Störgefühle (eBook)

Über anti-asiatischen Rassismus

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2962-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Störgefühle - Cathy Park Hong
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Der große Sachbuch-Bestseller aus den USA, ausgezeichnet mit dem National Book Critics Circle Award, über anti-asiatischen Rassismus.

»Dieses Buch zu lesen, heißt, menschlicher zu werden.« Claudia Rankine

»Beeindruckend. Gespickt mit Momenten von Offenheit und schwarzem Humor, durchdrungen von tiefer Selbsterkenntnis.« The New York Times

»Brutal und brillant.« Jia Tolentino

»Meisterhaft. Cathy Park Hong beleuchtet Fragen zu Rassismus und Identität, die hier zum ersten Mal gestellt werden, und schafft damit ein glühendes Handbuch für die Gegenwart.« Esquire

»Dazu bestimmt, ein Klassiker zu werden.« Maggie Nelson

Als Tochter koreanischer Einwanderer wächst Cathy Park Hong voller Momente von Scham und Melancholie auf. Sie nimmt das tiefe Misstrauen gegenüber Menschen mit asiatischen Wurzeln wahr. Erst später versteht sie, dass diese  »Störgefühle«, wie sie sie nennt, eine Reihe negativer Emotionen, immer dann aufkommen, wenn sie anti-asiatischem Rassismus ausgesetzt ist. Mit cooler Intelligenz liefert sie ausgehend von ihrer eigenen Lebensgeschichte eine persönliche Betrachtung davon, was es bedeutet, weder als »weiß genug« noch als »schwarz genug« zu gelten, und wo Menschen mit asiatischen Wurzeln heute stehen. Dabei wird klar: Strukturelle Ausgrenzung und anti-asiatischer Rassismus sind kein Problem am Rand der Gesellschaft, sie sind allgegenwärtig. Ein glänzendes Buch, das unbequeme Wahrheiten ans Licht bringt.



Cathy Park Hong wurde 1976 als Tochter koreanischer Immigranten in Los Angeles geboren. Sie ist Autorin und Lyrikerin und wurde für »Störgefühle« für den Pulitzer Preis nominiert und mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet. »Time Magazine« wählte sie zu einer der hundert einflussreichsten Menschen des Jahres 2021. Sie lebt mit ihrer Familie in Brooklyn. 

Stand-up


Schnee fiel, umhüllte die Bäume weiß und wehte zart und lautlos über die Straßen, bis die ganze Stadt wie ausgelöscht schien. Der kräftige Heizlüfter in unserem Loft dröhnte so laut wie ein Düsenflieger, und mein Mann und ich konnten uns kaum verständigen. In dem Jahr, in dem ich unter Depressionen litt, sprach ich ohnehin kaum. Die meisten Tage verbrachte ich zusammengerollt im Bett oder auf dem Sofa. Ich war ein Ausschlag auf einem EKG. Ich schlief kaum, aß kaum und schrieb noch weniger. Im Kühlschrank sammelte sich das Essen vom Lieferdienst und vermoderte zu Herden schwarzer Seeigel. Manchmal checkte ich meine E-Mails. Ich klickte auf die Grußkarte von Paperless Post. Der Umschlag öffnete sich, die Karte wurde angezeigt; ich klappte den Laptop wieder zu.

Mein Mann schlug vor, Richard Pryors Standup-Programm Live in Concert zu schauen, das ich noch nicht kannte. Weil wir keinen Fernseher hatten, projizierte er das Video auf die freie Wand gegenüber von unserem Sofa. Die Lichtstrahlen stießen durch den abgedunkelten Raum, und Pryor erschien gute zwei Meter hoch, überlebensgroß in unserem Wohnzimmer. Im Laufe seines achtzigminütigen Comedy-Programms, in dem er vorspielt, er habe einen Herzinfarkt, oder sein winziges Äffchen würde auf seinem Kopf herumturnen, um sein Ohr zu vögeln, breitet sich Schweiß unter seinen Achseln aus und tränkt sein rotes Seidenhemd. Ich schwitze nur, wenn ich nervös bin, und dann schützt mich kein Deo der Welt, deshalb trage ich keine hellen Farben, wenn ich unterrichte oder irgendwie öffentlich auftrete. Pryor dagegen traut sich, Seide zu tragen, einen nicht gerade atmungsaktiven Stoff, auf dem sein Schweiß so sichtbar ist wie Tinte auf Löschpapier.

