So lernen Kinder sprechen (eBook)
116 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61404-2 (ISBN)
Walburga Brügge und Katharina Mohs sind Logopädinnen in Hamm/Westf.
Walburga Brügge und Katharina Mohs sind Logopädinnen in Hamm/Westf.
1 | Grundlagen des Spracherwerbs |
Welche Rahmenbedingungen und Erfahrungen aus der Umwelt des Kindes beeinflussen die Sprachentwicklung? – In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen für den Spracherwerb dargestellt. |
Die Sprache ist der Schlüssel zur Welt. (Wilhelm von Humboldt)
Welche Bedeutung hat Sprache für uns?
Sprache ist ein Bindeglied zwischen Menschen.
Sprache ermöglicht es uns, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Je differenzierter wir uns ausdrücken können, desto vielfältiger ist das, was wir austauschen. Wir können unsere Gedanken und Gefühle mitteilen, Wünsche äußern, Erlebnisse erzählen, Fragen stellen, Handlungen planen, Zusammenhänge verstehen oder Ablehnung ausdrücken und Konflikte klären.
Wir bauen soziale Beziehungen auf und erleben Teilhabe. Über Sprache erwerben wir Wissen, somit ist sie ein wichtiger Schlüssel zum Bildungserfolg.
Sprache ist ein System aus Wörtern und grammatikalischen Regeln, die das Kind während seiner Entwicklung erwirbt. Sprache ist auch ein Symbolsystem, in dem jedes Wort bzw. jeder Satz eine bestimmte Bedeutung trägt. Je höher die sprachliche Kompetenz eines Kindes ist, desto größer sind seine Möglichkeiten, sprachliches Angebot in Wort oder später in Schrift zu erfassen, zu verstehen und zu verarbeiten.
Voraussetzungen für die Sprachentwicklung
Die Sprachentwicklung ist komplex.
Die Sprachentwicklung ist von Entwicklungsprozessen und Erfahrungen in verschiedenen Bereichen sowie von Einflüssen aus der Umwelt des Kindes abhängig. In Abb. 1 sind die Voraussetzungen als Puzzleteile dargestellt. Das mittlere Teil im Puzzle steht symbolisch für die Sprachentwicklung des Kindes. Damit diese altersentsprechend verläuft, ist es wichtig, dass das Gefüge der verschiedenen Anteile, die Einfluss auf die sprachliche Entwicklung nehmen, möglichst vollständig ist. Nur wenn das ganze System gut zusammenwirkt, kann der Spracherwerb ungestört verlaufen.
Abb. 1: Gefüge der Sprachentwicklung
Sprachliche Vorbilder
Kinder brauchen Interaktion.
Ein wichtiger Baustein für die Sprachentwicklung ist das sprachliche Umfeld des Kindes. Eingebettet in die Interaktion mit anderen Personen erwirbt ein Kind Sprache. In den ersten Lebensjahren sind die nächsten Bezugspersonen des Kindes die (Sprach-)Vorbilder und nehmen hier eine Schlüsselrolle ein. Durch sprachliche Zuwendung während der Interaktion wird das Kind angeregt, Laute oder Wörter zu imitieren. Das passiert oft ganz nebenbei in alltäglichen Situationen, wie z. B. beim Anziehen, wenn miteinander gesprochen wird.
Die sprachsensible Phase im Verlauf der Entwicklung liegt zwischen dem 9. und 36. Monat. In dieser Zeit ist das Kind besonders aufmerksam für sprachliches Angebot und erweitert seinen Wortschatz rasant. Mit Zunahme des Wortschatzes wächst auch die Fähigkeit, Sätze zu bilden. Vor allem in dieser Zeit ist ein qualitativ gutes sprachliches Angebot wichtig, weil die Kinder die eigene Lautproduktion dem sprachlichen Vorbild anpassen.
