Ich denk, ich denk zu viel (eBook)

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
192 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9463-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ich denk, ich denk zu viel -  Nina Kunz
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Was sollen diese ewigen Gedankenschlaufen? Was haben schlaflose Nächte auf Instagram zu bedeuten? Und wie kann Jean-Paul Sartre bei Panikattacken helfen? Persönlich und präzise schreibt Nina Kunz - Schweizer Kolumnistin des Jahres 2020 - über das Unbehagen der Gegenwart und geht der Frage nach, warum sich ihr Leben, trotz aller Privilegien, oft so beklemmend anfühlt. Ein Buch über Leistungsdruck, Workism, Weltschmerz, Tattoos, glühende Smartphones, schmelzende Polkappen und das Patriarchat.

Nina Kunz wurde 1993 geboren, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich und arbeitet seit 2017 als Kolumnistin und Journalistin für Das Magazin des Tagesanzeigers. Ihre Texte erschienen bereits in der Neuen Zürcher Zeitung, der ZEIT und dem ZEITmagazin. 2018 wurde sie zur »Kolumnistin des Jahres« gewählt, 2020 ist sie noch einmal für die Auszeichnung nominiert.

SUMMA CUM GAUDI


Die Universität habe ich als eine Zeit in Erinnerung, in der ich sehr viel geraucht habe. Am besten tat man das vor dem Thomas-Mann-Haus, da hatte man eine Bombenaussicht auf die Zürcher Altstadt, oder an der Doktor-Faust-Gasse, gleich neben dem Hauptgebäude. Man konnte zu jeder Tageszeit zur Doktor-Faust-Gasse gehen, und da waren wunderschöne Leute, die rauchten und interessantes Zeug diskutierten. Wäre ich an der Uni geblieben, hätte ich nie mit dem Rauchen aufgehört.

Wichtig war auch der Kaffee. Nach ein paar Jahren hatte man raus, wo es den besten gibt. Sicher nicht in der Mensa, der schmeckt nach Kanalisation und Erde. Ganz schlimm war auch der aus den Automaten auf den Stockwerken, bei denen niemand weiß, ob die jemals gereinigt wurden. Am besten war der beim Kiosk, gleich neben der Doktor-Faust-Gasse, vielleicht ist der Ort auch darum das soziale Epizentrum des universitären Lebens. Sehr oft bin ich am Nachmittag dann gar nicht mehr ins Seminar, sondern habe mich mit Kaffee und Zigarette in irgendeine Diskussion verstrickt, aus der ich nicht mehr rauskam.

Nach dem Schulabschluss waren (fast) alle Kids aus meiner Klasse erst mal »reisen«. Also ließen sie sich von den Eltern einen Trip nach Australien bezahlen, wo sie Englisch lernen sollten, aber eigentlich nur besoffen mit Dosen nach Kängurus warfen. Ich hatte a) keine reichen Eltern, die mir so was finanziert hätten, und konnte b) die Uni kaum erwarten. Ich war eher ein Teenager von der Sorte: schreibt in ihr Tagebuch, wie sehr sie Hermann Hesse liebt. Meine Erwartungen ans Studium waren hoch. Ich malte mir aus, dass alle nur über Bourdieu reden wollten und gut aussähen, wie in The Graduate – französisch und sexy. Nichts Verschultes mehr, intellektueller Durst in der Luft und am Abend dann in der Kneipe feiern. Einerseits kam es genau so, andererseits genau umgekehrt.

Meine Zeit an der Universität Zürich war eine Mischung aus dem, was die Leute glauben, das die Uni heute ist, und dem, was die Leute glauben, das die Uni einmal war. Symbolisch dafür steht das Wort Bologna. Zum einen ist das eine Reform, die Ende der Neunzigerjahre eingeleitet wurde, um das Studium zu strukturieren, die Fächer in ganz Europa vergleichbar zu machen und die Effizienz des Universitätsbetriebs zu steigern. Die Message war: Das Rumeiern ist vorbei, Leute, die nach 32 Semestern noch keinen Abschluss haben, darf es nicht mehr geben.

