Gesellschaft als Risiko -

Gesellschaft als Risiko (eBook)

Soziologische Situationsanalysen zur Coronapandemie
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
311 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44773-5 (ISBN)
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Der Ausbruch von Covid-19 im Dezember 2019 versetzte Gesellschaften weltweit in einen Ausnahmezustand. Von der rasanten Verbreitung des Virus geht eine doppelte Risikohaftigkeit aus: Durch die Pandemie werden Gesellschaften einerseits in einen besonders riskanten politischen, ökonomischen und sozialen Zustand versetzt. Andererseits wird das fundamentale Element menschlichen Zusammenlebens, das »in-Gesellschaft-sein«, zu einem gesundheitlichen Risiko für bestimmte soziale Gruppen und Subjekte, was wiederum den Ausgangspunkt für weitreichende politische, ökonomische und soziale Risiken bildet. Diese empirische Studie zu den gesellschaftlichen und sozialen Begleitfolgen der Pandemie untersucht in Interviews und thematischen Essays, wie Menschen in Deutschland die hervorgebrachten subjektiven und kollektiven Risiken wahrnehmen und bearbeiten.

Sarah Lenz und Martina Hasenfratz sind wiss. Mitarbeiterinnen in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit«.

Sarah Lenz und Martina Hasenfratz sind wiss. Mitarbeiterinnen in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Zukünfte der Nachhaltigkeit«.

Einleitung: Gesellschaft als Risiko


Sarah Lenz und Martina Hasenfratz

Am 31. Dezember 2019 meldete die chinesische Regierung offiziell eine neue Lungenkrankheit. Für viele in Deutschland war diese Nachricht über ein unbekanntes Virus, weit weg der europäischen Grenzen, zunächst nur eine Schlagzeile unter vielen. Dass wir nur zwei Monate später zum Zentrum eines pandemischen Geschehens werden sollten, ahnten zu diesem Zeitpunkt wohl die wenigsten. Doch spätestens im Februar 2020 breitete sich das Virus mit dem wissenschaftlichen Namen SARS-CoV-2 rasant aus. Der Ausbruch der bis dahin unbekannten Infektionskrankheit Covid-19 versetzte Gesellschaften weltweit in einen absoluten Ausnahmezustand. In Europa standen der Tiroler Skiort Ischgl, die norditalienische Stadt Bergamo und der nordrhein-westfälische Kreis Heinsberg exemplarisch für die unkontrollierte Verbreitung. Après-Ski, Fußballspiele und Karnevalssitzungen wurden unerkannt zu sogenannten »Super-Spreading-Events«. Die hauptsächliche Reaktion auf die globale Verbreitung von SARS-CoV-2 waren monatelange, staatlich angeordnete »Lockdowns« überall auf der Welt: In Deutschland musste der Einzelhandel größtenteils den Betrieb einstellen, Restaurants, Bars und Clubs wurden geschlossen, der Schulunterricht fand zu Hause statt, Kindergärten und Kitas boten ausschließlich Notfallbetreuung an, zahlreiche Angestellte wurden in Kurzarbeit geschickt, Großeltern durften nicht mehr besucht werden und Spielplätze wurden mit rot-weißem Absperrband unzugänglich gemacht.

Auch wir verlegten unseren Arbeitsplatz von der Universität ins heimische Büro und verspürten schon bald das Bedürfnis, einen Blick nach draußen, zu den anderen, zu werfen. Wie gehen sie mit dieser neuartigen Form der Isolation und des Zusammenlebens um? Mit welchen Sorgen und Ängsten sind sie konfrontiert? Wie gestalten sie ihren Alltag? Vor welchen Herausforderungen stehen sie? Es waren diese Fragen, die uns umtrieben und zugleich motivierten, dieses Projekt zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 ins Leben zu rufen. Zusammen mit acht Kolleg:innen machten wir uns auf die Suche nach Menschen, die bereit waren, mit uns ihre Erfahrungen in der Pandemie zu teilen. Eine Suche, die im Familien- und Freundeskreis begann und nach Art eines Schneeballsystems dazu führte, dass wir schließlich mit ganz unterschiedlichen, uns bekannten und unbekannten Menschen aus verschiedenen Regionen Deutschlands über ihren Lebensalltag mit Corona sprachen.

