Mein schmerzhaft schönes Trotzdem (eBook)
180 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44075-2 (ISBN)
Barbara Vorsamer, geboren 1981,?ist Redakteurin im Gesellschaftsteil der >Süddeutschen Zeitung<. Ihre Texte wurden mehrfach für Preise nominiert und ausgezeichnet. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in München. Seit vielen Jahren leidet sie an Depressionen. Mittlerweile weiß sie, wie man weiterlebt mit chronischen Schmerzen, mit der Depression. Trotz der Depression. Und obwohl es ihr immer mal wieder so mies geht, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, jemals wieder irgendetwas zu tun.
Barbara Vorsamer, geboren 1981, ist Redakteurin im Gesellschaftsteil der ›Süddeutschen Zeitung‹. Ihre Texte wurden mehrfach für Preise nominiert und ausgezeichnet. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in München. Seit vielen Jahren leidet sie an Depressionen. Mittlerweile weiß sie, wie man weiterlebt mit chronischen Schmerzen, mit der Depression. Trotz der Depression. Und obwohl es ihr immer mal wieder so mies geht, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, jemals wieder irgendetwas zu tun.
Wie sich Depressionen anfühlen
Schwarze Wolken
Meine Depression und ich
Meine Depression sitzt mitten auf der Brust, da, wo Kinder das Herz hinmalen, wo es aber eigentlich nicht ist. 2009 habe ich noch keine Kinder, aber ich habe einen Elefanten. Er sitzt auf mir.
Schon morgens, wenn ich aufwache, ist er da, lange vor dem Weckerklingeln. Aufstehen kann ich nicht, der Elefant ist sehr schwer, außerdem muss ich noch nicht aufstehen. Ich habe Zeit, im Dunkeln zu liegen, den Schmerz genau zu spüren und darüber nachzudenken, wie schwierig alles ist, wie sinnlos das Leben ist und wie wertlos ich selbst bin. Ich bewege mich nicht, meine Kraft reicht nicht einmal dafür, mich auf die andere Seite zu drehen. Wenn der Wecker klingelt, bin ich schon zwei Stunden wach (oder drei oder vier), aber ich stehe nicht auf. Ich finde Gründe, warum ich Zeit habe. Erst vorgestern Haare gewaschen, geht schon noch. Frühstück? Eh keinen Hunger. Was anziehen? Aber was? Hilfe, eine Entscheidung. Entscheidungen sind am schlimmsten, nichts ist schwieriger für mich, wenn ich gerade in einer tiefen Depression stecke. Manchmal überfordert mich die Entscheidung für eine Hose dermaßen, dass ich mich krankmelde und den ganzen Tag über den Tod nachdenke. Öfter schaffe ich es in letzter Minute, doch noch aufzustehen, irgendetwas anzuziehen und in die Arbeit zu fahren. Dort funktioniere ich dann vor mich hin und weine auf dem Klo. Ich melde mich für die dämlichsten Aufgaben freiwillig, denn alles, wofür man Kreativität braucht, überfordert mich. Abends geht es mir dann besser. Ich habe den Tag überlebt. War gar nicht so schlimm, denke ich, ich bin ja gar nicht krank, hatte nur einen schlechten Tag. Doch am nächsten Morgen wache ich um 4.30 Uhr auf, und ein Elefant sitzt auf meiner Brust.
Wenn ich Menschen erzähle, dass ich Depressionen habe, fragen mich viele, seit wann. Ich könnte darauf antworten: erste Diagnose 2005, zum ersten Mal Medikamente genommen und zu einer Therapeutin gegangen 2006. Ich könnte aber auch sagen: schon immer. Das Gefühl, wertlos zu sein und nicht mehr leben zu wollen, kenne ich bereits aus meiner Kindheit. Ich war ein ruhiges, melancholisches Kind, das sich selbst nicht besonders gernhatte. Ich hielt mich wesentlich lieber in Narnia, Nangijala oder Burg Möwenfels auf, träumte mich in die Welten von C. S. Lewis, Astrid Lindgren und Enid Blyton. Ich fand es schöner da als in der Realität, so schön, dass ich meiner Mutter irgendwann verkündete, auf ein Internat zu wollen. Sie antwortete mir, dass ich dort alles essen müsse – auch Brokkoli und Bohnen. Damit war die Idee gestorben. Ich las also weiter, und wenn ich das nicht tat, tagträumte ich mich in die Welten des Buches, das mich gerade beschäftigte.
