Wutschrift (eBook)

Wände einreißen, anstatt sie hochzugehen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
192 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29339-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wutschrift -  Pia Klemp
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Habe Wut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen
Pia Klemp, Kapitänin, Aktivistin und Seenotretterin, fordert mehr Wut von uns allen. Wut, die zu Engagement führt, die uns antreibt, zu ändern, was schiefläuft. Es scheint, wir leben in wütenden Zeiten: Frauen fordern ihre Gleichberechtigung mit Männern, People of Colour die ihre mit Weißen, junge Leute einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem Planeten, Menschenrechtsaktivist*innen ein humanes Verhalten gegenüber Geflüchteten. Das bringt ihnen Aufmerksamkeit ein. Aber nicht unbedingt Wertschätzung oder Verständnis. Benachteiligte sind nicht wütend, sie sind hysterisch. Nicht ernst zu nehmen. So scheint es. Und es ist an der Zeit, dass sich das ändert. Wut ist ein Werkzeug, das wir nutzen können, um Wände einzureißen, anstatt sie hochzugehen. Ein Impulsgeber, der aufzeigt, was uns wichtig ist. Denn wer nicht wütend ist, hat nur noch nicht richtig aufgepasst.

Pia Klemp (*1983) ist gesellschaftskritische Schriftstellerin, Kapitänin und vernarrte Landstreicherin. Seit zehn Jahren steht ihr Leben im Dienste des Aktivismus, zu See und an Land. An Bord von Meeresschutz-Organisationen und als Kapitänin in der zivilen Seenotrettung kämpft sie für Tier- und Menschenrechte. Jüngst war sie Teil des feministischen Kollektivs, das (mit finanzieller Unterstützung von Streetart-Künstler Banksy) das Schiff Louise Michel zur Rettung schiffbrüchiger Flüchtender im Mittelmeer klarmachte. Klemp ist Preisträgerin des Clara-Zetkin-Frauenpreises (2019) und gemeinsam mit ihrer Crew des Rettungsschiffes Iuventa Preisträgerin des Paul Grüninger Preises (2019) sowie des Amnesty International Deutschland Menschenrechtspreises (2020). Ihre Überzeugungen, Eindrücke und Fragen brachte sie in zwei gesellschaftskritischen Romanen auch auf das literarische Parkett: 'Lass uns mit den Toten tanzen' (Maro 2019) und 'Entlarvung' (Ventil 2021).

2

(Ver-)glühende Landschaften


Man sollte also meinen, es sei recht begrüßenswert, dass uns die Amygdala hin und wieder diese Wut zusammenpanscht. Falsch gedacht. Wo man die Wut erwarten sollte, tut sich eine Ödnis auf. Aber nun sind ja nicht alle Mitglieder unserer Gesellschaft rassistische Frauenhasser*innen, die den Planeten am liebsten schon morgen unbewohnbar gemacht hätten. Trotzdem tut sich nichts, zumindest nicht viel. Ich werde nicht behaupten, dass ich die Einzige bin, die wütend ist. Es gibt einige Gruppen und Individuen, die sich entschieden für oder auch gegen bestimmte Entwicklungen oder Zustände einsetzen und kräftig auf den Tisch hauen, weil es ihnen reicht. Das tun sie, wenn sie selbst von einer Ungerechtigkeit betroffen sind, genauso, wie wenn sie die Lebensbedingungen anderer inakzeptabel finden. Aber schaut man sich in der Breite der Gesellschaft um, dann kann einen die Befürchtung beschleichen, wir hätten uns kollektiv auf den Rücken gerollt, um dem Untergang zu harren. Dabei würden wohl die Allermeisten gerne weniger Ungerechtigkeit und Intrige sehen und auch sich selbst lieber nicht so sehr herumschubsen lassen. Mir zumindest ist keine Europäerin bekannt, die jauchzend in die Hände klatscht, weil sie weiß, dass sie eine 32-prozentige Chance hat, in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt zu werden.55 Ich kenne auch keine Männer, die dem etwas Gutes abringen könnten. Auch die Quote derer, die vor Freude Purzelbäume schlagen, wenn der nächste Klimakatastrophen-Rekord gebrochen ist, scheint mir recht begrenzt. Ich bin mir sicher, dass Unzählige vieles für beklagenswert befinden. Ärgerliche und frustrierende Anlässe gibt es nun wirklich en masse. Und dann? Wut glüht und schwelt in ein paar dunklen Ecken, flackert kurz auf, um alsbald zu verglimmen. Es gibt viel Betroffenheit, die sogleich von Resignation gedämpft wird. Man windet sich um das zornige Gefühl herum, fasst es nur mit spitzen Fingern an und nimmt den Lauf der Dinge, halb bange, halb überanstrengt, hin.