Für jeden Laut wird ein bestimmtes Bewegungsmuster gespeichert. So müssen z. B. für die Bildung des |m| die Lippen locker aufeinander liegen, bei der Bildung des |l| berührt die Zungenspitze den vorderen Gaumen. Im Hör-Sprach-Regelkreis erfolgt die ständige Korrektur des Bewegungsablaufes. Die eigene Lautproduktion wird mit dem sprachlichen Vorbild verglichen und verändert, bis sie als gleich empfunden wird. Dieser Kreislauf wiederholt sich so lange, bis das Kind entscheidet, dass die eigene Aussprache der des Gegenübers gleicht (Abb. 2). Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Artikulation des Kindes dann bereits korrekt ist, aber das Kind hat sich einem Zielwort soweit genähert, wie es ihm zu dem Zeitpunkt möglich ist. Der Bewegungsablauf wird als „richtig“ gespeichert und im Sprechablauf ohne weitere Aufmerksamkeit auf korrigierende Rückmeldung des Gesprächspartners eingesetzt, d. h. der eigenen Artikulation wird zunächst keine Beachtung mehr geschenkt. Im weiteren Verlauf der Sprachentwicklung ist die erneute Aufmerksamkeit auf dieses Wort und entsprechend eine neue Anpassung möglich, aber manchmal behält ein Kind ein so gespeichertes Wort lange bei.
Abb. 2: Hör-Sprach-Regelkreis
Entdeckung der Umwelt
Kinder sind neugierig.
Je mobiler ein Kind wird, desto größer wird sein Aktionsradius, in dem es seine Umwelt erkunden und entdecken kann. Schon im Alter von ca. vier Monaten beginnt es, neugierig nach Gegenständen zu greifen und diese in den Mund zu stecken. Über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Ertasten sammelt das Kind erste Informationen über die Gegenstände, die es im Lauf der Zeit als Erfahrungen speichert.
Begreifbar werden Gegenstände und ihre Funktion für das Kind erst durch eigenes Hantieren mit verschiedenen Dingen (s. Kap. 1, „Spiel“). Die einzelnen Informationen, die das Kind sammelt, werden erweitert, indem sie mit anderen Eindrücken verglichen und auf neue Situationen übertragen werden.
Hörvermögen
Ohne Hören keine Sprache.
Bereits Säuglinge nehmen Geräusche wahr. Das ist z. B. daran zu erkennen, dass sie während des Trinkens innehalten oder den Kopf bzw. die Augen in Richtung der Schallquelle bewegen, wenn Geräusche oder Stimmen in ihrer Umgebung zu hören sind.
Auf Geräusche, Musik oder Stimmen reagieren Kinder schon früh.
Kinder, deren Hörvermögen beeinträchtigt ist, ahmen keine oder weniger Sprache nach, da ihnen die Hörerfahrungen für Umweltgeräusche, Klänge und Sprache fehlen. Die Entwicklung des Sprachverständnisses kann ebenfalls beeinträchtigt sein, da die Kinder während der Interaktion das sprachliche Angebot der Bezugspersonen zu Tätigkeiten oder Gegenständen nur eingeschränkt hören können.
Tipp
→Reagiert das Kind nicht auf Geräusche oder Klänge (z. B. Klingeln des Telefons, Radio) und zeigt es im Alter von drei bis sechs Monaten keine Lauschreaktion auf Stimmen, ist es ratsam, untersuchen zu lassen, ob eine Hörstörung besteht. Zur Abklärung kann zunächst der Kinderarzt, ein Hals-, Nasen-, Ohrenarzt bzw. ein Phoniater aufgesucht werden.
Einschränkungen im Hörvermögen sollten so früh wie möglich erkannt und behandelt werden. Schon bei einer leichten Einschränkung des Hörvermögens können ähnlich klingende Laute und Wörter nicht mehr sicher voneinander unterschieden werden: Heißt es Fahne oder Sahne? Laute, die vom Kind nicht gehört werden, kann es auch nicht erlernen.
