Der Sohn des Schamanen (eBook)

Die letzten Zauberer am Amazonas kämpfen um das magische Erbe ihrer Welt
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2021 | 1. Auflage
304 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-28042-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Sohn des Schamanen -  Thomas Fischermann,  Dzuliferi Huhuteni
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Auf einer Expedition durch den Amazonaswald hat Thomas Fischermann den Schamanenlehrling Dzuliferi Huhuteni kennengelernt. Der Sohn eines der letzten Jaguarschamanen will das Erbe seiner geheimnisvollen Kultur antreten. Seit Jahrhunderten sind die Huhuteni für ihre unerklärlichen Heilungen schwerer Krankheiten bekannt, doch es heißt auch, dass sie nur durch Gedankenkraft ihre Feinde töten können. Dzuliferi erzählt in diesem Buch seine Geschichte und die seines Volkes, aber auch von der vorrückenden Moderne, bewaffneten Goldgräbern, Holzfällern und Drogenschmugglern, die zunehmend in diesem Teil des Waldes gesichtet werden. Die außergewöhnliche Stimme des Schamanenlehrlings gewährt erstmals tiefe Einblicke in eine ursprüngliche Welt voller Magie und altem Wissen - die so bedroht ist, dass es sie vielleicht schon bald nicht mehr gibt.

Thomas Fischermann, geboren 1969, ist Redakteur der Wochenzeitung Die ZEIT. Seit 2013 lebt er abwechselnd in Rio de Janeiro und Hamburg und verbringt besonders viel Zeit auf Expeditionen im Amazonasgebiet. Er wurde unter anderem mit dem Deutschen Journalistenpreis ausgezeichnet. Sein Buch 'Der letzte Herr des Waldes' war ein Besteller.

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An den Ursprung der Welt


Im Juni 2017 stand ich in einem klimatisierten Büro in der Amazonas-Kleinstadt São Gabriel da Cachoeira und starrte auf einen Felsen. Ich sah ihn am Ufer eines Flusses stehen, er schien von beachtlicher Größe zu sein, und im Hintergrund erhob sich ein Wasserfall. Das Poster in den Diensträumen der indigenen Selbstverwaltung6 war schon alt, und seine Druckfarbe hatte sich grünlich verfärbt, aber die Oberfläche des fotografierten Felsens war deutlich zu erkennen. Zeichneten sich da Reliefspuren ab? Sollten das Schlangen, Schnecken oder Blumen sein? Was bedeuteten die vielen runden Punkte, die unbekannte Bildhauer, mal zu Gruppen sortiert, mal nebeneinander aufgereiht, in den Fels geschlagen hatten?

Mit etwas Fantasie konnte ich mir eine Sternenkarte vorstellen, vielleicht blickte ich aber auch auf ein überkommenes Kalender- oder Zählsystem. Der Bildunterschrift auf dem Poster war zu entnehmen, dass der Reliefstein am Ayari-Fluss steht, und von dem hatte ich schon viel gehört. Der Ayari ist ein gewundener Transport- und Reiseweg, der Hunderte Kilometer weit durch den tiefsten Amazonaswald führt. Die Bootsleute der Region meiden diesen Fluss, weil sie seine tückischen Felsen und unberechenbaren Stromschnellen fürchten, aber mit einem Kanu oder einem schmalen Boot kann man auf dem Ayari weit kommen.7 Der Weg führt von Brasilien bis nach Kolumbien, über den Äquator hinweg.

Das Foto des Felsens bannte meinen Blick, weil ich damals auf der Spur einer schwer glaubwürdigen Geschichte war. Der brasilianische Amazonasexperte und Dokumentarfilmer Davilson Brasileiro hatte mich nach São Gabriel gelockt und allerlei fantastische Versprechungen gemacht. Er erzählte von einer uralten Zaubererfamilie, die tief im Regenwald lebt und die wahlweise schwerste Krankheiten heilen oder mit bloßer Gedankenkraft ihre Feinde töten kann.

Ich hatte mit Davilson schon seit 2013 mehrere große Regenwald-Expeditionen unternommen, erst für das ZEIT-Magazin und dann für ein Buch mit dem Titel Der letzte Herr des Waldes8, das den Widerstandskampf eines jungen indigenen Kriegers dokumentiert. Jetzt wollte Davilson unbedingt diese Zauberer treffen. Er berichtete von greisen Schamanen, Malirinai genannt, die aus Amazonaspflanzen eine der stärksten Psychodrogen der Welt herstellen. Er sprach von Goldschätzen, blutigen Initiationsriten und ungeklärten Todesfällen im Regenwald.