Was bleibt all der gewalttätigen Aktivität und grausamen Passivität entgegenzusetzen? Contenance! Ein heißblütiger Meinungsaustausch ist nicht nur im gesellschaftspolitischen Kontext, sondern auch in Beziehungen und Freund*innenschaften unerwünscht. Es schickt sich nicht, die Menschen vor den Kopf zu stoßen. Sie müssen es von allein begreifen, ganz ohne Druck und Konfrontation.

Äh, Moment. Wollen wir wirklich auf diese okkulte Besserung der Menschheit warten? Darauf, dass, wenn wir nur artig genug im Stillen hoffen, alle eines schönen Morgens aufwachen und etwa ihren tiefverwurzelten Rassismus ablegen wie die Socken von gestern? Und möchten wir glauben, dass ein politisches oder persönliches Verhältnis durch fordernde Verlautbarungen an Substanz verliert?

Wütenden wird gern unterstellt, nicht gesprächsgewillt, konfliktfähig und reflexionsbereit zu sein. Oftmals gilt, wer wütend ist, ist nicht ernst zu nehmen, sondern lachhaft und neurotisch, wenn nicht gar verrückt oder gleich gemein und boshaft. Erzürnte Menschen sind zügellos, haben den Kopf verloren und sich nicht unter Kontrolle. Es handelt sich beim Wütendsein scheinbar um eine primitive, ungesittete Gefühlslage. Schon Seneca urteilte vor 2000 Jahren, dass Wut eine kurze Geisteskrankheit sei.56 Die Vehemenz des Anliegens wird mit Kompromisslosigkeit gleichgesetzt. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass der Status quo oft kein Kompromiss ist, im besten Fall ein fauler, der für wenige Auserwählte funktioniert. Die Auswirkungen von Migrationsabwehr und Rassismus, der Klimakatastrophe und Sexismus zeugen ja nicht gerade von einem Übermaß an gegenseitigen freiwilligen Übereinkünften.

Wenn Wut nun mal eine der menschlichen Grundemotionen ist und es für sie im Normalfall einen Anlass gibt, wie die Missbilligung eines Zustands oder ignorierte Ansinnen, dann stellt sich doch die Frage, warum sie so verpönt ist. Es scheint doch eher kontraproduktiv, die Wut mit ihren wichtigen Funktionen aus unserem Miteinander zu verbannen. Nicht nur müsste man sich selbst etwas mehr der Wut erlauben, letztlich ist man sie sogar den anderen schuldig. Nur, wer darf überhaupt wütend sein? Ich als Frau schon mal nicht. Dort, wo ein wutentbrannter Mann selbstbewusst überzeugt, ist eine wütende Frau hysterisch (aus den Untiefen ihres arglistigen Uterus heraus, ὑστέρα).vii In dieser unterschiedlichen Wertung von Wut liegt eine lange Tradition. Auch Francis Bacon, einer der großen Vordenker der Aufklärung, beschrieb den Ingrimm im 17. Jahrhundert als eine Art von Niedertracht, die sich in der Schwäche zeige und ihm zufolge somit Kinder, Frauen, Alte und Kranke übermanne.57 Ob es Zufall ist, dass der alte Bacon hier nicht von per se Schwachen, sondern von verhältnismäßig Machtlosen, Unterdrückten und/oder Entrechteten spricht? Rasende Männer konnten zu dieser Zeit übrigens noch Hexen verbrennen, ganz ohne deswegen niederträchtig zu sein.58 Über die Jahre sind wir da nicht viel weiter gekommen. Samuel Cartwright, Arzt und Pseudowissenschaftler aus Louisiana, ersann 1851 die Drapetomanie, eine Geisteskrankheit, die seltsamerweise ausschließlich Schwarze Sklav*innen ergriff und nicht mehr als die Manifestation ihrer Wut war. Die ersten Symptome waren ein mürrisches und unzufriedenes Auftreten, das sie bei vollem Ausbruch der »psychischen Störung« dazu veranlasste, wegzulaufen.59 Fast zeitgleich gründete sich in Tennessee die rassistische Terrororganisation Ku-Klux-Klan mit ihrem Großen Hexenmeister Nathan Bedford Forrest. Ein Name, der so deutlich für »geistige Gesundheit« stand, dass eine High School in Florida ihn bis ins Jahr 2014 trug.60

