Der Verlust (eBook)

Warum nicht nur meiner Mutter das Vertrauen in unser Land abhandenkam
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2022 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01077-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Verlust -  Anita Blasberg
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Es ist etwas passiert in den letzten dreißig Jahren. Immer weniger Menschen vertrauen den Institutionen dieses Landes - weder der Regierung noch den Medien, noch nicht einmal der Wissenschaft. Doch wie konnte es so weit kommen? Die preisgekrönte Journalistin Anita Blasberg rekonstruiert die schrittweise Erosion des Vertrauens - am Beispiel ihrer eigenen Mutter und entlang historischer Bruchstellen und Protagonisten. Da ist ein junger Treuhandmanager, der achtzig ostdeutsche Betriebe in zwei Jahren verkauft; da ist eine Klinikärztin, die ihre Patienten schneller entlassen soll, als ihr lieb ist; da sind Politiker, die nach der Finanzkrise ihre eigene Ohnmacht bestaunen und dann fast alles beim Alten belassen. Packend und schonungslos ergründet Anita Blasberg eine der dringlichsten Krisen unserer Zeit. «Ein bemerkenswertes Buch!» Maja Göpel «Anita Blasberg erzählt so unaufgeregt wie eindringlich, warum das Vertrauen von immer mehr Deutschen in ihren Staat so erschüttert ist. Sie zeigt, was das macht mit unserem Land - und mit den Menschen, im Osten wie im Westen.» Florian Illies «Das ist das Thema der Stunde. Ich habe schon lange nicht mehr ein Buch gelesen, das so viel in mir ausgelöst hat. Ich hoffe, es werden viele Menschen lesen. Unsere Gesellschaft hat es nötig.» Verena Hasel «Anita Blasberg kann so hinreißend erzählen, dass man mitten ins Geschehen geworfen wird und gleichzeitig eine messerscharfe Analyse des Erlebten serviert bekommt.» Anja Reschke, NDR «Anita Blasberg, eine der besten Reporterinnen des Landes, hat ein ebenso wichtiges wie großartiges Buch geschrieben.» Patrick Bauer, SZ-Magazin «Leseempfehlung! Anita Blasberg geht dem gefährlichen Vertrauensverlust gegenüber Politik, Medien und Wissenschaft auf die Spur. Ausgehend von Gesprächen mit ihrer Mutter, doch mit gesamtgesellschaftlichem Blick. Sehr überzeugend.» Gerhard Schick

Anita Blasberg, 1977 in Du?sseldorf geboren, studierte Sozialwissenschaften, Politik, Psychologie und Germanistik. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Redakteurin und Reporterin für DIE ZEIT. Sie wurde mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Fu?r die Fernsehreportage 'Die Weggeworfenen' erhielt sie u.a. den Prix Italia. Blasberg hat zwei So?hne und lebt mit ihrer Familie bei Hamburg. 

Anita Blasberg, 1977 in Düsseldorf geboren, studierte Sozialwissenschaften, Politik, Psychologie und Germanistik. Seit 15 Jahren arbeitet sie als Redakteurin und Reporterin für DIE ZEIT. Sie wurde mit dem Deutschen Sozialpreis und dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Für die Fernsehreportage "Die Weggeworfenen" erhielt sie u.a. den Prix Italia. Blasberg hat zwei Söhne und lebt mit ihrer Familie bei Hamburg. 

Der Verlust


Begann es mit Kohls Spendenaffäre? Schröders Agenda 2010? Dem Kosovo-Krieg? Ist es nun zwanzig Jahre her, dreißig – oder noch viel länger?

Wann es genau anfing, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Aber ich weiß ziemlich sicher, womit es endete.

Es war im April 2020, die Welt hatte gerade gelernt, das Wort SARS-CoV-2 zu buchstabieren, Deutschland schloss sich zum ersten Mal weg, und ich stand im zaghaft blühenden Garten hinter unserem Haus. Die Vögel zwitscherten. Am Ohr klemmte mein Smartphone.

«Mama, passt ihr auch auf?»

«Ach, Corona!» Ich hörte ein langes Ausatmen. «Können die Medien auch mal über was anderes berichten? Warum wird da jetzt so eine Panik geschürt?»

«Na ja, überall in Europa sterben Menschen…»

Die Stimme in der Leitung klang auf einmal metallisch. «Und wieso wurde nie ein Aufhebens um die 20000 gemacht, die zum Beispiel 2018 an der Grippe starben?»

«Weil das hier ein völlig neues Virus ist, das sich rasend schnell verbreitet und gegen das wir alle keine Immunabwehr haben.»

Schweigen.

Ich holte Luft. «Du glaubst doch nicht etwa auch, das sei alles erfunden?»

«Nein, aber diese Statistiken …»

«Was ist mit den Statistiken?»

«Ich habe da meine Zweifel.»

In meinem Bauch war plötzlich ein Knoten. «Okay», hörte ich mich sagen. «Tragt ihr wenigstens Maske?»

«Müssen wir ja.»