Vor seinen aberwitzigen Nummern betritt Pryor die Bühne. Er schaut sich die vielen weißen Besucher und Besucherinnen auf dem Weg zu ihren Plätzen an, als würde er Tiere im Zoo beobachten. »Ich finde es immer witzig, wenn die Weißen zurückkommen und sehen, dass Schwarze ihnen die Plätze geklaut haben.« Mit näselnder »weißer« Stimme fragt er: »Haben wir nicht hier gesessen? Genau hier haben wir gesessen!« Er schaltet auf eine »schwarze« Stimme um und antwortet: »Tja, ihr Scheißer, jetzt sitzt ihr nicht mehr hier.«

In seinem Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten teilt Sigmund Freud Witze in zwei Kategorien ein: nicht-tendenziöse und tendenziöse. Der nicht-tendenziöse Witz ist harmlos und unverfänglich, wie Rätselaufgaben für Kinder. Der tendenziöse Witz ist aggressiv oder obszön oder beides und fördert zutage, was wir in unserem Unterbewusstsein unterdrücken. Wenn afroamerikanische Entertainer in den vierziger Jahren hinter der Bühne andere mit abenteuerlichen Geschichten zum Lachen brachten, nannten sie diese Geschichten Lügen. Lügen hatten bestimmte Blickwinkel, sie wurden an Straßenecken erzählt, in Billardhallen und beim Friseur, fernab der prüden Gesellschaft von Weißen. Pryor erzählte Lügen – indem er Geschichten aufbauschte, sich in Rage redete, prahlte und alles Mögliche von einem Bowlingpin bis zu einem Hinterwäldler beim Orgasmus nachahmte. Und mit diesen Lügen ging Pryor mit dem Thema race ehrlicher um als die meisten Gedichte und Romane, die ich damals las.

Pryor riss mir den trüben Schleier vor den Augen weg. Ich hatte nicht gewusst, dass er nicht nur ein Comedian war, sondern auch Künstler und Revolutionär. Er warf die Pointe über Bord und bewies damit, dass Stand-up alles sein konnte. Und genau das tun Genies: Sie sprengen die mottenzerfressenen Konventionen ihres Genres und zeigen, dass Lieder, Gedichte und Skulpturen jede Form annehmen können.

Als meine Depression endlich abklang, transkribierte ich wie besessen Tonmitschnitte und Filmaufnahmen von Pryors Auftritten. Dabei fiel mir auf, dass Pryors Texte allein nicht besonders komisch klangen. Ohne seine überdrehte, witzige Art auf der Bühne erschienen seine Worte hart und schroff, als wäre das Lösungsmittel seines Humors verdunstet und habe nur das Salz seiner Wut zurückgelassen. Diese Wirkung rührt zum Teil von den Schimpfwörtern her, mit denen er seine Sätze würzt, darunter der häufige Gebrauch des N-Wortes, für den er bekannt war. Auf dem Blatt sind seine Monologe schroff und ernüchternd, eine bissige Beteuerung, dass Schwarzen Menschen Privilegien wie Unschuld zum Beispiel verwehrt bleiben: »Ich war ein Kind, bis ich acht war. Danach wurde ich zum negro.«

Wie Kritiker anmerkten, brilliert Pryor nicht nur mit seinen treffsicheren Formulierungen, sondern auch damit, wie er seine Monologe verkörpert. Er ist eine Ein-Mann-Show mit einem mitreißenden Talent, unterschiedlichste Menschen nachzuahmen und mit einer furiosen Bandbreite an Emotionen zu spielen. Von seinem Gesicht bin ich besonders fasziniert. Während Pryors Worte verletzen, verrät sein Gesicht, wie verletzlich er selbst ist. Pryor erzählt zum Beispiel, dass er nach dem Tod seiner sexbesessenen Affen trauernd in seinem Garten stand und der Schäferhund seines Nachbarn über den Zaun sprang, um ihn zu trösten. Dabei ahmt Pryor den Hund nach, aber aus seinem Blick spricht tiefster, menschlicher Schmerz.