Die erste Erinnerung an Gefühle, über die ich aus heutiger Sicht sagen würde: »Normal war das nicht«, ist von 1997. Da war ich 16, fuhr mit dem Fahrrad an den S-Bahn-Gleisen entlang und stellte mir vor, wie es wäre, mich umzubringen. Aus demselben Jahr stammt eine Erinnerung an eine Jugendfreizeit in Korsika, wo ich heulend auf einer Kinderschaukel sitze und meiner Mutter am Telefon von meinem unerträglichen Heimweh erzähle. Heute glaube ich nicht, dass es das war, ich hatte weder vorher noch nachher jemals Heimweh. Ich war in einer depressiven Phase, und weil ich das nicht wusste, musste ich mir das, was ich da fühlte, anders erklären. Auf diese Weise habe ich mich schon öfter in Stress hineingesteigert, in Verliebtheiten, in Prüfungsangst. Es tut sehr weh, depressiv zu sein, umso mehr, wenn man nicht weiß, was da warum eigentlich so schmerzt. Ich nahm deswegen jede noch so weit hergeholte Begründung für meine Zustände dankbar an und redete mir ein, ich müsse nur diesen Typen von mir überzeugen, damit alles wieder gut wird, nur jene Klausur bestehen oder endlich wieder dort sein statt hier. Doch weil eine Depression eben eine Krankheit ist und kein Gefühl, änderte sich meistens wenig an meinem Zustand, egal was in meinem Leben als Nächstes passierte oder auch nicht.
Depressionen und andere psychische Krankheiten lassen sich nicht bekämpfen oder verhindern, indem man besser auf seine Gefühle hört, achtsamer mit sich selbst ist und all dieser Mindfulness-Kram, der seit einigen Jahren als die Lösung für alles verkauft wird. Eine Krankheit, auch eine psychische, lässt man am besten von einem dafür zuständigen Facharzt behandeln. Bitte nimm dich da ernst und betreibe keine Selbsttherapie unter der Bettdecke durch die Lektüre von Sachbüchern, deren Autorinnen lediglich geisteswissenschaftlich ausgebildet sind. Ich sage dir hier nicht, wie du dich am besten behandeln lässt. Ich sage dir nur, dass du dich behandeln lassen solltest – und danach können wir gerne darüber reden, wie man mit der Krankheit umgeht, denn damit kenne ich mich aus.
Depressionen und Gefühle hängen dennoch eng zusammen, man verwechselt die Krankheit leicht mit Trauer, Angst und Selbstzweifeln, zudem hat man selten nur das eine oder nur das andere. Sondern meistens beides. Und während man sich die Krankheit nicht wegmeditieren/wegdenken/wegorganisieren kann, ist es bei unangenehmen Gefühlen durchaus möglich, sie ohne Tabletten und Therapie zu überleben. Und andersherum lässt sich eine depressive Phase viel leichter und schneller behandeln, wenn man den negativen Gefühlen, die einen gleichzeitig beschäftigen, den Raum gibt, den sie brauchen.
Ein konkretes Beispiel: Ich schreibe dieses Kapitel mitten in der Corona-Pandemie und einige Monate, nachdem ich erneut eine depressive Phase hatte. Diesmal eine vergleichsweise kurze, und das, obwohl so vieles gleichzeitig scheiße war. Es war (und ist) Corona-Krise, wir haben anstrengende Monate mit Homeoffice und Homeschooling und Kurzarbeit und Lockdown und Zukunftsangst hinter und vor uns. Meine Tochter hatte eine extrem schwierige Phase, die sich später als ein nicht erkanntes ADHS herausstellen sollte, mein Sohn hatte einen Infekt nach dem anderen. Aber für all das war Raum. Ich sprach mit vielen Freundinnen, in der Arbeit wussten alle bis hinauf zur Chefredaktion Bescheid, ich holte mir schnell Hilfe bei meiner Therapeutin und meiner Psychiaterin. Nach ein paar Monaten war es wieder vorbei – also die depressive Phase. Corona und all das andere leider nicht, weswegen es mir auch ohne die Depression nicht gut ging. Psychische Gesundheit ist aber nicht dasselbe wie völliges Wohlbefinden. Unsere Gefühle – auch die unangenehmen – haben eine Funktion. Wer keine Angst hat, läuft nicht rechtzeitig weg. Wer nicht wütend ist, wehrt sich nicht.