Auch heute jubeln und grölen die Massen zur geifernden Hetze von Demagogen. Und selbst die, die etwa Donald Trumps Hassreden inhaltlich klar verurteilten, schienen dabei an seiner Gemütslage nicht viel auszusetzen zu haben. Mit Schwäche wurde schon mal gar nicht assoziiert. Einer wie Trump ist authentisch und kommt mit geschärfter Rhetorik und scharfer Kritik an der Presse daher.61 Jair Bolsonaro, der findet, dass sehr hässliche Frauen es nicht verdient hätten, vergewaltigt zu werden, und auch, dass Lesben, Schwule und Transsexuelle erschossen werden sollten, leidet nicht an geistiger Umnachtung, sondern schafft es, sich als Kämpfer zu inszenieren.62 Ein Zustand mentaler und emotionaler Unzurechnungsfähigkeit wird mächtigen weißen Männern nicht unterstellt, wenn sie wütend sind.

Nun trauen Sie sich aber mal, als erfolgreiche Profisportlerin gegen eine unfaire Behandlung zu protestieren. Tun Sie das einfach auf ähnliche Art wie zig Ihrer männlichen Kollegen, oder sprechen Sie als Aktivistin vor den bornierten Rängen des UN-Klimagipfels. Da sind Sie nicht mal fertig damit, Ihrem Ärger Luft zu machen, und schon als emotional, unverfroren, abschreckend und verzweifelt demontiert.63 Wenn Sie dazu noch ein junger Mensch wie Greta Thunberg sind, kriegen sie obendrein die Hormon-Wirrungen eines vernunftlosen Teenagers unterstellt, ganz gleich, wie sehr Sie sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse beziehen. Als Schwarze wie Serena Williams haben Sie fast gar keine Schnitte mehr. Das rassistische Klischee der »wütenden schwarzen Frau«viii ist schneller zur Hand, als Sie »I stand for what is right« sagen können.64 Wenn wir jetzt noch die finanziell und sozial gehobene Stellung unserer beispielhaften Frauen herausrechnen, wie vermessen wäre ihr zorniger Einspruch erst dann? Was passiert mit einer jungen Frau, Schwarz und im Niedriglohnsektor beschäftigt, die sich bei der Firmenleitung energisch für sichere Arbeitsbedingungen einsetzt? Richtig, sie verliert den Job aufgrund ihrer schlechten Verhaltensweise.65

Es wird gesellschaftlich entschieden, bei wem Wut und ihr Ausdruck probat sind. Wer nicht auf dieser imaginären Liste steht, ist nichts als irrational und gefühlsbetont. Obwohl unsere Emotionen nicht nur eine Reaktion auf unsere Mitwelt sind, sondern ebenso auf rationales Denken, wird uns suggeriert, dass Gefühle ins private Kämmerlein gehören, weil sie sonst die Vernunft auszubooten drohen.66 Viele bewegen sich mit diesem Manko qua Gruppenzugehörigkeit behaftet durch ihr persönliches und politisches Umfeld.

Wut ist das moralische Eigentum weißer Männer und Jungen. Die den Frauen und Mädchen angediehene Aufgabe ist es, für das Wohlgefühl aller zu sorgen, nicht ihre Umgebung herauszufordern. Darum dürfen wir die Wut weder als Selbstschutz und Verteidigung noch für unsere politischen Auseinandersetzungen nutzen, sondern sollen uns gefälligst auf die Zunge beißen. Es sei denn, eine wütende Frau ist weiß und zielt mit ihrem Zorn auf jemanden mit einem noch niedrigeren sozialen Stand wie Schwarze, People of Colour, Ärmere oder Menschen mit Behinderung, das ist dann wieder erlaubt. Der ideale Politiker hingegen sollte leidenschaftlich sein, nicht kalt und blutarm. Der Unterschied liegt in der Bewertung seines Auftretens, das hier nicht als Emotionalität kategorisiert wird. Bei Männern kann ein wütender Auftritt sehr wohl dazu führen, dass sie an Einfluss gewinnen. Frauen, die es ihnen gleichtun, verlieren dabei...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Amnesty International • annenmaykantereit • Banksy • Carola Rackete • Clara-Zetkin-Frauenpreis • eBooks • Empört Euch! • Empowerment • Entlarvung • Feminismus • Flüchtlinge • Flüchtlingsdebatte • Flüchtlingskrise • Grenzpolitik • Grenzproblematik • Iuventa • Lass uns mit den Toten tanzen • Louise Michel • Luisa Neubauer • Margarete Stokowski • Menschenrechte • Neuerscheinung • Rassismus • Sea Watch 3 • Sea Watch 4 • Seenotrettung • Sophie Passmann
ISBN-10 3-641-29339-1 / 3641293391
ISBN-13 978-3-641-29339-0 / 9783641293390
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99