Die betrogene Generation (eBook)

Der Kampf um die DDR-Zusatzrenten
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-502-6 (ISBN)

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Die betrogene Generation - Johanna Weinhold
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30 Jahre und keine Gerechtigkeit
Etwa 1,3 Millionen Menschen haben in der DDR einen Anspruch auf eine Zusatz- oder Sonderrente erworben. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurde auch das DDR-Rentenrecht in bundesdeutsches Recht überführt. Die Folge: Die zusätzlichen Ansprüche wurden nach einer kurzen Übergangsfrist gekürzt oder gestrichen. Von den sogenannten Überführungslücken waren 27 Berufsgruppen - Bergleute, Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Eisenbahner, Balletttänzerinnen - betroffen. 1998 begann am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Mammutprozess. Es folgten Klagen bis hin zum Europäischen Gerichtshof. Zehn Berufsgruppen erzielten Erfolge. Bei weiteren 17 Gruppen steht eine Lösung bis heute aus.

30 Jahre kämpfen die Betroffenen inzwischen um Gerechtigkeit. Die Verweigerung von Zusatz- und Sonderrenten bedeutet nicht nur eine Geringschätzung der Lebensleistung von Ostdeutschen, sondern führt auch zu Altersarmut. Daraus resultieren Frust und Verbitterung auf »die Politik«.

Johanna Weinhold erzählt die Biografien von Betroffenen, erklärt Hintergründe der Rententhematik, und sie lässt Expertinnen und Experten zu Wort kommen. Nicht zuletzt erklärt sie, warum Ungerechtigkeitsempfindungen sich auch auf jüngere Generationen auswirken.

Johanna Weinhold, 1987 in Dresden geboren und aufgewachsen, legte ihr Abitur am Evangelischen Kreuzgymnasium ab. Von 2008 bis 2010 volontierte sie bei den Dresdner Neuesten Nachrichten und war anschließend als freie Journalistin u a. für Spiegel TV unterwegs, wo sie verschiedene Dokumentationen produzierte, und schrieb auch für ZEIT Campus aus dem südamerikanischen Ausland. Nach einem Bachelorstudium in Buch- und Medienproduktion sowie einem Masterstudium in Medienmanagement arbeitet sie seit 2017 für den MDR u.a. als Fachjournalistin für die Geschichts- und Wissensformate im Bereich Online, TV und Radio. Johanna Weinhold lebt in Leipzig.

Einleitung


Es geht um Gerechtigkeit nach 30 Jahren deutsche Einheit


Während sich am 9. November 1989 Ost- und Westdeutsche in dem lange geteilten Land in die Arme schlossen, verabschiedete der Bundestag in Bonn eine neue Rentenreform. Das Gesetz sollte aber erst ab dem 1. Januar 1992 wirksam werden und das Sozialgesetzbuch VI auch für die neuen Bundesländer gelten. Doch das wussten die Macher des RRG 1992 damals noch nicht. Während die Menschen am Brandenburger Tor jubelnd auf die Mauer kletterten, unterbrachen die Politiker ihre Sitzung, verfolgten auf den Bildschirmen die Öffnung der Mauer, tranken ein Glas darauf und setzten sich wieder zusammen, um in »breitem Konsens«1 die Rentenreform zu verabschieden.

»Wohl niemand hat damals jedoch daran gedacht, daß man nach so kurzer Zeit bereits wieder über die Renten reden muß«,2 sagte ein CDU-Abgeordneter im Juni 1991 im Bundestag. Denn in einem nicht zu stoppenden Prozess folgte nicht einmal zwölf Monate nach der Maueröffnung die deutsche Einheit. Und noch als die Menschen versuchten, sich nach 1990 in dem physisch geeinten Deutschland neu zu finden, versuchten die Politiker zwei Teile eines Landes, die sich sozial- und wirtschaftspolitisch 40 Jahre lang völlig unterschiedlich entwickelt hatten, zusammenzubringen. Bei der Frage der Rentenpolitik ein Balanceakt. Denn welches System sollte in Zukunft gelten? Das Rentensystem der DDR mit seinen Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, einer Mindestrente und einer frauenfreundlichen Sozial- und Rentenpolitik? Oder das westdeutsche Rentensystem mit seiner leistungsbezogenen, dynamischen Alterssicherung? Oder gar eine Mischung?

