Überfluss und Freiheit (eBook)
512 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491481-7 (ISBN)
Pierre Charbonnier, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und lebt in Saint-Denis bei Paris. Sein Studium absolvierte er an der École Normale Supérieure in Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de la Recherche Scientifique. Die große französische Tageszeitung »Libération« bezeichnete ihn 2020 als den neuen philosophischen Kopf einer politischen Ökologie. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden ist. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. In Frankreich erschien sein Buch »Abondance et liberté« im Januar 2020.
Pierre Charbonnier, geboren 1983, ist promovierter Philosoph und lebt in Saint-Denis bei Paris. Sein Studium absolvierte er an der École Normale Supérieure in Paris. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre National de la Recherche Scientifique. Die große französische Tageszeitung »Libération« bezeichnete ihn 2020 als den neuen philosophischen Kopf einer politischen Ökologie. Dabei setzt Charbonnier auf eine radikal andere Politik, die nicht notwendig mit Verzicht verbunden ist. Die ökologische Krise der Gegenwart sieht er als Chance, sozial und politisch umzudenken und als Gesellschaft neue Wege zu gehen. In Frankreich erschien sein Buch »Abondance et liberté« im Januar 2020. Andrea Hemminger ist promovierte Philosophin. Sie übersetzt seit vielen Jahren philosophische und sozialwissenschaftliche Literatur aus dem Französischen, darunter Werke von Michel Foucault, Esther Duflo, Manon Garcia und Pierre Charbonnier. Sie lebt in Frankreich.
Pierre Charbonniers Arbeit ist ein Pionierwerk. […] Es ist unabdingbare Lektüre für alle, die unsere ökologische Krise besser verstehen wollen.
ein ideengeschichtlich bemerkenswertes Buch
Einleitung
In der Zeit, die erforderlich war, um dieses Buch zu schreiben, meldete die US-amerikanische Beobachtungsstation auf dem Mauna Loa, Hawaii, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre die Grenze von 400 und dann 410 ppm überschritten hat.[1] Diese Messung belegt, dass sich die ökologische Realität – gemessen an einer so winzigen Aktivität wie dem Verfassen eines philosophischen Werkes – heimlich in einem spektakulären Ausmaß verändert. Ich weise nur darauf hin, dass dieser Wert in der gesamten vorindustriellen Menschheitsgeschichte unter 300 ppm lag und dass der Autor dieser Zeilen bei 340 ppm geboren wurde. Ebenso hat eine viel beachtete deutsche Studie gezeigt, dass die Biomasse der Fluginsekten in 27 Jahren um 76 Prozent zurückgegangen ist:[2] Trotz Schutzmaßnahmen und der Erhaltung von natürlichen Lebensräumen sind drei Viertel der Insekten in wenigen Jahrzehnten verschwunden. Und dies ist nur eine Kennzahl aus einer riesigen Menge von Forschungsergebnissen zur Verschlechterung der Böden, Gewässer, Bestäubung und Instandhaltung des Ökosystems,[3] die zeigen, dass die Transformation der Erde nunmehr in einer Geschwindigkeit erfolgt, die in der Dauer eines Lebens und sogar eines bloßen Buchprojekts messbar wird.
In denselben fünf Jahren hat die globale politische Landschaft ebenfalls erstaunliche Veränderungen durchgemacht. Der Amtsantritt von Donald Trump in den USA 2017 und von Jair Bolsonaro in Brasilien 2019, aber auch der Sieg der Brexit-Anhänger im Juni 2016 sind wohl die deutlichsten Zeichen in einer Reihe von Ereignissen, die oft als Zerfall der liberalen Ordnung interpretiert werden. Überall auf der Welt bringt die Rückkehr zu Grenzen und zum gesellschaftlichen Konservatismus gewisse Globalisierungsverlierer, die verzweifelt nach neuen Förderern suchen, mit wirtschaftlichen Eliten zusammen, die entschlossen sind, die Völker in einen Wettbewerb der Nationen zu treiben, um die Akkumulation des Kapitals aufrechtzuerhalten. Doch in der Zeit davor stellte das im Dezember 2015 unter allgemeiner Begeisterung unterzeichnete Pariser Abkommen die Entstehung einer neuen Form von Diplomatie in Aussicht, welche die Nationen gemeinsam ins Klimazeitalter führen sollte. Trotz der grundlegenden Schwächen dieser Übereinkunft haben die neuen Herren des Chaos genau diese Verbindung von diplomatischer Zusammenarbeit und Klimapolitik angegriffen: Es gehe nicht darum, eine Weltordnung zu begründen, die auf einer Begrenzung der Wirtschaft beruht.
