Buddhas vergessene Kinder (eBook)
384 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45090-1 (ISBN)
Barbara Demick ist eine renommierte amerikanische Journalistin, die ab 1986 für 'The Philadephia Inquirer' tätig war, unter anderem als Korrespondentin im Nahen Osten. 2001 ging sie für die 'Los Angeles Times' nach Seoul, von 2007 bis 2016 arbeitete sie als Korrespondentin in Peking. 'Im Land des Flüsterns' wurde mit dem Human Rights Book Award ausgezeichnet. Bei Droemer ist von Demick zudem das aufrüttelnde Buch 'Die Rosen von Sarajevo' erschienen.
Barbara Demick ist eine renommierte amerikanische Journalistin, die ab 1986 für "The Philadephia Inquirer" tätig war, unter anderem als Korrespondentin im Nahen Osten. 2001 ging sie für die "Los Angeles Times" nach Seoul, von 2007 bis 2016 arbeitete sie als Korrespondentin in Peking. "Im Land des Flüsterns" wurde mit dem Human Rights Book Award ausgezeichnet. Bei Droemer ist von Demick zudem das aufrüttelnde Buch "Die Rosen von Sarajevo" erschienen.
Einleitung
Das Stadtzentrum von Ngaba, 2014.
Über Jahrhunderte hinweg wurde Tibet als ein Einsiedlerkönigreich bezeichnet, als ein Land, dessen Wunder von den gewaltigen Bergketten des Himalaja verborgen wurden, das aber zugleich auch abgeschirmt war durch eine theokratische Regierung, die sich auf eine Erbfolge von reinkarnierten Dalai Lamas gründete. In der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts findet man zahlreiche Beispiele, wie Fremde, getarnt als Mönch oder Eremit, heimlich nach Tibet vorzudringen versuchten.
Gegenwärtig wird uns der Zugang nicht durch die Tibeter versperrt, sondern durch die Kommunistische Partei Chinas. Die Volksrepublik China beherrscht Tibet seit 1950 und zeigt sich als unerbitterlicher Torwächter, wenn ausländische Besucher um Einlass bitten. In Lhasa gibt es einen modernen Flughafen mit Filialen von Burger King und Geldautomaten, und aus dem einstmals religiösen Zentrum ist eine auf Vergnügungen ausgerichtete Touristenfalle für fast ausschließlich chinesische Reisende geworden. Ausländer brauchen eine spezielle Erlaubnis, um in die Region zu gelangen, die China »Autonomes Gebiet Tibet« nennt. Und diese Genehmigung erhalten Akademiker, Diplomaten, Journalisten und alle anderen, die vielleicht unangenehme Fragen stellen könnten, nur höchst selten. Die östlichen Ausläufer des Tibetischen Hochlands, und damit die Provinzen Sichuan, Qinghai, Gansu und Yunnan, stehen theoretisch hingegen allen Reisenden mit einem gültigen Visum für die Volksrepublik China offen, doch Ausländer erleben es immer wieder, dass sie an Kontrollpunkten abgewiesen werden und ihnen die Buchung eines Hotelzimmers verweigert wird.
Als Korrespondentin der Los Angeles Times kam ich 2007, also ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen, nach Peking. Während ihrer letztlich erfolgreichen Bewerbung um die Austragung der Spiele machte die chinesische Regierung eine Fülle von Versprechungen, die Menschenrechtslage zu verbessern und China für Journalisten zu öffnen. Vor Ort sah es allerdings so aus, dass Reportern große Landesteile versperrt blieben. Mit am schwierigsten zu erreichen war Ngaba.
Um Ngaba ranken sich viele Mythen. Wenn es überhaupt auf englischsprachigen Landkarten verzeichnet ist, dann mit dem chinesischen Namen »Aba« (was ausgesprochen wird wie die schwedische Popgruppe). Die tibetische Bezeichnung dieser Stadt stellt Nichttibeter meist vor Probleme, da sie für sie wie Nabba oder auch Nah-wa klingen kann, je nach verwendetem tibetischem Dialekt.