Eine dieser Personen war Frau Hennings, eine 28-jährige Lehrerin, die erst vor Kurzem in eine ostwestfälische Kleinstadt gezogen war. Sie erzählt uns von ihrer veränderten Einstellung zum Alleinsein. Während sie vor der Pandemie gerne für sich war, fühlt sie sich nun, im Lockdown, plötzlich sehr einsam. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sich ihr kompletter Alltag auf den Kopf gestellt hat. Ganz gewissenhaft hält sie sich an die pandemiebedingten Hygiene-Regeln und fühlt sich in der Gegenwart von Menschen – schon eine flüchtige Begegnung auf der Straße zählt dazu – sehr unwohl. Routinen, die sie insbesondere durch ihre Arbeit in der Schule hatte und die ihr Halt gaben, fallen nun, von einem Tag auf den anderen, weg. Homeschooling war in ihrer Schule zu diesem frühen Zeitpunkt aufgrund mangelnder Infrastruktur ohnehin nur eingeschränkt möglich, was in ihr ein Gefühl von Nutzlosigkeit auslöst. Und so wünscht sie sich nichts sehnlicher, als gesellschaftlich gebraucht zu werden: als Staatsdienerin, so beschreibt sie sich selbst, kann sie sich auch vorstellen, Regale in Supermärkten einzuräumen.

Die 19-jährige Abiturientin Lina hingegen schwankt in ihren Erzählungen zwischen Einsicht und Unverständnis gegenüber den Einschränkungen durch die Pandemie. Es leuchtet ihr ein, dass man die besonders vulnerablen Personengruppen, alte Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, vor einer Ansteckung mit SARS-CoV-2 schützen muss, gleichzeitig wünscht sie sich die unbeschwerte Zeit herbei, die sie sich mit dem Abitur natürlich erhofft hatte: »Abistreich«, ausgelassenes Feiern mit den Mitschüler:innen, ein emotionaler Abschied von der Schule. Der Stillstand ist für die junge Frau nur schwer zu ertragen. Die Ungewissheit über das Kommende, die sich mit dem Ende der Schulzeit einstellt, wird durch die vielzähligen Unsicherheiten verstärkt, die mit der Ausbreitung des Virus einhergehen.

Von ganz anderen Alltagserfahrungen berichtet Fabian. Der 30 Jahre alte Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin arbeitet in einem großen Klinikum in einer deutschen Metropole. Dort bereiten sie sich – mit den erschütternden Bildern aus den norditalienischen Krankenhäusern im Hinterkopf – auf den absoluten Ausnahmezustand vor. Fabian erzählt von der Angst vor den nächsten Monaten, vom Grauen, das ihn erfasst, wenn er an die vielen Toten in anderen Ländern denkt. Hinzu kommt, dass er sich aufgrund seiner Tätigkeit einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sieht. Denn nicht nur er selbst ist in Gefahr; durch den täglichen Kontakt mit der Infektionskrankheit bringt er auch seinen Lebensgefährten, der im Homeoffice ist und auf alle Kontakte verzichtet, in eine exponierte Situation.

Als Leiterin der Unternehmenskommunikation in der Logistik muss die 46-jährige Sabine stets den Überblick bewahren, vorrausschauend handeln und jedwede Unsicherheiten in handhabbare Probleme transformieren. Diese Kompetenzen scheinen ihr in der Coronapandemie vor allem in ihrem privaten Leben Sicherheit zu geben: Sie beobachtet, plant und organisiert für den möglicherweise schon bald eintretenden Ernstfall. Dabei ist sie stets einen Schritt voraus. So erzählt sie, dass sie die auf uns zurollende Krise bereits ernstgenommen hat, als hierzulande noch kaum darüber berichtet wurde. Als aufmerksame und vorrausschauende Beobachterin sieht sie die Gesellschaft mit vielerlei Risiken konfrontiert; Risiken, das wird in ihren Erzählungen immer wieder deutlich, von denen sie selbst nur wenig betroffen sein wird.