Wie die meisten Autoren und Künstler versuchte Richard Pryor zu Beginn seiner Karriere, jemand anderes zu sein. Er wollte Bill Cosby sein und erzählte in Sendungen wie der Ed Sullivan Show jugendfreie, gefällige Witze, die einem weißen Publikum zusagten. Dabei fühlte er sich wie ein Betrüger. Pryor wurde eingeladen, im berühmten Aladdin Hotel in Las Vegas aufzutreten. Er betrat die Bühne, betrachtete den vollbesetzten Zuschauerraum mit weißen Promis wie Dean Martin und kam dort im Scheinwerferlicht zu einer Erkenntnis: Seine »Mama«, die seine Großmutter war, wäre in diesem Raum nicht willkommen. Pryor war bei seiner Großmutter mütterlicherseits aufgewachsen, Marie Carter, einer imposanten Frau, die in seiner Heimatstadt Peoria, Illinois, drei Bordelle betrieb. Seine Mutter Gertrude Thomas arbeitete als Prostituierte in einem dieser Bordelle, bevor sie Pryor in die Obhut seiner Großmutter gab. Bei seinen Stand-up-Auftritten erzählt Pryor freimütig von seiner einsamen Kindheit in dem Bordell: »Ich weiß noch, wie die Freier durch unser Viertel liefen, das war mein einziger Kontakt zu Weißen. Sie kamen zu mir und fragten: ›Hallo, ist deine Mutter zu Hause? Ich hätte gern einen Blowjob.‹«

Seine Biographen David und Joe Henry bezeichnen diesen Abend in Vegas als nachhaltige »Zeitenwende« in Pryors Leben, bei der Pryor beschloss, Cosby aus seiner Show zu streichen und seinen eigenen Weg in der Comedy zu gehen. Pryor stand in Vegas vor seinem Publikum, beugte sich zum Mikrophon vor und sagte: »Was zum Teufel mache ich hier?« Dann verließ er die Bühne.

Als ich Pryor bei seiner Stand-up-Comedy zusah, traf mich eine ähnliche Erkenntnis: Was zum Teufel mache ich hier? Für wen schreibe ich?

Lyriker betrachten das Thema Publikum bestenfalls ambivalent, häufiger allerdings geringschätzig. Robert Graves sagte: »Benutzen Sie niemals das Wort ›Publikum‹. Wenn ein Dichter nicht gerade für Geld schreibt, erscheint mir schon der Gedanke an eine Leserschaft falsch.« Oder Autoren behandeln ihr Publikum als hypothetische Möglichkeit und sinnieren darüber nach, dass sie für zukünftige Leser schreiben. Es ist eine hehre Antwort, mit der ich selbst schon angedeutet habe, dass ich versuche, frei von aktuellen Trends und Befindlichkeiten zu schreiben. Wir preisen die Langsamkeit von Lyrik, die nach und nach unsere Gedanken durchdringen kann, statt wie die heutige Informationsflut betäubend auf uns einzustürzen.

Wir behaupten, das Publikum sei uns egal, aber das ist gelogen. Dichter können von ihrem Status besessen sein, und einige von ihnen wirken ungemein anbiedernd. Das mag Außenstehende verblüffen, schließlich gibt es kein Publikum, bei dem wir uns anbiedern könnten. Die Institutionen sind das Publikum der Dichter. Wir sind auf höhere Instanzen angewiesen, auf die akademische Welt, Preiskomitees und Stipendien, um soziales Kapital einzufahren. Der Weg zum ersehnten Publikumserfolg führt für Lyriker durch ein Vergabesystem der mühsam errungenen Kompromisse, die häufig sicherstellen, dass das erwählte Buch keinerlei ästhetische oder politische Risiken eingeht.

Als ich Pryor zusah, wurde mir...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Übersetzer Eva Kemper
Sprache deutsch
Original-Titel Minor Feelings
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alice Hasters • Angst • Anti-Asiatischer Rassismus • Asiaten • Ausgrenzung • Benachteiligung • Cathy Park Hong • Claudia Rankine • Coming of Age • Einwanderer • Emilia Roig • Hassverbrechen • jia tolentino • Maggie Nelson • Melancholie • Minor Feelings • Rassismus • Scham • Schwarze • Störgefühle • Weiße
ISBN-10 3-8412-2962-X / 384122962X
ISBN-13 978-3-8412-2962-5 / 9783841229625
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