Neu gab es ECTS-Punkte, Deadlines, Anwesenheitspflicht. Die Universität wurde genauso vom Productivity-Management-Denken erfasst wie jeder andere Bereich des Lebens. Und darum haben die Leute, die früher studiert haben, das Gefühl, bei ihnen sei alles besser gewesen, da habe man noch Zeit gehabt, sich durch The Decline And Fall of the Roman Empire zu kämpfen und Kockas Thesen zu diskutieren. Heute sei es mehr so ein Studium light. Und sowieso: die Jungen von heute. Die wollen doch nur noch den CV pimpen, Geld verdienen und Tide Pods fressen.

Das Wort Bologna hat aber noch eine andere Bedeutung. Es ist auch der Titel eines Liedes der Band Wanda. Die vier Jungs aus Wien sind bekannt dafür, auf Konzerten betrunken von der Bühne zu fallen, und in dem Lied besingen sie ein Lebensgefühl der Sinnlichkeit und des Exzesses (»Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore!«), und ich glaube, es geht auch um einen Inzest, weil der Sänger in seine Cousine verliebt ist. Jedenfalls ist das Feeling wild, draufgängerisch, das komplette Gegenteil von ECTS-Punkten. Zu diesem Song lag ich während des Studiums oft irgendwelchen Leuten morgens um vier in den Armen und brüllte mir die Seele aus dem Leib, nachdem ich den Nachmittag in der Bibliothek verbracht hatte, um einen Althusser-Text zu entziffern. Also etwa so, wie man sich das Studium 1968 in einer Kitschvorstellung ausmalt. Wer also nicht zu abgelöscht ist, kann heute beides haben: Bologna I und II.

Das Erste, was ich an der Universität lernte, war, dass es fünf Arten von Leuten im Seminar gibt.

1) die, die gar nichts sagen, weil sie den Text nicht gelesen haben;

2) die, die nichts sagen, weil sie den Text nicht verstanden haben;

3) die, die den Text verstanden haben und konstruktiv diskutieren;

4) die, die den Text gelesen haben und sich melden und irgendwas sagen, um dem Prof zu zeigen, dass sie den Text gelesen haben, was aber überhaupt nicht in den Fluss der Diskussion passt;

5) die, die sich melden und eine persönliche Anekdote erzählen, immer, egal zu was. (Ich weiß nicht genau, was deren Motivation ist, ich glaube, es geht darum, auch mal was gesagt zu haben, aber vielleicht sind sie einfach nicht so schlau.)

Es ist also schwierig, ein Seminar zu finden, in dem der Mix der Leute eine lehrreiche Lehrveranstaltung ermöglicht, und du kannst echt Pech haben und ein Semester lang in so Anekdotenkursen hocken und dich fragen, wie das schon wieder passieren konnte, und darüber grübeln, warum die Profs nichts sagen, und dann abschweifen und darüber nachdenken, ob es noch Joghurt im Kühlschrank gibt und ob die Deadline von nächster Woche zu schaffen ist, wenn am Freitag dieses Geburtstagsessen ist.

Ich selbst würde mich irgendwo zwischen Typ 3 und 4 verorten. Als ich an die Uni kam, war ich nämlich total eingeschüchtert von den älteren, hübschen Student*innen, die im Seminar ihre Žižek-Zitate droppten und sich in Diskussionen auseinandernahmen – und mich null ernst nahmen. Also habe ich das erste Jahr damit verbracht, alles zu lesen, was mir in die Finger kam, um mit den Macho-Marxisten mitzuhalten. Innerhalb kurzer Zeit legte ich mir einen neuen Jargon zu und benutzte Begriffe wie »antizyklisch«.

Wenn ich an die Uni denke, denke ich an dieses WC im vierten Stock des Hauptgebäudes, wo man nachmittags mit offener Türe aufs WC gehen konnte und dabei die prächtigste Aussicht auf die Alpen hatte; ich denke an die latente Angst, die man mit sich trägt, weil man nicht weiß, was nach dem Studium kommt, und man ständig gefragt wird: »Und … weißt du schon, was du nachher machst?« Ich denke an die Nachmittage in der Bibliothek, an denen ich einen Text fünfmal durchging mit fünf verschiedenen Farben Stabilos, weil ich nichts verstand, und daran, dass das Blatt nachher aussah wie ein Regenbogen auf Speed. Ich denke an den Professor, der mich mal vor versammeltem Seminar fragte, ob ich mit einem schmutzigen Mönch Sex haben würde, weil er einen Punkt über die mangelnde Hygiene in der Frühen Neuzeit machen wollte.

