Hypochonder leben länger (eBook)

und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30138-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hypochonder leben länger -  Jakob Hein
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Platz 6 der Sachbuch-Bestenliste von Deutschlandfunk Kultur, Die Zeit & ZDF - Platz 16 der SPIEGEL-Bestsellerliste Als Psychiater bist du nicht für Antworten zuständig, sondern für Fragen. Der Schriftsteller Jakob Hein arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Psychiater. Und er liebt seinen medizinischen Beruf mindestens genauso sehr wie das Verfassen von Romanen. Kein Wunder, denn auf beiden Gebieten kann er das, was ihn am meisten ausmacht, umsetzen: seine liebe- und humorvolle Zugewandtheit dem Menschen gegenüber. In seinem Buch nimmt Jakob Hein die Leser mit auf eine Reise durch seinen Alltag als Psychiater. Er erzählt von seinen Erfahrungen im Umgang mit bestimmten Themen, und dabei auch von seiner Skepsis gegenüber einengenden Diagnosen und der Geste des Experten. Er erzählt von hilfreichen Gesprächen, Placebos und Medikamenten. Vor allem aber macht er begreifbar, dass jeder Mensch den Code zum Schatz seines Lebens in sich trägt und es immer aufs Neue darum geht, diesen zu entschlüsseln. Und dass die allermeisten Weisheiten zum Menschen stimmen. Oder auch nicht. Denn: Hypochonder leben länger!

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

Jakob Hein arbeitet als Psychiater. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter Mein erstes T-Shirt (2001), Herr Jensen steigt aus (2006), Wurst und Wahn (2011), Kaltes Wasser (2016) und Die Orient-Mission des Leutnant Stern (2018). Sein Buch Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis (2020) stand nach Erscheinen wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien sein Roman Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken im Frühjahr 2022.

Inhaltsverzeichnis

Niedergelassen und niedergeschlagen


»Das ist bestimmt schwer so als Einzelkämpfer.«

In beruflichen Krisensituationen empfehle ich meinen Patientinnen immer, sich möglichst zu bewerben. Am besten auf einen Job, den man gern hätte, notfalls tut es aber auch jeder andere. Ich kann diese Empfehlung aus erster Hand geben, denn es war eine Bewerbung, die mir einmal sehr weitergeholfen hat.

In einem Krankenhaus, dessen Adresse mir natürlich entfallen ist, war eine attraktive Stelle zu besetzen und ich fühlte zunehmend, dass meine Person den Belastungen einer Universitätsklinik und noch mehr die betreffende Uniklinik der Belastung durch meine Person nicht dauerhaft gewachsen sein würde. Also bewarb ich mich – mit der Bitte um unbedingte Vertraulichkeit – auf die Stelle. Ein Termin wurde vereinbart, den ich entgegen meinem natürlichen Hang zur manchmal schon ins Zwanghafte gehenden Offenheit geheim hielt. Dann setzte ich mich ins Auto und fuhr zu dem Krankenhaus. Es war ein kalter Tag Anfang November. Ich parkte mein Auto und hatte zum Glück noch genügend Zeit, meinen Treffpunkt in dem großen Krankenhauskomplex zu finden. Man sollte das Finden von Räumen in Krankenhäusern nie unterschätzen. Es gibt dort die verschiedenen Kliniken und Verwaltungseinheiten und wenn man ganz großes Pech hat, ist das Krankenhaus historisch gewachsen, sodass man einen Termin mit dem Verwaltungsdirektor der Kardiologie durchaus auch mal in der Alten Bibliothek haben kann. Mich hat das Krankenhaus Huddinge in Stockholm sehr beeindruckt, wo ich im Studium einige Wochen verbrachte. Hier standen Roller für jedermann zum Ausleihen herum, die man sich nehmen konnte, um schneller durch die schier endlosen Gänge zu kommen. Huddinge war architektonisch kein besonders schönes Krankenhaus, aber eine Zeit lang rühmte es sich, den längsten Flur Europas zu besitzen.

