Einführung in die Sozialisationstheorie (eBook)
350 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-25901-1 (ISBN)
Ullrich Bauer, Jg. 1971, Dr. PH, ist Professor für Sozialisationsforschung, Leiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI) an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld.
2.Soziologische Theorien der Sozialisation
Von Beginn lebt das Basisgerüst des MpR von der Gegenüberstellung soziologischer und psychologischer Ansätze in der Sozialisationsforschung. Es kann auch heute noch gesagt werden, dass diese Basistheorien der Sozialisation unverzichtbar sind, um die aktuelle Debatte, ihre theoretischen Annahmen und das Gerüst der gesamten empirischen Forschung zu verstehen. Aus diesem Grund hat die Gegenüberstellung der soziologischen und psychologischen Propädeutik immer noch eine Sonderstellung in der Einführung, wiewohl natürlich die neueren Ansätze nicht mehr so strikt disziplinär einteilbar sind und zudem auch noch andere Disziplinen in den engeren Kreis der Bezugsdisziplinen der Sozialisationsforschung (so beispielsweise die Erziehungswissenschaft und Genetik) eingetreten sind. Dennoch lohnt es sich, die Ausgangssituation bewusst zu halten, in der die Soziologie und Psychologie von zwei sehr unterschiedlichen Standpunkten auf das Thema Sozialisation geblickt haben.
Hierzu werden in den beiden folgenden Kapiteln die grundlegenden Pfade der soziologisch und psychologisch orientierten Diskussion vorgestellt. Mit Ihnen steht die Spannung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft im Vordergrund. Es geht um zwei miteinander zusammenhängende Fragen:
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Wie schafft es eine Gesellschaft, die in ihr lebenden Menschen zu sozialen Wesen zu machen, die sich in die sozialen Strukturen integrieren?
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Wie gelingt es Menschen, sich trotz ihrer gesellschaftlichen Einbindung Freiheiten für die eigene persönliche Entwicklung und Lebensgestaltung zu erschließen und somit zu autonomen Individuen zu werden?
Es geht also darum zu verstehen, wie der Mensch als »Subjekt« – als erlebendes, denkendes und handelndes Individuum – den materiellen, sozialen und kulturellen »Objekten« seiner Umwelt gegenübertritt und sich gegenüber ihnen behauptet; und es geht darum zu klären, wie Menschen die Aufgabe lösen, mit ihrer genetischen Ausstattung an Trieben und Bedürfnissen und den angeborenen Temperaments- und Persönlichkeitsmerkmalen Anforderungen von Gesellschaft, Kultur und Ökonomie gerecht zu werden und dabei gleichzeitig den Status als einzigartiges Individuum zu sichern.
In diesem zweiten Kapitel werden zunächst soziologische Theorien vorgestellt, um die beiden Leitfragen zu beantworten. Im anschließenden dritten Kapitel werden die psychologischen Ansätze erörtert.
FRÜHE ANSÄTZE DER SOZIOLOGISCHEN THEORIE
Die rasante Veränderung von Lebensbedingungen durch die Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen im Zuge der Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist rasch zu einem bedeutenden Thema der zeitgleich entstehenden akademischen Soziologie geworden. Moderne Gesellschaften werden immer komplexer, weil nicht mehr alle Tätigkeiten des täglichen Lebens unter einem Dach ausgeübt werden. Dadurch nimmt die Arbeitsteilung moderner Gesellschaften zu (Familie, Arbeit, Konsum etc.). Jeder Mensch spielt verschiedene Rollen in unterschiedlichen Kontexten. So wurde schon in den frühen soziologischen Ansätzen die Frage immer drängender, wie trotz der Differenzierung von Lebensweisen und der Auflösung traditioneller Muster des Zusammenlebens gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich sein kann.
Die frühesten Theoretiker der Sozialisation waren zwei Soziologen. Der deutsche Georg Simmel (1858–1918) und sein französischer Kollege Emile Durkheim (1858–1917) gelten als die wissenschaftlichen Begründer des Konzepts »Sozialisation«. Beide trieb vor allem die Frage um, wie moderne Gesellschaften, die durch schnelle und intensive Industrialisierung immer komplexer werden, ihre soziale »Kohäsion« (also die soziale Zusammengehörigkeit) sichern können.
Die Theorie der Vergesellschaftung von Georg Simmel
Georg Simmel nimmt zur Klärung dieser Frage das grundlegende Phänomen der Entstehung von Gesellschaften in den Blick. Dass Gesellschaften überhaupt entstehen können, erklärt er dadurch, dass sich Menschen ständig wechselseitig beeinflussen, also aufeinander einwirken. Theoriegeschichtlich gesprochen ist dies der Beginn einer interaktionistischen Perspektive in der Soziologie (s. auch in der späteren Beschreibung hierzu).