Noch immer in demselben Zeitraum konnte man eine Vervielfachung der Fronten des gesellschaftlichen Protests beobachten, die den Zustand der Erde hinterfragen. Die letzten Korrekturen an diesem Buch wurden vorgenommen, als sich in Frankreich die Gelbwestenbewegung mobilisierte, die, wie wir nicht vergessen dürfen, durch die Ankündigung einer Erhöhung der Kraftstoffsteuer ausgelöst wurde. Die Erfindung einer neuen Beziehung zum Territorium innerhalb des ZAD von Notre-Dame-des-Landes[4] oder anlässlich des Konflikts zwischen den Bewohnern des Indianerreservats Standing Rock und einem Pipeline-Projekt in Dakota begann zu der gleichen Zeit, in der ich in meinen Seminaren anfing, Verbindungen zwischen der Geschichte des modernen politischen Denkens und der Frage der Ressourcen, des Lebensraums und im weiteren Sinne der materiellen Existenzbedingungen herzustellen. Kurz, die aktuellen Ereignisse bestätigen und nähren ständig die Idee von einer Neuausrichtung der gesellschaftlichen Konflikte um die menschliche Subsistenz. Doch neben all dem – neben den Klimamärschen, den Reden von Greta Thunberg und den Aktionen des zivilien Ungehorsams der Extinction Rebellion in London gab es auch Haiti, Puerto Rico und Houston: Die Zunahme von tropischen Wirbelstürmen und das Versagen der Regierungen in ihren Reaktionen haben die Verwundbarkeit des Klimas zum Zeichen zunehmend politisierter sozialer Ungleichheiten gemacht. Die Verteilung der Reichtümer, Risiken und Schutzmaßnahmen zwingt uns, das Schicksal der Dinge, Völker, Gesetze und Maschinen, die sie zusammenbringen, als ein Ganzes zu begreifen.
Fünf Jahre reichen also aus, um kapitale Veränderungen zu verzeichnen. Fünf Jahre reichen aus, um eine doch nahe Vergangenheit als ein völlig anderes Universum zu betrachten als dasjenige, in dem wir uns nun entwickeln, als ein Universum, zu dem wir niemals zurückkehren werden. Die Schnelligkeit dieser Entwicklungen stellt uns auch vor die düstere Frage: Wo werden wir sein, wenn weitere fünf Jahre vergangen sind?
Dieses Buch ist sowohl eine Untersuchung über die Ursachen und Bedeutung dieser Ereignisse als auch eine ihrer vielen Erscheinungsformen – wenngleich eine mikroskopisch kleine. Es gewinnt seinen Sinn im Kontext der globalen ökologischen, politischen und sozialen Veränderungen, deren Bedeutung wir verschwommen wahrnehmen, aber noch nicht beschreiben, geschweige denn in die Sprache der Theorie übertragen können. Gewissermaßen besteht diese Arbeit darin, die Praxis der Philosophie in diese Geschichte einzubringen, ihre Methoden, die Form von Aufmerksamkeit, die sie der Welt zuteilwerden lässt, entsprechend diesen Fragen neu zu kalibrieren.