Bei meinem Bewerbungstermin fand ich meinen Treffpunkt, wurde gebeten, noch ein paar Minuten zu warten, und verbrachte diese Minuten auf einer metallenen Bank mit Blick auf Zeitschriften und Arztkunst an der Wand. Und in diesen Minuten wurde mir klar, dass ich diese Stelle nicht haben wollte. Egal, was sie mir anbieten würden, unabhängig davon, was sie mir versprechen wollten, ich wollte den Job nicht haben. Wenn es ein rational handelndes Krankenhaus war, dann würde es darum gehen, dass ich mit meiner Arbeit mehr Geld verdiente, als sie mir zahlen wollten, und dazu hatte ich keine Lust. Und wenn es ein irrational handelndes Krankenhaus war, wollte ich dort sowieso nicht arbeiten. Nein, die Universitätsklinik müsste es noch eine Weile mit mir aushalten und ich würde mich nach dieser Weile in einer eigenen Praxis niederlassen. Ein anderes Krankenhaus war nicht die Antwort.

Diesen Entschluss fasste ich ein paar Jahre, bevor ich mich tatsächlich niederließ, was weitsichtig war. Im Nachhinein wäre es mir lieber gewesen, diese Weitsicht und Klarheit eine Stunde später erlangt zu haben, denn auf diese Stunde wäre es nun auch nicht mehr angekommen. Da saß ich nun in Schlips und Kragen, Augenblicke vor einem Bewerbungsgespräch für eine ausgeschriebene Stelle, auf die ich mich aufwendig beworben hatte, und wollte plötzlich den Job nicht mehr haben.

Das Gespräch wurde eine der schweren Stunden meines Lebens. Weglaufen konnte ich nicht, sie hatten meine Adresse, sie hatten sogar meine Telefonnummer. Ich wollte sie auch nicht zufällig später auf irgendeinem Kongress am Büfett treffen und mich unendlich schämen. Gleichzeitig konnte ich auch nicht ehrlich sein, was oft eine gute Idee ist, aber eben nicht immer. »Es tut mir leid, aber leider ist mir vor fünf Minuten eingefallen, dass ich den Job, für den ich mich mit meinem Lebenslauf, meinem Anschreiben, den Fotos und der aufwendigen Bewerbungsmappe bei Ihnen beworben habe und über den wir schon zwanzigmal hin- und hergemailt haben, nun doch nicht haben will. Ist mir eben ohne ersichtlichen Anlass beim Betrachten der gerahmten Reproduktion mäßiger Qualität eines der schwächeren Werke von Monet eingefallen.« Das hätte unfreundlich und arrogant gewirkt, diese freundlichen Menschen konnten ja nichts dafür. Ich hatte gewissermaßen eine Offenbarung, eine Klarheit erlangt, die ich niemals ohne diesen Bewerbungstermin bekommen hätte. Also musste ich das durchziehen.

Das Bewerbungsgespräch hatte dann etwas von der ersten Probe eines Laientheaters, das ein deutlich zu ambitioniertes Stück gewählt hat. Wir lieferten gegenseitig unsere Texte ab, aber es entwickelte sich keine dramaturgische Spannung, weil der Hauptdarsteller einfach nicht in der Lage war, eine echte, glaubhafte Motivation für die Szene zu entwickeln.

»Warum wollen Sie denn hier bei uns Führungsverantwortung übernehmen?«

»Ich, ja, na ja, weil es doch vielleicht eine – sagen wir mal – spannende Herausforderung wäre?«

Die immer weniger freundlich lächelnde Bewerbungskommission tat mir leid und ich tat mir leid, es war eine verfahrene Situation – doch uns blieb nichts anderes übrig, als hier ein paar Minuten unserer Zeit zu verschwenden. Am Ende war ich erleichtert, das Krankenhaus wieder verlassen zu können, hörte laut Musik auf dem Heimweg und eröffnete eine eigene Praxis, als meine Zeit in der Universitätsklinik ein paar Jahre später tatsächlich vorbei war.

 

Für die Zeit zwischen Krankenhaus und Niederlassung musste ich mich arbeitssuchend melden, was nicht einmal so einfach war. Technisch war es unkompliziert, ich hatte meine Daten über das Internet in das System des Arbeitslosenamtes einzugeben, sobald ich wusste, dass ich arbeitslos werden würde. Dann hatte ich mich am ersten Tag meiner Arbeitslosigkeit auf dem Amt zu melden. Sinn der Übung war, Unterstützung bei der Selbstständigkeit zu erhalten, die sehr bescheidene Überweisung vom Arbeitsamt würde in den ersten zehn Monaten meine einzige Einnahmequelle sein.

Also tippte ich meine Angaben in die Datenbank des Arbeitsamtes. Zeitpunkt des Beschäftigungsendes: 30. April. Derzeitige Position: Oberarzt. Qualifikation: Facharzt. Flexibilität: gering (wegen Kindern). Angestrebte Position: Chefarzt.