Ach ja, und außerdem hätten Archäologen am Ursprungsort dieses geheimnisvollen Volkes, an einem Amazonasfluss namens Ayari, jahrtausendealte Reliefzeichnungen und Höhlenmalereien entdeckt. Die Symbole könnten sie nicht recht entziffern und ihre Herkunft nicht genau erklären. Die Malirinai sagen, dass es Wegweiser der Götter für ihre Seelenreisen sind.

Mir klang das zu sehr nach einem kitschigen Fantasyroman. Aber immerhin schien es solche Felsen zu geben.

Die Aussicht auf eine Begegnung mit dieser alten Amazonaskultur interessierte mich aber noch unter anderen Gesichtspunkten. In den vergangenen Jahren hat sich die Zerstörung des Regenwalds erneut dramatisch beschleunigt. 2019 und 2020 gingen erschreckende Bilder von Großbränden am Amazonas um die Welt: von Flammenmeeren im Regenwald, heimatlos gewordenen Volksgruppen und wilden Tieren auf der Flucht. Die Zerstörung war zu erwarten, denn die Regierungen von Brasilien, Venezuela, Kolumbien, Bolivien und anderen zuständigen Staaten unternehmen kaum etwas Wirksames gegen den Vormarsch der Holzfäller, Goldgräber und der brandrodenden Viehwirte. Allein in Brasilien, wo der Großteil des Amazonasgebiets liegt, ist seit den Sechzigerjahren ein Fünftel des ursprünglichen Regenwalds den Kettensägen zum Opfer gefallen.9 Ein weiteres Fünftel gilt als beunruhigend stark ausgedünnt. Viele indigene Völker bangen um ihr Überleben, weil sie den Eindringlingen im Wege stehen. Menschenrechtsorganisationen melden Jahr für Jahr schreckliche Morde an aufrechten Häuptlingen und gewaltsame Angriffe auf ihre Dörfer.10

Von der 40.000-Einwohner-Kleinstadt São Gabriel aus wacht die indigene Selbstverwaltung FOIRN über ein Indianerschutzgebiet von der Größe Österreichs. Diese Region ist bisher noch außergewöhnlich unberührt geblieben. Wenn man sie auf Satellitenfotos betrachtet, blickt man auf gleichmäßiges, sattes Dunkelgrün, ein Meer von Baumkuppen, das hin und wieder von kleinen Berggruppen und gewundenen Flüssen unterbrochen wird.

Der Anblick ist untypisch, denn die meisten Satellitenbilder aus dem Amazonasgebiet sehen heute anders aus. Wo der Vormarsch der Eindringlinge beginnt, erkennt man auf den Aufnahmen zunächst ein paar fein verästelte Lehmstraßen im Regenwald. Ein paar Jahre später kommen größere Schneisen hinzu, und bald macht man wachsende Siedlungen für Sägewerksarbeiter aus. Irgendwann erblickt man dann die Karomuster von Vieh- und Weidebetrieben, die überall auf den abgeholzten Flächen entstehen. Diese Verwandlung geht heute so schnell voran, dass manche Klimaforscher dem Amazonasgebiet nur noch wenige Jahre geben, bis sein fragiles Ökosystem unter der Belastung kollabiert. Sie sagen voraus, dass dann eine weitgehende Versteppung einsetzt, die auch erhebliche Folgen für das Erdklima haben wird.11

Im äußersten Nordwesten aber, rings um São Gabriel, kann man den Amazonaswald noch so wie vor der großen Vernichtung erleben. In dieser satten Naturlandschaft mit ihrer überbordenden Vegetation, ihrem schwülheißen Klima und ihrem Soundtrack aus Tierstimmen und Insekten begreift man schnell: Den Wert des Regenwalds kann man nicht nur in Kilotonnen Holz ausdrücken, in seiner Aufnahmefähigkeit für das Klimagas CO2 oder in seiner Funktion als gigantischer Wasserschwamm, der das Weltklima mit reguliert. Das Roden und Brandschatzen in diesem Teil der Welt setzt auch eine unwiederbringliche Wissensquelle aufs Spiel.