«Vielleicht kommt ja bald die Impfung.»

«Ach, die Impfung!» Wieder Metall. «Du weißt ja, wer davon profitiert …»

«Die Pharmakonzerne?» Der Knoten schnürte mir inzwischen die Luft ab. Ich konzentrierte mich auf die wärmende Frühlingssonne. «Sag mal, Mama, glaubst du eigentlich an gar nichts mehr?»

«Nein, Anita. Ich glaube an fast gar nichts mehr.»

Da war es raus.

Stellen Sie sich eine zierliche Frau vor, einundsiebzig Jahre alt. Die langen Haare fast weiß, um die Augen hat sie Lachfalten, ihre Stimme klingt noch so jung wie früher. Wenn sie Zug fährt, unterhält sie sich mit wildfremden Menschen, und wenn sie aussteigt, stecken in ihrer Tasche Zettel mit Namen und Telefonnummern. In den Siebzigern verehrte sie Helmut Schmidt, in den Achtzigern begeisterte sie sich für die Grünen, es musste doch Fortschritt geben. Sie hat die deutsche Verfassung gelesen und Bundestagsdebatten im Fernsehen verfolgt. Wenn sie über die Wiedervereinigung spricht, kommen ihr heute noch die Tränen. Fünf Jahrzehnte lang wählte diese Frau mit großem Ernst, mal strategisch, mal voller Überzeugung. Heute muss sie sich zur Wahl zwingen. Sie misstraut dem Bundeskanzler ebenso wie den meisten Parteien. Sie hält viele Medien für naiv, die Institutionen für abgehoben.

Dies ist ein Buch über meine Mutter. Und eines über einen großen Verlust.

Vielen Menschen in diesem Land ist ihr Vertrauen abhandengekommen, nicht ein wenig, sondern fundamental. Und dieser Verlust betrifft nicht nur ein paar wenige am Rand der Gesellschaft. Am Ende des Jahres 2021 hat laut einer Studie der Körber-Stiftung fast jeder Dritte hierzulande das Vertrauen in die Demokratie verloren.[1] Nur noch jeder Dritte vertraut der Bundesregierung, gerade noch jeder Fünfte den Parteien.[2] Mehr als ein Drittel der Menschen glaubt, dass es keinen Unterschied mehr mache, wer dieses Land regiert.[3] Nur noch 12 Prozent sind im Jahr 2020 davon überzeugt, dass unser wirtschaftliches System für sie arbeitet.[4] Eine überwältigende Mehrheit fürchtet, dass es ihren Kindern einmal schlechter gehen wird als ihnen selbst.[5]

Es scheint fast, als wäre das Vertrauen in diesem einst so vertrauensseligen Land geschmolzen, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Als hätte es sich davongestohlen wie das Wählscheibentelefon, der Trabant oder die Vorherrschaft des Westens.

Doch nicht nur bei uns, überall auf der Welt ist das Vertrauen erodiert, bis weit in die Mitte der westlichen Gesellschaften hinein. Nicht nur ein paar Durchgeknallte haben Donald Trump zum Präsidenten gewählt, sondern 62 Millionen Amerikaner. Die Hälfte der britischen Wähler hat sich für den Brexit entschieden. Und nicht nur ein paar Rassisten haben für Jair Bolsonaro gestimmt, sondern 55 Prozent der Brasilianer, darunter nicht wenige Schwarze.

Die Saat der Populisten war aufgegangen – nicht weil sie so überzeugende Konzepte gehabt hätten, sondern weil immer mehr Menschen ihren Glauben an das bestehende System eingebüßt hatten.

Der Rohstoff des Vertrauens war von Jahr zu Jahr knapper geworden – selten erschien die Welt gespaltener als heute. Die Reichen misstrauen den Armen, die Alteingesessenen den Neuhinzugekommenen, die Menschen auf dem Land jenen in der Hauptstadt – und jeweils umgekehrt. Doch der Riss verläuft nicht nur innerhalb staatlicher Grenzen. In seiner existenziellen Dimension lässt sich der Vertrauensverlust wohl kaum besser erfassen als mit Russlands völkerrechtswidrigem Krieg gegen die Ukraine. Im Jahr 1994 noch – zu Beginn einer zuversichtlichen Epoche – hatte die Ukraine sämtliche Atomwaffen freiwillig abgegeben und den Sicherheitsgarantien der beiden Großmächte Glauben geschenkt. 28 Jahre später wurde sie von der einen überfallen und von der anderen nicht beschützt. Konnte man Vertrauen radikaler zerstören?

Heute ist die Welt konfrontiert mit einer Multikrise – bestehend aus Krieg und Klimawandel, heraufziehender Inflation und Energieknappheit, Ungleichheit und Autokratisierung. Das internationale System: geprägt von zerfallender Ordnung und Misstrauen.