Der Einigungsvertrag war dahingehend nicht richtig konkret geworden. Der Zeitdruck war zu groß, um alle sozialpolitischen Details bis ins Kleinste zu besprechen. Daher einigte man sich vor dem 3. Oktober 1990 erst einmal darauf, dass bis zu einer endgültigen Lösung die Renten in den neuen Bundesländern nach DDR-Recht gezahlt werden. Alles Weitere sollte der Gesetzgeber in einem Bundesgesetz regeln. Und der verabschiedete am 25. Juli 1991 das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) mit dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG). Das Gesetz regelte die Schließung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme der DDR und deren Überführung in die allgemeine gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland. Der damalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Norbert Blüm (CDU) kündigte dieses 1991 mit den Worten an: »Wir übertragen ein Alterssicherungssystem auf die neuen Bundesländer, das in der Welt seinesgleichen sucht.«3 Für die meisten Mitglieder der DDR-Sozialversicherung und der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) wirkte sich die Übertragung der gesetzlichen West-Rentenversicherung durchaus günstig aus. Die Rentenumwertung führte dank Bestandsgarantie und Auffüllbeträgen für weniger als zehn Prozent der Betroffenen zu niedrigeren und für mehr als 90 Prozent zu höheren Rentenzahlbeträgen. Doch was – und das war die alles entscheidende Frage vor der Verabschiedung des RÜG – sollte mit denjenigen passieren, die nicht schablonenartig ins bundesdeutsche Rentensystem passten? Mit den Menschen, die Anwärter oder Bezieher von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen waren?

Die letzte Volkskammer der DDR hatte bereits im Juni 1990 im Zuge der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion per Rentenangleichungsgesetz dafür gesorgt, dass in der DDR eine Angleichung der Bestandsrenten an das Nettorentenniveau der Bundesrepublik erfolgen sollte. Der Höchstbetrag aus Zusatzversorgungssystemen sollte für Mitarbeiter des Staatsapparates, Leiter im Wirtschaftsbereich, Generaldirektoren, Kombinatsleiter und Mitarbeiter von gesellschaftlichen Organisationen sowie der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) bei 2010 DM gedeckelt werden, die Bezüge aus den Sonderversorgungssystemen bei 990 DM. Eine erste Begrenzung von Renten aus »systemnahen« Versorgungssystemen erfolgte also schon ab dem 1. Juli 1990, also noch vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.

Doch das Ziel der Volkskammer war es, ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen. Später präzisierte man im Einigungsvertrag, dass Leistungen zu kürzen oder abzuerkennen seien, wenn Personen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hatten. Systemnähe sollte nicht noch mit hohen Renten belohnt werden. Doch neben den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen für Führungskräfte oder Stasi-Mitarbeiter gab es Systeme für andere Berufsgruppen. So war das erste Zusatzversorgungssystem 1951 für die technische und wissenschaftliche Intelligenz in den Betrieben eingerichtet worden. Die Intelligenzler wurden zum Aufbau des Arbeiter-und-Bauern-Staates benötigt und sollten durch ökonomische Anreize und eine möglichst große Bindung an ihren Betrieb von einer Abwanderung in den Westen abgehalten werden. So setzte sich Walter Ulbricht »besonders [für die] Förderung von leitenden Angehörigen der Intelligenz […] durch eine zusätzliche Altersversorgung […]«4 ein. Ende der 50er-Jahre hielt man es angesichts der noch durchlässigen Grenzen für erforderlich, Zusatzversorgungen für Ärzte einzurichten, weil es auch bei diesen starke Abwanderungstendenzen gab. In den Folgejahren wurden nach und nach auch für Mitarbeiter künstlerischer, pädagogischer und medizinischer Einrichtungen sowie für Wissenschaftler an den Akademien zusätzliche Altersversorgungssysteme eingerichtet. Erst ab 1970 wurde die Sonderversorgung für die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der Zollverwaltung, Feuerwehr, von Nationaler Volksarmee (NVA) und Volkspolizei sowie des Strafvollzugs eingeführt.