Ich traf auf meinen Reisen Naturwissenschaftler, die geradezu panisch damit beschäftigt sind, noch schnell ein paar Tier-, Pilz, Pflanzen- und Mikrobenspezies zu erforschen. Sie wissen um die riesige Artenvielfalt in dieser Region – und sie befürchten, dass in ein, zwei Jahrzehnten nur noch wenig davon übrig bleibt und dass dann alles Wissen über diese Spezies verloren geht.

Die bedrohte Artenvielfalt ist neben der allgemeinen Klimabedrohung in der breiten Öffentlichkeit zu einem viel diskutierten Thema geworden,12 und Menschen mit einem Herz für den Umweltschutz ist seine Bedeutung leicht zu vermitteln. Doch auch hartgesottene Pragmatiker, die aus wirtschaftlichen Gründen eher eine Erschließung des Amazonaswalds durch moderne Infrastruktur befürworten, lassen sich bisweilen für die Vorteile der Artenvielfalt erwärmen: Entdeckungen im Amazonaswald haben in den vergangenen Jahrzehnten das Leben der Menschen immer wieder bereichert und Milliardenindustrien geschaffen, deren Erträge über jede denkbare forstwirtschaftliche oder bergbauliche Nutzung hinausgehen.13

Ein frühes Beispiel ist die Kautschukpflanze, die im 19. Jahrhundert die Massenproduktion von Dampfmaschinendichtungen und Autoreifen möglich machte. Ein jüngeres sind ACE-Inhibitoren für die Blutdrucksenkung, die auf der Basis eines Amazonas-Schlangengifts entwickelt wurden. Sie sind aus der modernen Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen nicht mehr wegzudenken und haben wohl Millionen Menschen das Leben gerettet. Scouts von Pharma- und Industrieunternehmen, mit denen ich vor Ort sprach, waren sich im Grunde alle einig: In der Vielfalt des Biosystems am Amazonas stecken noch zahllose Entdeckungen dieser Art, aber sie sind bloß noch möglich, solange der Wald existiert.

Wenn westliche Forscher im Amazonaswald ihre Entdeckungen machen, stoßen sie regelmäßig darauf, dass ihnen irgendein indigenes Volk schon zuvorgekommen ist. Sie begegnen Schamanen oder Dorfältesten, die aus diesen Naturstoffen Heilmittel, Waffen, Gifte oder Werkstoffe für die Landwirtschaft machen. Das entsprechende Wissen geben sie mündlich in Erzählungen und Liedern weiter, Generation für Generation, über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg.

Auch deshalb zog es mich 2017 nach São Gabriel. Ich stellte mir vor, dass ich mit den Helden aus Davilsons Geschichten solche Fragen besprechen könnte: Wie viel altes Wissen, zum Beispiel über Naturheilmittel, schlummert noch in ihrer Kultur? Oder: Wissen die Malirinai vom Rio Ayari etwas, das westlichen Forschern nicht bekannt ist? Über die Huhuteni und ihre Heilerfähigkeiten hatten schon frühe Amazonasreisende voller Bewunderung berichtet, zum Beispiel der deutsche Forscher Theodor Koch, der 1903 auf dem Ayari-Fluss unterwegs war.14 Der Besucher aus der hessischen Ortschaft Grünberg berichtete davon, wie »die Indianer« das Augenlicht seines Expeditionsteilnehmers Schmidt von einer schweren Entzündung befreiten. »Schließlich, als alle Mittel aus meiner Reiseapotheke nichts helfen, kurieren ihn die Indianer in kurzer Zeit, indem sie ihm den Saft einer gewissen Schlingpflanze in die Augen träufeln«, schrieb Koch vor mehr als 100 Jahren.

Davilson und ich flogen in die brasilianische Amazonasmetropole Manaus und fuhren mit einem Passagierdampfer 850 Kilometer den Rio Negro hinauf. Wir bezogen zwei fensterlose Zimmer im Deus-me-Deu-Hotel, was in der portugiesischen Sprache so viel wie »Gott hat es mir gegeben« bedeutet. Das...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2021
Zusatzinfo m. Bildteil
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alte Traditionen • Amazonas • Bolsonaro • Brasilien • Brauchtum • Dschungel • eBooks • Expedition • Geographie • Globalisierung • Identität • Indigene Kultur • Klimawandel • Kolumbien • Lateinamerika • Magie • Natur • Regenwald • Reisebericht • Südamerika • Umweltzerstörung • Ureinwohner • Urwald • Venezuela • Walbrand • Waldrodung
ISBN-10 3-641-28042-7 / 3641280427
ISBN-13 978-3-641-28042-0 / 9783641280420
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