Ganz anders als Sabine erlebt Walter die ersten Wochen der Pandemie. Der 69 Jahre alte Rentner lebt mit seiner Ehefrau im östlichen Baden-Württemberg und zählt nicht nur aufgrund seines Alters, sondern auch wegen einer Vorerkrankung, zu den sogenannten Risikopatient:innen. Die mit dieser Zuschreibung verbundenen Sorgen ziehen sich durch seinen gesamten Alltag und bestimmen zudem das Leben seiner Ehefrau, die seinen Risikostatus zwangsläufig mitträgt.

Während Walter sich weitestgehend in Isolation begeben kann und bis auf den allwöchentlichen Supermarktbesuch vollständig auf soziale Kontakte verzichtet, hat der 49-jährige Taxifahrer Mirko keine andere Wahl, als weiterhin seinem Job nachzugehen. Auch er zählt sich aufgrund seiner Asthmaerkrankung zur Risikogruppe, muss aufgrund seiner ökonomisch prekären Situation aber weiterhin mit anderen Menschen in Kontakt treten. Zusehends fühlt er sich in seinem Taxi eingesperrt, da der gebotene Mindestabstand nicht annähernd eingehalten werden kann.

Die Coronapandemie als gemeinsam erlebte Situation


Die Erzählungen von Frau Hennings, Lina, Fabian, Sabine, Walter und Mirko über ihren Lebensalltag sind – wie auch die anderen Geschichten in diesem Buch – gekennzeichnet durch ganz unterschiedliche, teilweise konträre Realitäten, Wahrnehmungen und Erfahrungen einer gemeinsam erlebten Situation, der Coronapandemie. Um diesem situativen Erleben und den je individuellen Erfahrungen von Menschen in der Pandemie nachzugehen, führten wir im April und Mai 2020 per Telefon oder Skype insgesamt 60 narrative, an einem Leitfaden orientierte Interviews. Unser Ziel konnte es dabei nicht sein, ein repräsentatives Abbild der deutschen Gesellschaft zu erfassen. Stattdessen sind zahlreiche »soziologische Geschichten« entstanden, die das subjektive Erfahren und Deuten der Situation in den Vordergrund stellen. Diese Wahrnehmungsweisen werden, so zeigen die unterschiedlichen Geschichten, für die jeweiligen Personen zur eigenen Wirklichkeit in all ihren Konsequenzen. Als junge Abiturientin sorgt sich Lina weit weniger um ihre Gesundheit als Mirko, Fabian oder Walter. Der Verzicht auf Abenteuer und Reisen fernab des schulischen Alltags spielen für sie eine wesentlich größere Rolle als eine mögliche Ansteckung. Ganz anders nimmt Fabian die neue Wirklichkeit durch Corona wahr. Das Virus, dem er durch seinen Beruf tagtäglich ausgesetzt ist, verleiht auch seinem Privatleben eine völlig neuartige Qualität. Für sich selbst, seinen Partner, aber auch seine Kolleg:innen empfindet er all diejenigen als Gefährdung, die sich nicht...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2021
Co-Autor Sören Altstädt, Natalia Besedovsky, Annerose Böhrer, Elisabeth Boßerhoff, Ekkehard Coenen, Marie-Kristin Döbler, Viola Dombrowski, Christian Eberlein, Michael Grothe-Hammer, Oul Han, Marc Hannapel, Martina Hasenfratz, Marco Hohmann, Roman Kiefer, Matthias Kullbach, Sarah Lenz, Ruth Manstetten, Nadine Maser, Sighard Neckel, Larissa Pfaller, Lukas Schmelzeisen, Tobias Schramm, Nina Sökefeld, Paul Weinheimer, Christian Baron
Illustrationen Maria Hobbing
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Ausgangssperre • Ausnahmezustand • Corona • Gesellschaftsanalyse • Homeoffice • Normalität • Quarantäne • shutdown • Solidarität • Sozialstruktur • Sozialstrukturanalyse
ISBN-10 3-593-44773-8 / 3593447738
ISBN-13 978-3-593-44773-5 / 9783593447735
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