In den Blick kommt damit ein Geflecht von Regeln und Abhängigkeiten, an deren Entstehung und Aufrechterhaltung Menschen aktiv beteiligt sind. Dies bildet den Grundstein für gesellschaftliche Strukturen. Jede und jeder Angehörige der Gesellschaft ist in diesem Sinne ein »vergesellschaftetes Individuum«. Die Vergesellschaftung wird von Simmel auch als »Socialisierung« bezeichnet (Simmel 1890/1989). Im Kern versteht er darunter den Vorgang, die soziale Gesamtheit in die individuelle Persönlichkeit aufzunehmen. Jede Gesellschaft braucht nach seiner Einschätzung ein einheitliches soziales Bewusstsein ihrer Mitglieder, auch wenn sie unterschiedlichen sozialen Kreisen angehören und individuell höchst verschieden sind, weil die Gesellschaft als Gemeinwesen sonst auseinanderbricht.
Heinz Abels (geb. 1943) und Alexandra König (geb. 1972), die eine sehr gelungene, erneute Lektüre Simmels angeregt haben, pointieren das aus einer Sozialisationsperspektive sehr anschaulich. Sie erörtern zum grundlegenden Aspekt der Vergesellschaftung, dass dieser »so etwas wie einen Zustand meint, eine gesellschaftliche Form. Die Menschen, die in irgendeine Erziehung zueinander treten, und alles um sie herum sind vergesellschaftet. Man kann es aber auch in einem prozessualen Sinne verstehen, dass Menschen in soziale Beziehungen zueinander treten und sich so einander vergesellschaften. In dem Augenblick, in dem Menschen Beziehungen zueinander aufnahmen, treten sie, wie wir gelesen haben, in Wechselwirkung, d. h. sie wirken wechselseitig aufeinander ein. Ohne dass ihnen das bewusst sein muss, wirken sie und werden bewirkt. Natürlich hört dieser Prozess nie auf und geht so lange weiter, wie die Individuen miteinander in Verbindung stehen, aber gleichwohl kann man konstatieren, dass die Wechselwirkung eine bestimmte, relativ dauerhafte Form annehmen kann.« (Abels/König 2016, S. 7)
Die Theorie der sozialen Integration von Émile Durkheim
Für Simmel ist Gesellschaft also immer das Ergebnis eines Geflechtes von Abhängigkeiten. Je komplexer die damit verbundenen Wechselwirkungen werden, desto komplexer werden auch Formen der Vergesellschaftung. Für Émile Durkheim ist dieser Aspekt der zunehmenden Komplexität nicht weniger entscheidend, er pointiert aber deutlich stärker die Frage des Zusammenhaltes, der Stabilität und der Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Formen der Vergesellschaftung. Durkheim stellte sich bei seiner historisch vergleichend angelegten Analyse des Übergangs von einfachen zu arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften die Frage, wie in komplexen gesellschaftlichen Strukturen soziale Integration hergestellt werden kann. Seine Antwort: Die Gesellschaft gestaltet die Persönlichkeit des Menschen nach ihren Bedürfnissen, und zwar durch eine systematische Beeinflussung der Gefühle und Einstellungen der Menschen.
Diese Beeinflussung nennt Durkheim »socialisation méthodique«, womit eine systematische und planmäßige Beeinflussung der Einstellungen aller Gesellschaftsmitglieder gemeint ist, die darauf zielt, sie so zu formen, wie die Gesellschaft und ihre Ökonomie sie brauchen. Die meisten Gesellschaftsmitglieder passen sich den gesellschaftlichen Zwängen ohne Widerstand an und verinnerlichen die sozialen Anforderungen, weil sie auf diese Weise von den Vorzügen des Gemeinschaftslebens profitieren.
Die »Internalisierung des Sozialen« ist für Durkheim die entscheidende Voraussetzung für den Zusammenhalt und das Funktionieren von komplexen Gesellschaften. Nur wenn die Gesellschaft gewissermaßen in die Menschen eindringt und ihre Persönlichkeit von innen her organisiert, ist der Bestand von modernen Industriegesellschaften zu sichern. Die gesellschaftlichen Normen, so Durkheim, stoßen auf ein Individuum, das sich triebhaft, egoistisch und asozial verhält und erst durch den Prozess der Sozialisation gesellschaftsfähig wird. In diesem Sinn versteht er wie Simmel Sozialisation als die »Vergesellschaftung der menschlichen Natur« (Durkheim 1973/1902). Gleichzeitig aber geht er auch aber auch noch weiter.
Der Erziehungswissenschaftler Franzjörg Baumgart (geb. 1943) betont dies, wenn er schreibt: »Anders als viele Pädagogen seiner Zeit beschrieb er Erziehung als genuin gesellschaftliches Phänomen. Es war der erste große Versuch, Erziehung (oder besser: ...
Erscheint lt. Verlag | 8.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-407-25901-8 / 3407259018 |
ISBN-13 | 978-3-407-25901-1 / 9783407259011 |
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