Sie beschreibt einen langen historischen und konzeptionellen Weg, der mehrere Jahrhunderte und sehr unterschiedliche Wissensformen umfasst. Dieser Weg lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Um zu verstehen, was mit dem Planeten geschieht und welche politischen Konsequenzen diese Entwicklung hat, ist es notwendig, zu den Formen der Besetzung des Raums und der Nutzung der Erde zurückzugehen, die in den Gesellschaften der frühen westlichen Moderne galten. Die Entfaltung der territorialen Souveränität des Staates, die Instrumente zur Eroberung und Verbesserung der Böden, aber auch die sozialen Kämpfe, die unter diesen Umständen stattfanden – all das bildet die Grundlage einer kollektiven Beziehung zu den Dingen, deren letzte Momente wir gegenwärtig erleben. Noch bevor der Wettlauf um die Gewinnung von Ressourcen, der die Begriffe des Fortschritts und der materiellen Entwicklung überlagerte, im 19. Jahrhundert richtig begann, war ein Teil der rechtlichen, moralischen und wissenschaftlichen Koordinaten des modernen Verhältnisses zur Erde bereits vorhanden. Anders gesagt, um die Ölimperien, die Kämpfe für Umweltgerechtigkeit und die beunruhigenden Kurven der Klimaforschung zu verstehen, müssen wir zur Agrarwissenschaft zurückgehen, zum Recht und zum ökonomischen Denken des 17. und 18. Jahrhunderts; zu Grotius, Locke und den Physiokraten. Um unsere Unfähigkeit zu verstehen, die Wirtschaft im Namen des Schutzes unserer Existenzgrundlage und unserer Ideale der Gleichheit Beschränkungen zu unterwerfen, müssen wir zur sozialen Frage des 19. Jahrhunderts und zu der Art und Weise zurückgehen, in der die Industrie die kollektiven Vorstellungen von Emanzipation beeinflusste. Die aktuellen Debatten über Biodiversität, Wachstum und den Status der unberührten Natur sind nur die letzte Etappe einer langen Geschichte, in der unsere gesellschaftlichen Vorstellungen und die Materialität der Welt gemeinsam konstruiert wurden. Der ökologische Imperativ, sofern er als solcher anerkannt wird, erlangt seine Bedeutung in dieser Geschichte.
In Begriffen, die im engeren Sinne philosophisch sind, bedeutet dies, dass die Formen der Legitimation politischer Autorität, die Definition wirtschaftlicher Ziele und die Mobilisierung des Volkes für Gerechtigkeit immer eng mit dem Gebrauch der Welt verbunden waren. Die Bedeutung, die wir der Freiheit geben, die Mittel, die eingesetzt wurden, um sie einzuführen und zu bewahren, sind keine abstrakten Konstrukte, sondern Produkte einer materiellen Geschichte, in der Böden und Bodenschätze, Maschinen und die Eigenschaften von Lebewesen entscheidende Handlungshebel geliefert haben. Die aktuelle Klimakrise offenbart diesen Zusammenhang zwischen materiellem Überfluss und Emanzipationsprozess eindrucksvoll. So bezeichnete zum Beispiel die US-Energiebehörde kürzlich Erdgas, einen fossilen Brennstoff, als »Molekül der Freiheit der USA«[5] und beschwor so die Phantasie einer Emanzipation von den Zwängen der Natur: Die Freiheit sei buchstäblich in der fossilen Materie enthalten. Diese atemberaubende Aussage steht in Widerspruch zu allem, was die Klimaforschung und ihre politische Übersetzung zeigen: Die Anhäufung von CO2 in der Atmosphäre gefährdet nicht nur die Bewohnbarkeit der Erde, sondern erfordert auch ein neues Konzept für unser politisches Verhältnis zu den Ressourcen. Mit anderen Worten: Diese Moleküle enthalten das Gegenteil von Freiheit, sie sind ein ökologisches Gefängnis, aus dem man keinen Ausweg findet.
Es geht somit darum, die Geschichte neu zu schreiben und politische Probleme einer neuen Art auszumachen, indem man die gegenwärtige geologische und ökologische Erfahrung als Indikator, als den sichtbaren Teil eines zu rekonstruierenden Rätsels nutzt. Der Leitfaden dieser Geschichte klingt im Titel des Buches an: Wie hat die rechtliche und technische Konstruktion der Wachstumsgesellschaft die Bedeutung, die wir der Freiheit geben, geprägt und geleitet? Wie haben im Gegenzug die Kämpfe um Emanzipation und politische Autonomie die intensive Nutzung der Ressourcen zur Entfaltung gebracht? Kurz: Was lehrt uns eine...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2022 |
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Übersetzer | Andrea Hemminger |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Adam Smith • Alexis de Toqueville • Autonomie • Demokratie • Eigentum • Èmile Durkheim • François Guizot • Hugo Grotius • Ideengeschichte • Industrialisierung • Johann Gottlieb Fichte • John Locke • Kapitalismus • Karl Marx • Karl Polanyi • Klimawandel • Liberalismus • Markt • Naturalismus • Ökonomie • Pierre-Joseph Proudhon • Ressourcen • Solidarität • Soziale Frage • Subsistenz • Umwelt • Wachstum |
ISBN-10 | 3-10-491481-8 / 3104914818 |
ISBN-13 | 978-3-10-491481-7 / 9783104914817 |
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