»Die Welt geht ja nicht unter, wenn ich ihn nicht haue« (eBook)

Nichtgewalttätiges Handeln von Jungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
357 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45056-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Die Welt geht ja nicht unter, wenn ich ihn nicht haue« -  Mart Busche
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Über das Verhältnis von Männlichkeit und Nichtgewalttätigkeit ist bislang wenig bekannt. Um dieses Phänomen zu beleuchten, nimmt Mart Busche die Adoleszenz in den Blick - als »heiße Phase« der Geschlechterherstellung, aber auch als Phase mit einer hohen Frequenz an Gewaltsituationen. Anhand von Interviews mit 14- bis 16-jährigen Jungen wird die Frage bearbeitet, wie diese Nichtgewalttätigkeit herstellen. Was orientiert ihr Handeln und wie steht dies mit Männlichkeitskonstruktionen und anderen sozialen Positionierungen im Zusammenhang? Dabei zeigt sich einerseits, wie patriarchale Verhältnisse auch über nichtgewalttätige Praxen aufrechterhalten und legitimiert werden können, wenn sie einer Überlegenheitsinszenierung dienlich sind. Andererseits wird deutlich, auf welche Weise die Jungen an Deeskalation, Kooperation und Egalität orientiert sind.

Mart Busche promovierte im Fachgebiet »Soziologie der Diversität« an der Universität Kassel.

Mart Busche promovierte im Fachgebiet »Soziologie der Diversität« an der Universität Kassel.

1.Gegenstandstheoretische Bezüge


Die theoretischen Ansätze, die ich für die Erforschung von nichtgewalttätigem Handeln von Jungen nutze, lege ich im Folgenden dar. Es handelt sich bei der vorliegenden Studie nicht um einen hypothesenprüfenden Zugang, der durch ein deduktives Generieren von empirischen Erkenntnissen gekennzeichnet ist. Das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie ist vielmehr ein dynamisches und wechselseitiges, da unterschiedliche theoretische Perspektiven auf den Gegenstand der Gewaltlosigkeit eingenommen werden, um verschiedene Erkenntnisaspekte (vgl. Mannheim 1952: 234) beleuchten zu können. Das Phänomen der Nichtgewalttätigkeit von Jungen in den Blick zu bekommen, war bei der Auswahl der theoretischen Zuschnitte immer die erkenntnisleitende Intention.

Zuerst erfolgt eine theoretische Einbettung der Studie in gesellschafts- bzw. handlungstheoretische Ansätze der Männlichkeiten- und Geschlechtertheorie (1.1). Dabei sind die Theorien hegemonialer Männlichkeit (1.1.1) und der symbolischen männlichen Herrschaft (1.1.2) relevant, da diese Zusammenhänge zwischen Geschlecht und gewalttätigen bzw. nichtgewalttätigen Praxen skizzieren. Es soll eine Lesart entwickelt werden, die die Pluralität der Manifestation von Männlichkeit und (Nicht)Gewalt und ihre Ambivalenzen fokussiert. Dazu werden den genannten Theorien weitere theoretische Einlassungen zur Seite gestellt: erstens eine Perspektive, die Aufschlüsse über die Uneindeutigkeit des Zusammenhangs zwischen Männlichkeit und Gewalthandeln gibt, zweitens eine Perspektive der Queer Theorie, die binäre Verweisstrukturen porös zu machen sucht, und drittens eine intersektionale Perspektive, die den Umstand gleichzeitiger Privilegierung und Marginalisierung im Kontext von Männlichkeiten in den Blick nimmt (1.1.3).

Im darauffolgenden Abschnitt (1.2) gehe ich auf mein theoretisches Verständnis von Adoleszenz ein. Auf der Basis einer poststrukturalistisch informierten Kategorienkritik gilt zu reflektieren, wie aus einer herrschaftskritischen Perspektive über Jugend und Adoleszenz vor dem Hintergrund geschrieben werden kann, dass öffentliche aber auch sozialwissenschaftliche Konzepte oft eine problematisierende Tendenz in sich tragen. Jugend bzw. Adoleszenz lassen sich als – wenn auch diffus temporalisierter –›Lebensabschnitt‹ verstehen, in den verschiedene Möglichkeiten für Individuation und Wandel eingelassen sind. Diese gilt es näher zu bestimmen und zu klären, welche gesellschaftlichen Erwartungen an Jugendliche gestellt werden. Mit einem strukturtheoretischen und praxeologischen Blick auf adoleszente Krisen sowie mit dem Modell des adoleszenten Möglichkeitsraums werden Ansatzpunkte für Veränderung skizziert (1.2.1). Daran anschließend greife ich eine subjekttheoretische Perspektive auf, die auf der Ebene der heteronormativen Identifizierungsprozesse nach Veränderungsmöglichkeiten fragt und den Blick für uneindeutige und ambivalente empirische Phänomene öffnen soll (1.2.2).

Da diese Phänomene im Kontext der Frage nach gewalttätigem und vor allem nichtgewalttätigem Handeln von Jungen stehen, gehe ich im dritten Abschnitt (1.3) auf das hier verwendete Gewaltverständnis ein. Ich erläutere das Konzept der normativen Gewalt und seine Verbindung zu einem Entwurf ethischer Gewaltlosigkeit im Anschluss an Judith Butler. Dieses liegt der hier gewählten Frage nach den Möglichkeiten nichtgewalttätigen Handelns von Jungen zugrunde.

Im letzten Abschnitt (1.4) fasse ich die analyseleitenden Fragen zusammen.