Häufig wiederkehrende oder länger andauernde Infekte im Hals-, Nasen-, Ohrenbereich können das Hörvermögen beeinträchtigen, ohne dass die Bezugspersonen dies direkt bemerken. In diesem Fall ist es wichtig, das Hörvermögen in regelmäßigen Abständen untersuchen zu lassen.
Motorik
Bewegung fördert Selbstständigkeit und Selbstvertrauen.
Kinder bewegen sich gern. Die Organsysteme unseres Körpers sowie die Muskeln und Sinne brauchen die Impulse der Bewegung, um sich optimal zu entwickeln. Indem sie ihren Bewegungsradius stetig erweitern, lernen die Kinder, sich mit verschiedenen Materialien in ihrer Umgebung auseinanderzusetzen und den Einsatz von Körperkraft sowie die Kraftdosierung einzuschätzen. Sie erweitern ihren Erfahrungsschatz, lernen die eigenen Grenzen kennen und gewinnen an Sicherheit, Selbstvertrauen und Selbstständigkeit. Zudem werden Ausdauer, Beweglichkeit, Reaktionsfähigkeit, Gleichgewicht und Koordination geschult.
Bereiche der Motorik
Körpermotorik: Dazu gehören alle gesamtkörperlichen Bewegungen, z. B. laufen, klettern, hüpfen, Dreirad oder Roller fahren, balancieren, mit einem Ball spielen.
Handmotorik: Bewegungsabläufe und Koordination der Hände und Finger gehören zur Fein- oder Handmotorik. Dafür müssen Kraft und Geschwindigkeit der Bewegungen dosiert und die Bewegungen exakt aufeinander abgestimmt werden. Feinmotorik zeigt sich vor allem in den Bewegungen der Hände und Finger, z. B. beim Falten, Schneiden, Perlen auffädeln, Malen, Kleben.
Mundmotorik: Hierzu gehören alle Bewegungen der Zunge, der Lippen, des Unterkiefers und der Wangen, die zum Sprechen und zur Nahrungsaufnahme (saugen, kauen, schlucken) von Bedeutung sind.
Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Bewegungsabläufe oder bestimmte motorische Fertigkeiten zu speichern, indem er diese oft wiederholt. Es bildet sich eine Art „Bewegungsgedächtnis“ für komplexe motorische Abläufe aus, z. B. das Treppensteigen, das Radfahren, das Ballwerfen oder -fangen o. ä.
Die Aussprache erfordert eine gut entwickelte Mundmotorik.
Für die Bildung von Lauten oder das Aussprechen von Wörtern wird eben diese Speicherung von Bewegungsabläufen genutzt. Jedem Laut ist ein spezielles motorisches Muster zugeordnet, d. h. Zunge, Lippen, Kiefer und Gaumensegel nehmen jeweils eine bestimmte Position ein, wenn ein Laut gebildet wird. So muss z. B. zur Bildung des Lautes |k| der Zungenrücken einen Verschluss mit dem Gaumen bilden; liegt die Zungenspitze am vorderen Gaumen, entsteht ein |t|. Jedes Wort ist aus einer Abfolge von Lauten zusammengesetzt. Die Speicherung der Bewegungsabläufe erleichtert das schnelle und präzise Aussprechen von Wörtern. Eingeschränkte oder langsame mundmotorische Bewegungen können die Artikulation erschweren.
Wahrnehmung
Wahrnehmung bedeutet...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Reihe/Serie | Kinder sind Kinder |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Sozialwissenschaften ► Pädagogik | |
Schlagworte | Eltern • Logopädie • Sprachentwicklung • Sprachheilpädagogik • Sprechen • Stottern |
ISBN-10 | 3-497-61404-1 / 3497614041 |
ISBN-13 | 978-3-497-61404-2 / 9783497614042 |
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Größe: 8,3 MB
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