Seit den 1930er-Jahren ist Ngaba der Kommunistischen Partei ein Dorn im Auge. Etwa alle zehn Jahre entwickeln sich in der Stadt regierungsfeindliche Unruhen, die unweigerlich eine Spur von Tod und Zerstörung nach sich ziehen. Da sich die Tibeter den Lehren von Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, verpflichtet fühlen, der für sein Eintreten für Gewaltlosigkeit mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, sind in jüngerer Zeit die meisten der Todesopfer auf tibetischer Seite zu beklagen. Während der Proteste des Jahres 2008 eröffneten chinesische Soldaten in Ngaba das Feuer auf Demonstranten. Mehrere Dutzend Menschen kamen ums Leben. 2009 übergoss sich in der Hauptstraße ein buddhistischer Mönch mit Benzin, und nachdem er lautstark die Rückkehr des Dalai Lama aus seinem indischen Exil gefordert hatte, setzte er sich in Flammen. Dies zog eine ganze Woge von Selbstverbrennungen nach sich. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben 156 Tibeter diese Form des politischen Protests gewählt, nahezu ein Drittel davon in Ngaba und Umgebung. Der jüngste Fall ereignete sich im November 2019. Diese Todesfälle bringen Peking in große Bedrängnis, denn sie widerlegen die Behauptung, dass die Tibeter unter chinesischer Herrschaft glücklich und zufrieden sind.
Nach den ersten Selbstverbrennungen verstärkten die Behörden ihre Bemühungen, Journalisten an der Reise nach Ngaba zu hindern. Auf den Ausfallstraßen der Stadt wurden neue Kontrollpunkte errichtet, mit Panzersperren und Barrikaden, bemannt von Mitgliedern paramilitärischer Truppen, die in jedes Auto spähen, um sicherzustellen, dass sich keine Ausländer einschleichen. Einige wagemutige Journalisten kauerten sich auf dem Rücksitz zusammen und hielten die Kamera in die Höhe, um durch das Fenster Aufnahmen zu schießen. Mit unterschiedlichem Erfolg.
Journalisten lassen sich nicht gern etwas vorschreiben. Und wenn man uns von einem bestimmten Ort fernhalten will, werden wir wohl alles daransetzen, um dorthin zu gelangen. In meinem letzten Buch beschäftigte ich mich mit Nordkorea, was mich als Thema auch deshalb so gereizt hatte, weil das Land nur ganz selten westliche Besucher empfängt. Nachdem ich beschlossen hatte, das Leben in einer tibetischen Stadt aufzuzeichnen, fasste ich Ngaba ins Auge. Ich wollte wissen, weshalb die chinesische Regierung diesen Ort so beharrlich vor Reisenden abschirmt. Und warum waren so viele seiner Bewohner bereit, ihre Körper auf eine der schrecklichsten Weisen zu zerstören, die man sich nur vorstellen kann?
Darüber hinaus aber interessierte mich an Tibet das Gleiche wie andere Menschen aus dem westlichen Kulturkreis auch. Ich bin zwar keine Buddhistin, die in fernöstlichen Religionen Trost sucht (und in westlichen letztlich auch nicht), doch in unserer zunehmend gleichförmigen Welt erschien mir Tibet als ein Land, das dank seiner Spiritualität mit einer überaus reichen Kultur, Philosophie und Literatur hervorsticht – ein Umstand, den ich schätzte. Da ich mich intensiv mit chinesischer Geschichte befasst hatte, kannte ich die wichtigsten Fakten der chinesischen Invasion und der Flucht des Dalai Lama. Doch über die realen Tibeter wusste ich wenig – von den Klischees hohlwangiger spiritueller Männer in Höhlen und fröhlicher Nomaden, die Gebetsperlen durch die Finger gleiten lassen, einmal abgesehen. Wie ist es, im 21. Jahrhundert als Tibeter an der Grenze zum modernen China zu leben?
Die neuen Technologien haben die Welt vieler ihrer Rätsel beraubt. Google Earth macht es mithilfe einiger weniger Klicks möglich, in die unzugänglichsten Winkel der Welt vorzudringen. Doch Satellitenbilder können nicht erklären, was dort geschieht. Ich musste Ngaba mit eigenen Augen sehen.
Hier noch ein paar Worte zur Geografie: Nur eine Hälfte des Tibetischen Hochlands gehört aus Gründen, die ich später im Text erläutern werde, zu der von der chinesischen Regierung als Autonomes Gebiet Tibet bezeichneten Region. Die Mehrheit der Tibeter lebt jedoch in Teilen der Provinzen Sichuan, Qinghai, Gansu und Yunnan, die zwar nicht zum »offiziellen Tibet« gehören, aber trotzdem tibetisch sind. Zudem haben sich diese östlichen Ausläufer der Hochebene in den letzten Jahrzehnten zum Kernland Tibets entwickelt und einen überproportional hohen Anteil an berühmten tibetischen Musikern, Filmregisseuren, Autoren, Aktivisten und Lamas – darunter den gegenwärtigen Dalai Lama – hervorgebracht.