Dann das Essen. Es gab jeden verdammten Mittag Leute, die sich über das Essen beschwert haben. Bratwurst zu trocken, Pommes zu salzig, zu viel Glutamat in dem undefinierbaren Veggie-Gemüse-Ding (Wok?). Aber denen sollte echt mal einer auf die Schnauze hauen. Das kostet 5.20, und da kannst du nichts sagen. Die Mensa hat uns gut versorgt, und ich habe viel Liebe für alle Mensa-Mitarbeitenden, die uns über Jahre hinweg jeden Tag aushielten. Gut finde ich auch, dass sie knallhart waren, wenn es um den Studierendenausweis ging. Wenn du ihn nicht dabeihast, dann zahlst du extern! Das schmerzt, aber es war ihre Rache für unsere Schnöseligkeit, und wir haben es verdient. Sonst habe ich die Mittage als ein Highlight des Studiums in Erinnerung. Es konnte immer etwas Unerwartetes passieren. Man wusste nie, wer noch dazustoßen könnte, man aß in Gruppen und roch nachher nach Bratfett. Himmlisch.

Das Schönste an der Universität war das Denken. Verschiedene, sich widersprechende Gedanken gleichzeitig zu jonglieren. Diese Art des Denkens, wenn eine einfache Frage – etwa: Was ist eine Nation? – plötzlich so kompliziert wird, dass sie dein Hirn sprengt. Die Uni lehrt dich: Wenn es schwierig wird, macht es Spaß. Und am meisten Spaß macht es, wenn du diese komplizierten Gedanken mit Menschen teilen kannst, die ähnlich denken wie du oder wenigstens die gleichen Bands mögen. Das Denken hat etwas Poetisches, weil es ein wenig ist, wie wenn man vor einem Kunstwerk steht und ständig neue Details entdeckt. Müsste ich wählen, würde ich alles andere eher hergeben als dieses Denken.

Ich habe Geschichte studiert. Wenn ich mir anschaue, was die Geschichtswissenschaft für eine Entwicklung durchgemacht hat, werde ich optimistisch. Am Anfang waren da Historiker wie Leopold von Ranke, die sich ausschließlich für die großen Herrscher interessierten. Dann kamen Marxisten wie Eric Hobsbawm, die fanden: Hey, was ist mit den Arbeiter*innen? Die müssen in der Geschichtsschreibung auch vorkommen! Und dann Feminist*innen, die bemängelten, dass die Frauen vernachlässigt wurden. Kurz: Die Geschichtswissenschaft ist inklusiver geworden. Das gefällt mir. Genauso wie die theoretischen Spinnereien hinter dem Fach, etwa der Dekonstruktivismus. Als mir in einem Seminar zum ersten Mal vorgemacht wurde, wie man ein Konzept hinterfragt und eben: dekonstruiert, war ich baff. Da tat sich eine Welt auf, es wurde bunt. Eine Nation ist nicht einfach eine Nation, quasi von Natur aus. Da braucht es einen Zeitgeist, eine Geschichte, einen Mythos und Interessen. Das Symbolische und das Faktische durchdringen sich komplex. Wow.

Die Partys waren auch wichtig. Eine Zeit lang gab es eine Studi-Party im Plaza, jeweils donnerstags, weil: Wer geht am Freitag schon in die Vorlesung? Da ging man manchmal hin, aber nur ironisch und als Gruppe und klaute Wodka von hinter dem Tresen, wenn der Barkeeper nicht guckte. Gut war auch der ASVZ (der Uni-Sport), da konnte man zu Jennifer-Lopez-Remixes Squats machen, und der Trainer sagte Sachen wie: »Summer bodies are made in winter« und meinte das tatsächlich so. Oder: »Wenn du wirklich nicht mehr kannst, dann mach noch zwei.« Es war die...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ängste • Essays • Feministische Literatur • Gedankenlabyrinth • Gedankenschlaufen • Gegenwart • Generation • Generation Y • Gesellschaft • Instagram • Internet • Kolumnen • Leistungsdruck • Millenials • Netz-Fatigue • new work • Nina Kunz • Sachbuch • Weltschmerz
ISBN-10 3-0369-9463-7 / 3036994637
ISBN-13 978-3-0369-9463-5 / 9783036994635
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