahre meines Lebens war dieses Fernsehzimmer der Mittelpunkt meiner Welt. Wir schleppten alles Mögliche dorthin – Decken, Kissen, Leintücher. Wir bauten Festungen, in denen wir saßen und uns vorstellten, wir wären Prinzen und Prinzessinnen, oder wir spielten einfach wie ganz normale, glückliche Kinder, die wir damals waren. Am Abend machten wir manchmal alle Lichter im Zimmer aus, versteckten uns, und einer von uns musste die anderen fangen. Noch heute, während ich das erzähle, halte ich unwillkürlich die Luft an, erinnere mich, wie leise ich sein musste, wie ich mich mucksmäuschenstill in eine Ecke kauerte und wir uns aneinander anschlichen wie Leopardenjunge, bevor ein lautstarkes Geschrei ertönte, sobald einer von uns gefunden wurde. Wir sahen in diesem Zimmer fern, Cartoons, Filme und Serien aus Indien. Dann imitierten wir die Schauspieler und gaben unsere eigenen Vorführungen. Ich schauspielerte unheimlich gerne. Ich glaube sogar, dass ich während dieser Stücke, die wir als Kinder aufführten, beschlossen habe, Schauspielerin zu werden.

Manchmal schliefen wir auch in dem Zimmer – alle zusammen, auch Sarah. Sarah brachte uns zur Ruhe, strich uns über den Rücken, redete vom Einschlafen, und schon versanken wir im Land der Träume. Wir hatten nie eine Kamera und machten keine Familienfotos, aber die Bilder, die ich von diesen längst vergangenen Nächten im Kopf habe, ergeben eine Collage aus übermüdeten Kindern, die sich in allen möglichen Winkeln aneinanderlehnen und friedlich im Schlaf zusammenkuscheln.

Meistens hielten wir uns in diesem Zimmer auf und erzählten uns Geschichten, doch wenn es nicht zu heiß war, gingen wir hin und wieder auch in den kleinen Garten hinter dem Haus. Dort gruben wir Würmer aus und versuchten, uns mit ihnen gegenseitig Angst einzujagen. Wir lieferten uns Schlammschlachten und spielten Verstecken, bauten noch mehr Burgen und ließen unserer Fantasie in diesem recht kleinen Raum, der uns jedoch wie ein Königreich erschien, freien Lauf. Wir kannten jeden Winkel dieses Gartens. Wir gingen auf Spurensuche, um herauszufinden, wer oder was die Nacht zuvor zu Besuch gewesen war – Wüstenrennmäuse oder Ratten, doch meistens streunende Katzen, deren Fährte in unserer Fantasie auch von Füchsen hätte stammen können. Und immer wieder unsere Theateraufführung – ein Stück, in dem wir alle mitspielten und in dem es um fünf abenteuerlustige Kinder ging.

Und noch eine Erinnerung, wenn ich an mein Leben in diesem Haus mit meiner Familie denke, wärmt mir das Herz. Der schwere, süßliche Geruch von Bakhur. Das war der Duft unseres Hauses. Bakhur ist ein Räucherwerk, bei dem Holzspäne in Duftöl, wie Moschus oder Sandelholz, getränkt und in einer traditionellen Räucherlampe namens Mabkhara angezündet werden. Die Holzstückchen erzeugen einen dichten, wogenden Rauch, der durch das Haus zieht. In Saudi-Arabien trägt niemand Parfüm – das ist verboten –, doch der Duft von Bakhur erfüllt jedes Haus. Der Rauch zieht in die Wände, in die Kissen, in Kleidung und Haare. Für mich ist das der Geruch von Zuhause. Und obwohl in unserem Haus die gesamten achtzehn Jahre, die ich dort verbracht habe, geräuchert wurde, verbinde ich den Duft von Bakhur vor allem mit jenen Jahren im Fernsehzimmer und dem dort herrschenden Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Ich erinnere mich nicht, meine Eltern in diesen frühen Tagen meiner Kindheit oft gesehen zu haben. Mein Vater hatte sein eigenes Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer und Arbeitszimmer am anderen Ende des Hauses. Aber meistens war er in Al Sulaimi, wo er Gouverneur war. Dort wohnte er in einem palastartigen Gebäude mit einem riesigen Garten vor dem Eingang, einer gewaltigen Lobby, mehreren Wohnzimmern, in denen Gäste empfangen wurden, und einer Terrasse hinter dem Haus, die zu einer weiteren wunderschön gestalteten Gartenanlage führte. Manchmal waren wir zu Besuch. Das Haus hatte noch ein Dutzend weitere Zimmer – zwei Küchen, Schlafzimmer, Salons. Doch meistens war er ohne uns dort.