Wie gesagt, ich wollte keinen Job, sondern Unterstützung bei der Selbstständigkeit. Darum tippte ich dieses völlig illusorische Profil von mir ein. Ein örtlich und zeitlich unflexibler Berliner, der gern Chefarzt werden möchte. Das Gegenteil konnten sie mir auch nicht beweisen, schließlich war ich ja jahrelang Oberarzt gewesen, warum sollte ich nun nicht nach Höherem streben? Ein bisschen musste ich selbst grinsen, als ich »Senden« drückte.

Das Grinsen verging mir sofort, als nach Sekunden nicht die erwartete Rückmeldung kam: »Wir haben Ihre Daten erfasst und werden uns zu einem gegebenen Zeitpunkt bei Ihnen melden.« Stattdessen stand da: »Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, 8 Stellenangebote für Ihr Profil gefunden zu haben.« Tatsächlich hatten sie acht Chefarztstellen in ihrer Datenbank, die für mich in weniger als einer Stunde erreichbar waren! Ich war konsterniert. Chefarzt – zu meiner Anfangszeit war das eine Berufung, wie ein Ritterschlag, nur besser. Die Mitarbeiterinnen standen Schlange, um dem Chef einen Kaffee zu machen. Wenn er Geburtstag hatte, feierte die Klinik, wenn er einlud, kam die Welt! Chefarzt konnte man nicht werden, dazu wurde man gemacht. Und nun bot mir das Arbeitsamt acht Chefarztstellen zum Aussuchen an.

Zum Glück hatte ich auf dem Amt einen so weit verständigen Sachbearbeiter, dem alles weitgehend gleichgültig war, also auch, wie er mich wieder in eine Arbeit beförderte und mich bei meiner Selbstständigkeit unterstützte. Als etwas absurd empfand ich die Auflage, einen Businessplan vorlegen zu müssen, mit Geschäftsmodell, Risiken, Gewinnerwartungen und Perspektiven. Ich wollte gern: »Hallo? Arztpraxis!« unter der Überschrift »Businessplan« auf ein Blatt Papier kritzeln und das dann abgeben, besann mich aber eines Besseren. Ein paar Wochen später saß ich in meiner Praxis.

Wie soll man das Gefühl beschreiben? Ungefähr wie eine Mischung aus dem erwachsenen Gefühl von Urlaub und dem kindlichen Vergnügen des Schummelns, in den ersten Monaten vermischt mit der Vorahnung, dass gleich mein Chef hereinkommen, mich zur Schnecke machen wird, ich auffliege und der Spaß vorbei ist. Von einem Tag zum anderen war es mein Job, einfach eine Patientin nach der anderen zu sehen, Diagnosen zu stellen, die ich für richtig hielt, und die Therapien durchzuführen oder anzuordnen, die ich für richtig hielt, und zwar solange ich das für richtig hielt. Und wenn ich beispielsweise Flüchtlinge behandeln wollte, deren Kostenübernahme völlig unklar war (und teilweise lange unklar blieb), dann konnte ich das einfach tun. Der einzige Geschädigte war theoretisch ich selbst, aber mein Schaden war, dass ich das tun durfte, was ich tun wollte. Das war zu verschmerzen.

Es war und ist ein Traum! Kein Chef, der einen darauf hinweist, dass die Zahlen für den Verwaltungsdirektor dringend gemacht werden müssen, dass vom Vorstand mal wieder eine neue Initiative zur Verbesserung von allem gestartet worden ist und ich da mal hinsoll, um zu sehen, was nun wieder verschlechtert wird, kein Controlling, das ein umfassendes Qualitätsmanagement für alles verlangt, ohne irgendeine Art von Zeitkontingent dafür vorzusehen, keine Verwaltungsleitung, die bereits vor vier Stunden die Liste über die Neubestellung von Verbrauchsmaterialien geschickt hat und nun dringend erwartet, dass gemäß dieser Liste künftig bestellt wird, und keine Anrufe, keine Dienste und keine Sitzungen! Keine Sitzung der...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Burn-out • Hypochonder • Jakob Hein • Psychiater • Psychiatrie • Psychoanalyse • Psychotherapie • Therapeut • Therapie
ISBN-10 3-462-30138-1 / 3462301381
ISBN-13 978-3-462-30138-0 / 9783462301380
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