Ngaba liegt in der Provinz Sichuan, in etwa an der Schnittstelle zwischen dem Tibetischen Hochland und China, wodurch es gewissermaßen zu einer Grenzstadt wird. Der Weg dorthin führt gewöhnlich durch Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, die eine weitere von Chinas Megacitys ist.
Lässt man die geschniegelten Einkaufszentren mit ihren Gucci- und Louis-Vuitton-Filialen und die Betonhochhäuser mit ihren Wohnwaben hinter sich, fährt man zunächst ein Stück auf der Ringstraße und biegt dann ab Richtung Norden, in die Berge. In Luftlinie liegt Ngaba lediglich 330 Kilometer entfernt, doch die Fahrt durch den gemäßigten Regenwald des Qionglai-Gebirges, dem natürlichen Lebensraum von Chinas geliebten Pandas, dauert einen ganzen Tag. Enge Serpentinen, die nass sind von den beständig von den Felsen tropfenden Rinnsalen, führen unentwegt bergauf. Hat man die Hochebene erreicht, treten die Bäume zurück, und die Landschaft öffnet sich. Dies ereignet sich so unvermittelt, dass man das Gefühl hat, ein Tor zu durchschreiten und in eine neue Dimension einzutreten.
In alle vier Himmelsrichtungen erstreckt sich ein knotiger grüner Teppich und markiert die Konturen der Hügel und Hänge. Auf den Hochglanzfotos der Tibet-Bildbände ist der Himmel stets strahlend blau, aber während meiner Besuche, die meist in den Frühling fielen, waren die Wolken dick wie Wattebäusche und hingen so tief, dass sie die Berggipfel umhüllten. Die Dörfer an der Straße sind Ansammlungen flacher Lehmhäuser, und zottelige Yaks und Schafe ignorieren die wenigen vorbeirollenden Autos. Ausgesuchte Stellen sind für Opfer an die Gottheiten vorgesehen, die, wie die Tibeter glauben, alle Anhöhen und Bergpässe ihres Landes bewohnen. Auf den Kämmen flattern zu blassen Pastellfarben ausgeblichene Gebetsfahnen.
Ngaba liegt rund 3300 Meter über dem Meeresspiegel, was einem wegen der flachen Landschaft nicht unbedingt ins Auge fällt. Das Zentrum besteht lediglich aus einer schmalen, städtisch angehauchten Schneise durch das endlose Grasland. Die Nationalstraße 302 führt geradewegs durch den Ort, und wenn man sie entlangfährt, hat man ihn innerhalb von einer Viertelstunde von einem Ende zum anderen durchquert. 2013 wurde die erste Verkehrsampel aufgestellt. In dieser ländlichen Gegend ist es nichts Ungewöhnliches, Pferde und Reiter zu sehen, obwohl man heutzutage meist per Motorrad reist oder die Motorradrikscha nimmt. Ein Großteil der Älteren und auch einige jüngere Leute tragen die Chuba, das an der Taille mit einer Schärpe gebundene tibetische Gewand, viele aber wählen den Kompromiss zwischen Tradition und Konfektionsware und ergänzen sie mit einem Cowboyhut und flauschigen Schaffell- oder Daunenjacken. Die Frauen tragen oft lange...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2021 |
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Übersetzer | Barbara Steckhan, Karola Bartsch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Asien • assimilation • Barbara Demick • Buddhismus • China • Dalai Lama • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Erfahrungsberichte • Erzählendes Sachbuch • Exil • Flucht • Freiheit • Gewalt • Im Land des Flüsterns • Langer Marsch • Lebensgeschichten • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • MAO • Politik • Provinz • Reportage • Schicksal • Schicksale Bücher • Schicksale und Erfahrungen • Selbstverbrennung • Tibet • Tibet Buch • Tibet Buddhismus • Tibet China • Tibet Geschichte • Tibetische Kultur • Tibetischer Buddhismus • Tibet sachbuch • Tiziano Terzani • Unterdrückung • wahre Begebenheit Buch • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher |
ISBN-10 | 3-426-45090-9 / 3426450909 |
ISBN-13 | 978-3-426-45090-1 / 9783426450901 |
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Größe: 4,6 MB
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