Zu Hause in Hail sahen wir ihn am Wochenende und zu besonderen Anlässen wie Familienfesten und wenn wir gemeinsam Urlaub machten, im Winter in die Berge oder im Sommer in die Wüste fuhren. Alle meine Cousinen und Freundinnen erzählten das Gleiche von ihren Vätern – sie waren seit frühester Kindheit meistens abwesend. Als kleines Mädchen stellte ich das nicht in Frage. Meine Mutter war auch nicht viel da. Sie arbeitete als Lehrerin für Naturwissenschaften in einer kleinen Schule mit sechs Klassenzimmern, fünfzehn Minuten Fahrt entfernt von uns. Sarah war Mutter, Vater und Beschützerin in einem.

Im Jahr 2007 änderte sich dann alles – wer ich war, was ich sagte, wie ich mich verhalten durfte. Es war, als würde ein Vorhang vor meinem Leben zugezogen. Ich war sieben. Wenn ich die Ereignisse in meinem Leben in einen Zeitstrahl eintragen müsste, würde ich sagen, das war der Moment, als ich von einem unbeschwerten Kind zu einem Mädchen wurde, das seinen Platz innerhalb der Familie nicht mehr verstand, das sich fragte, warum es so anders behandelt wurde, das sich fragte, was denn falsch daran war, ein Mädchen zu sein.

In diesem zarten Alter wurde ich von meiner Mutter beiseitegenommen, und sie erklärte mir, das Allerverbotenste, was man als Mädchen tun könne, sei zu schreien, laut zu sein, seine Stimme gegen jemanden zu erheben. Die Stimme einer Frau gehöre zu ihrer ’Aura. Dieser Begriff bezeichnet die intimen Körperstellen einer Frau, die sie verbergen muss. Manche bezeichnen die ’Aura auch als »die dunklen, schmutzigen Stellen« einer Frau. Plötzlich fingen meine Brüder an, sich vor mir aufzubauen und die Fäuste zu erheben, wenn ich schrie oder laut lachte. Damals war ich mehr damit beschäftigt, ihre Schläge abzuwehren, als mein Lachen zu unterdrücken. Heute denke ich allerdings darüber nach, wie eine solche Unterdrückung sich auf ein Kind auswirkt – wenn du lachst, wirst du bestraft, wenn du niedergeschlagen und traurig aussiehst, wird man dich loben, weil du so ein braves Mädchen bist.

Ich war völlig irritiert. Ich hatte nie zum Spielen vor das Haus gehen dürfen. Doch jetzt sah ich, wie meine Brüder, wann immer sie wollten, mit ihren Freunden hinausgingen, Fahrrad fuhren oder in dem großen Park in unserer Straße herumhingen. Sogar gegrillt wurde dort. Und während die Jungen grillten und sich vergnügten, mussten...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2022
Übersetzer Katharina Martl
Sprache deutsch
Original-Titel My Escape from Saudi Arabia to Freedom
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Alqunun • Biografie • Biographien • Dina Lasloom • eBooks • Feminismus • Flucht • Fluchtgeschichte • Flüchtling • Frauen Unterdrückung • Gottesstaat • Iran • Islam • Kanada • Katar • LGBTQ • Mahsa Amini • Misshandlung • Moudi Aljohani • Nawal El Sadaawi • Neuerscheinung • Nicht ohne meine Tochter • Raif Badawi • rebel girls • Reformen Saudi-Arabien • Saudi-Arabien • Sharia • Sittenpolizei • Vormundschaftssystem • Zwangsehe • Zwangsheirat
ISBN-10 3-641-27420-6 / 3641274206
ISBN-13 978-3-641-27420-7 / 9783641274207
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