Dabei war Vertrauen noch nie so wichtig wie heute: Denn wie anders als mit internationaler Kooperation ließen sich die globalen Probleme der Gegenwart lösen? Wie anders ließe sich das Völkerrecht gegen seine Angreifer verteidigen? Wie anders der Klimawandel bekämpfen, die Flucht in Steueroasen oder eine grenzüberschreitende Pandemie?

Die Mitgliedsstaaten der Nato müssen einander vertrauen, dass sie sich im Falle eines Angriffs beistehen. Regierungen und Bürger müssen Virologen und Klimawissenschaftlern ihre Vorhersagen glauben, um angemessen handeln zu können. Auch um sich impfen zu lassen, müssen Menschen vertrauen: den Informationen der Medien, den Absichten der Regierung, der Redlichkeit der Impfstoffhersteller. Und wenn Politiker den CO2-Ausstoß in ihren Ländern drosseln sollen, um die Erderwärmung zu bremsen, dann müssen sie imstande sein zu glauben, dass die anderen Länder der Erde dies ebenso tun werden.

Keine Staatsform auf der Welt ist dabei mehr auf Vertrauen angewiesen als die repräsentative Demokratie. Denn anders als die autokratische Herrschaft basiert sie auf dem Finden eines Kompromisses. Eine Gruppe gibt heute nach, im Vertrauen darauf, dass die andere es morgen tut.

Wenn Menschen in einer Kirche ihren Glauben verlieren, fällt die Kirche in sich zusammen, schreibt der amerikanische Journalist David Brooks. Wenn Menschen in einem Staat das Vertrauen in ihre Institutionen und ineinander verlieren, fällt der Staat in sich zusammen.[6]

Vertrauen ist leicht zu zerstören, aber schwer wieder zu gewinnen. Wie also konnte uns das passieren?

Meine Mutter sagt: «Wir werden als Bürger nicht ernst genommen.» Sie glaubt, es gelte nur noch das Recht des Stärkeren. Sie fragt: «Wie viele Sondersendungen gab es über den Klimawandel, über die viel zu schlechten Arbeitsbedingungen von Krankenschwestern? Und was hat sich geändert? Genau.»

Meine Mutter zählt sich nicht zu den Querdenkern, sie hat noch nie mit der AfD sympathisiert. Sie war immer eine ziemlich typische Deutsche: um 20 Uhr die Tagesschau, im Sommer ein längerer Urlaub, alle vier Jahre ein Kreuz. Eine Arbeiterkindheit im zerbombten Ruhrgebiet, Ausbildung zur Sekretärin, zwei Kinder, ein Mittelschichtsleben ohne existenzielle Bedrohung. Erst profitierte sie vom Wiederaufbau der Fünfziger-, dann vom Wirtschaftswachstum der Sechziger-, schließlich vom sich ausweitenden Sozialstaat der Siebzigerjahre, als Angehörige einer Generation, für die es immer nur aufwärts zu gehen schien. Heute lebt sie von einer ausreichenden Rente.

Meine Mutter ist eine verlässliche Staatsbürgerin, sie hält sich an alle Regeln. Sie hatte ziemlich oft die SPD gewählt, jetzt las sie im Internet, wie deren Chefin Menschen, die wie sie dachten, «Covidioten» nannte.

Jetzt dürfe man nicht mal mehr Kritik äußern, sagt meine Mutter. Dabei hatte sie im Jahr 2020 vor allem Fragen: Ist es noch ein funktionierendes System, wenn es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland nicht gelingt, die Intensivstationen mit genügend Personal auszustatten? Warum konnte die Regierung einen Reisekonzern mit Milliarden retten, es aber nicht schaffen, die Alten in den Pflegeheimen zu schützen? Warum zwingen die Behörden Erstklässler, selbst auf dem Pausenhof Masken zu tragen, aber lassen die Firmen in ihren Großraumbüros gewähren?

Meine Mutter hat ihr Vertrauen in das gute Wollen der Politik nicht nur verloren, sie befürchtet inzwischen, dass sie ihr Böses will. Sie sagt: «Ich werde das Gefühl nicht los, dass man die Bevölkerung künftig kontrollieren möchte.»

Seit ich denken kann, hinterfragt meine Mutter die Welt. Wann aber schlug ihre Kritik um in Misstrauen? Wann hörte sie auf, an den großen Konsens zu glauben, der eine Demokratie zusammenhält: dass die Regierung zum Wohle der Vielen handelt, dass die Gewählten ihre Wählerinnen und Wähler vertreten?

Ich hatte...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AfD • Angela Merkel • Anja Reschke • Bundesrepublik Deutschland • Corona • Demokratiekrise • Demokratieverdrossenheit • deutsche Politik • Erzählendes Sachbuch • Florian Illies • Generationenkonflikt • Gesellschaftskritik • Gesellschaftsreportage • Italien-Wahl • Maja Göpel • Nord-Stream • Populismus • Querdenker • rechts • Ukraine • Verschwörungstheorie • Vertrauen • Vertrauen in die Politik • Vertrauensverlust • Vierte Gewalt • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01077-3 / 3644010773
ISBN-13 978-3-644-01077-2 / 9783644010772
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