Ich hätte bis vor wenigen Jahren von mir behauptet, eigentlich nie wütend zu sein. Wenn sich negative Emotionen Bahn brachen, dann war ich traurig oder ängstlich. Als Kind und in der Schule galt ich als »Heulsuse«, manche würden sagen, ich hätte »wegen jedem Scheiß« geweint. In meiner ersten depressiven Phase, die ich als solche wahrnahm, weinte ich quasi ununterbrochen. Letztlich bestand meine Gefühlspalette also aus 50 Shades of Traurigkeit. Auf der anderen Seite ging das Blau bis ins Schwarze, wie eine dunkle Wolke, die alle Schattierungen überdeckte. Bunt wurde es aber nie, zu anderen Gefühlen hatte ich wenig Zugang. Als ich zum ersten Mal in einer psychiatrischen Klinik war, bekam ich von einem Therapeuten den Auftrag, ein Bild über all meine Gefühle zu malen. Er erhielt ein Blatt zurück, auf das ich nichts gemalt, sondern in bunten Farben Worte geschrieben hatte: ängstlich, mutig, schüchtern, fröhlich, reizbar, entspannt. »Das sind keine Gefühle, Frau Vorsamer«, sagte er einigermaßen entsetzt. »Das sind Eigenschaften.«
Was also sind Gefühle überhaupt?
Verbreitet ist der Ansatz des Anthropologen Paul Ekman, der sechs Basisemotionen definierte: Freude, Traurigkeit, Überraschung, Wut, Ekel, Angst. Unter anderem auf dieser Basis entwickelte der Emotionsforscher Klaus Scherer sein Emotionsrad, in dem er Empfindungen nach Stärke unterscheidet (Genervtheit – Gereiztheit – Empörung – Ärger – Wut) und aus der Mischung mehrerer Basisemotionen komplexere Empfindungen herleitet. Auf diese Weise finden auch Gefühle wie Reue, Mitgefühl, Neid, Dankbarkeit, Bewunderung und Verachtung ihren Platz.
Ich stelle mir Gefühle gerne wie Farben vor. Davon gibt es unendlich viele, doch alle lassen sich aus den Primärfarben Rot, Blau und Gelb mischen. Ein reiches, gesundes Gefühlsleben wäre dann wie ein Regenbogen, in dem jede Farbe ihren Platz hat, jede Mischung, jede Schattierung. Eine Depression ist in diesem Bild aber keine Farbe, sondern die dicke Wolke, die sich drüberschiebt, bis alles schwarz aussieht.
Hört sich recht klar an. Stecke ich aber mittendrin in der Empfindung, dann ist es oft nicht ganz so leicht, zu erkennen, ob das gerade eine dunkle Farbe ist – oder ob die Depression wieder alles Licht geschluckt hat.
2011 war alles dunkel. Und das, obwohl ich doch vor Kurzem Mutter geworden war und die Welt von mir erwartete, mein Leben rosa zu sehen. Stattdessen saß ich nun auf der Krisenstation im Bezirkskrankenhaus Haar, der örtlichen Psychiatrie. Ohne mein Kind.
Eigentlich wollte ich nicht hierbleiben. Ich war nur nach Haar gekommen, um mich über die Mutter-Kind-Klinik zu informieren. Es ging mir schon seit einer Weile nicht mehr gut. Ich weinte viel, und wenn ich nicht weinte, dann nur, weil mir selbst dafür die Kraft fehlte. Mein Kind war...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Angst • Bin ich schon depressiv • Chronische Schmerzen • Depression • Depression Erfahrung • depression erkennen • Depression Erkrankung • Depression Gesellschaft • depression hilfe • Depression Sachbuch • Diagnose Depression • Die Welt im Rücken • Du darfst nicht alles glauben was du denkst • Erfahrungsbericht • Erschöpfung • Familie • Fehlgeburt • Gefühl • Krankheit • Krise • Kurt Krömer • Kurt Krömer Depression • Lebenskrise • Manische Depression • Memoir • Morgen ist leider auch noch ein Tag • Niedergeschlagenheit • oder ist das noch Leben? • Psychiatrie • Psychische Erkrankungen • Schmerzen • Therapie • Thomas Melle • Till Raether • Tobi Katze • Trauer • Trauer ohne Ventil • Traurigkeit • Verlust • Wut |
ISBN-10 | 3-423-44075-9 / 3423440759 |
ISBN-13 | 978-3-423-44075-2 / 9783423440752 |
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