1.1Männlichkeit(en)26


Männlichkeit ist eine gesellschaftliche bzw. soziale Zuschreibung, eine Identifikationsmöglichkeit und Option individueller geschlechtlicher Selbstpositionierung und Identifizierung.27 Wie repräsentative Studien zeigen, haben sich die Formen von Männlichkeit im Laufe der Zeit verändert und modernisiert, auch hinsichtlich der Einstellung zu Gewalt (vgl. Volz/Zulehner 1998, 2009). Dies zeigt ihre grundlegende Instabilität und Konvertierbarkeit, aber auch ihr Beharrungsvermögen, da diese Modernisierungen auch als Teil eines Strukturwandels hegemonialer Männlichkeiten zu verstehen sind (vgl. u.a. Meuser/Scholz 2011, Scholz 2012, Scholz/Heilmann 2019). Die Praktiken und Institutionen, die Männlichkeit und Gewalt aneinandergebunden haben, vor allem das Militär, haben sich historisch gewandelt und der gesellschaftliche Umgang mit bestimmten Formen männerdominierter Gewalt, z.B. Vergewaltigung in der Ehe, haben sich im letzten Jahrhundert – vor allem dank feministischer Kämpfe – in Richtung einer sozialen Ächtung und rechtlichen Belangbarkeit verschoben. Damit haben sich Deutungen von Männlichkeit (und Weiblichkeit) verändert, eine Geschlechterhierarchie besteht jedoch nach wie vor. Zweigeschlechtlichkeit als symbolisches und institutionalisiertes System (vgl. Hagemann/White 1988) erscheint insgesamt schwer zu erschüttern. Verschiedene theoretische Ansätze heben unterschiedliches hervor: Zweigeschlechtlichkeit wird situationsspezifisch erzeugt (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992) und beeinflusst Prozesse der Identitätsbildung und -anerkennung (vgl. Faulstich/Flaake 1990, Wieland/Horstkemper 1995), nicht zuletzt auf der Ebene von Diskursen im Sinne eines produktiven Charakters von Macht im Anschluss an Michel Foucault und Judith Butler (vgl. Hartmann 2015). Über soziale Praktiken und Prozesse geschehen allmähliche Veränderungen (vgl. Hagemann-White 2010a: 53). Sie können Verschiebungen von (Be)Deutungen provozieren, die beispielsweise eine Ausdifferenzierung und Verschiebung von dem, was als männlich gilt, vorantreiben.

Um die Zusammenhänge zwischen Männlichkeit und Nichtgewalttätigkeit zu verstehen, ist es notwendig zu analysieren, wie Männlichkeits- und Geschlechterunterschiede hergestellt werden und in welchen Settings die Ablehnung von Gewalt als produktiv für die Akteure verstanden wird. Im Folgenden geht es darum, soziologische Erklärungsansätze darzustellen, die sowohl die Dominanz von Männlichkeit als auch Veränderungsmöglichkeiten theoretisch fassen. Die deutschsprachige kritische Männlichkeitenforschung28 wird dabei durch zwei gesellschaftstheoretische Ansätze dominiert, die sich zentral mit der Frage von Männlichkeit(en) in Geschlechterverhältnissen beschäftigen: Die Theorie ›hegemonialer Männlichkeit‹, die von Raewyn Connell und Kollegen entwickelt wurde (Carrigan u.a. 1985, Connell 1999, Connell/Messerschmidt 2005, Messerschmidt 2018) und die Perspektive der ›symbolischen männlichen Herrschaft‹ von Pierre Bourdieu (1997b, 2003). Mechthild Bereswill und Anke Neuber (2010: 92) weisen auf einen Unterschied zwischen beiden Konzepten hin, der sich auf den Aspekt der Temporalität bezieht:

»Lenkt Bourdieu stärker den Blick auf die Reproduktion männlicher Herrschaft und ihre Beharrungskraft, lässt sich mit Connell der Wandel von Konfigurationen hegemonialer Männlichkeit betrachten.«

Beide Theorieansätze setzen zwar eine zweigeschlechtliche Rahmung, tragen aber meines Erachtens trotzdem zur Erklärung des Beharrungsvermögens von Geschlechterhierarchien bei.

1.1.1Hegemoniale Männlichkeit


Die Theorie hegemonialer Männlichkeit zeigt unter Verwendung des Hegemoniekonzepts von Antonio Gramsci29, dass nicht nur eine Hierarchie zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit besteht, sondern auch zwischen verschiedenen Männlichkeiten. Sie lässt sich »als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet« (Connell 2000b: 98). Die hegemoniale Männlichkeit ordnet andere Männlichkeiten unter, z.B. auf den Ebenen von Ethnizität oder Klasse als sogenannte ›marginalisierte Männlichkeiten‹ oder auf der Ebene sexueller Orientierung als sogenannte ›untergeordnete Männlichkeiten‹ (vgl. ebd.: 101 f.).

Die hegemoniale Männlichkeit wird auch von nicht-hegemonialen Männern akzeptiert und ...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Reihe/Serie Hildesheimer Geschlechterforschung
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Adoleszenz • Deeskalation • Erziehungswissenschaften • Geschlechterordnung • Gewalt • Gewaltforschung • hegemoniale Männlichkeit • Intersektionalität • Jugendarbeit • Masculinity Studies • Nichtgewalttätigkeit • Selbstregulation • Sozialarbeit • Subjektivierung
ISBN-10 3-593-45056-9 / 3593450569
ISBN-13 978-3-593-45056-8 / 9783593450568
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