Doch ab 1990 wurden im Zuge der Ausgestaltung des Rentenüberleitungsgesetzes die Zusatzversorgungssysteme von politischer Seite pauschal als begünstigende Regelungen für staatsnahe, systemtreue Personen hingestellt. Dabei wies bereits 1991 ein fünfköpfiges Juristengremium nicht nur darauf hin, dass das Gesetz verfassungsrechtlich bedenklich und zu beanstanden sei, man warnte auch, dass es in der vorliegenden Form noch in 30 Jahren für Probleme sorgen würde und nicht zum Rechtsfrieden im wiedervereinigten Deutschland beitrage. Das Gremium sollte recht behalten. Für 27 Berufs- und Personengruppen, die mit ihren Ansprüchen nicht ins westdeutsche Rentensystem passten, begann mit Inkrafttreten des RÜG eine bis heute fortwirkende Benachteiligung. Anders als im Staatsund im Einigungsvertrag zugesichert, wurden DDR-spezifische Rentenelemente modifiziert oder gestrichen oder andere Personengruppen »vergessen«. Wortlaute wurden falsch interpretiert, Festlegungen des Einigungsvertrages wenige Monate nach der Wiedervereinigung ausgehebelt, nicht systemnahe DDR-Renten gedeckelt und hohe Renten abgeschmolzen, sodass viele Ostrentner über Jahre keine Rentenerhöhung bekamen. Zu den von Ausnahmeregelungen im Rentenüberleitungsgesetz betroffenen Gruppen gehören unter anderen in der DDR geschiedene Frauen, ehemalige Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post, Krankenschwestern, Angehörige der technischen Intelligenz, Bergmänner und Balletttänzerinnen, aber auch Anspruchsberechtigte von sogenannten Fremdrenten.

Jede Gruppe reichte Klagen ein. Teilweise über mehrere Jahrzehnte. Für zehn Gruppen wurden Lösungen gefunden. 17 Gruppen gingen leer aus. Von den Arbeits- und Sozialgerichten auf Landesebene ging es weiter an das Bundesozialgericht. Das entschied, worüber es im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten entscheiden konnte. Alles andere ging weiter ans Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Auch das entschied im gesetzlich vorgegebenen Rahmen. Alle anderen Klagen und Beschwerden wurden abgelehnt oder nicht zur Entscheidung angenommen. Vielmehr verwies das BverfG darauf, dass der Gesetzgeber dringend den gesetzlichen Rahmen schaffen müsse, in dem die Gerichte agieren können. Mehrmals musste das Rentenüberleitungsgesetz korrigiert werden. Der Gesetzgeber kam jeweils nur den Forderungen nach, die das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich als verfassungswidrig bezeichnet hatte. Nach einer erneuten Änderung des Gesetzes 2001 schrieb der Gesetzgeber, er werde »[z]ur Vermeidung erneuter ideologisch geführter Diskussionen […] grundsätzlich nicht über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus[gehen und] nicht allen Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes nach[kommen]«.5 Nachdem alle juristischen Mittel in Deutschland ausgeschöpft waren, zogen Gruppen wie die Balletttänzerinnen oder die in der DDR geschiedenen Frauen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser verwies darauf, dass es sich um eine »innerdeutsche Angelegenheit« handele.

2018 wurde im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD eine politische Lösung in Form eines Härtefallfonds im Bereich der Grundsicherung verankert. 2019...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Altersarmut • Ausbauprofessor • Ballett • Bergleute • Dierk Hoffmann • Dietmar Polster • Hadmut Fritsche • Hartmut Enderlein • Johannes Geyer • Klaus-Dieter Weißenborn • Marion Böker • Michael Linden • Wolfgang Meyer
ISBN-10 3-86284-502-8 / 3862845028
ISBN-13 978-3-86284-502-6 / 9783862845026
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