Das entwertete Selbst
Campus (Verlag)
978-3-593-51223-5 (ISBN)
Anne Röwer, Dr. phil., hat am Institut für Soziologie der Universität Jena promoviert.
Inhalt
Einleitung 8
I Forschungskontext
1 Begriffliche Vorbemerkungen 13
1.1 Gesundheit und Krankheit 13
1.2 Pathogenese und Salutogenese 15
1.3 Stress: Belastung und Bewältigung 18
2 Forschungsstand und Forschungslücke 26
2.1 Stressoren und Einflussgrößen 33
2.2 Theoretische Ansatze 49
2.3 Kritische Bilanzierung und Forschungsansatz 53
II Theoretische Grundlagen
3 Identität 58
3.1 Identität und Erfahrung: Identität als relationaler Prozess 60
3.2 Komponenten von Identität 65
4 Anerkennung 78
4.1 Anerkennung als Kategorie 80
4.2 Anerkennung als Bedingung für Identität 94
4.3 Anerkennung und Arbeit 111
III Methodisches Vorgehen
5 Vorüberlegungen, Forschungsdesign und Interviewleitfaden 123
6 Feldzugang, Fallauswahl und Durchführung 126
7 Auswertung 130
IV Ergebnisse
8 Bedrohte Identität: Nicht-Anerkennung und Erwerbsarbeit 147
8.1 Nicht-Anerkennung 152
8.2 Nicht-Wertschätzung 161
8.3 Nicht-Achtung 177
8.4 Nicht-Anerkennung in der Erwerbstätigkeit 198
8.5 Nicht-Anerkennung in der Erwerbslosigkeit 225
9 Beschädigte Identität: Folgen von Nicht-Anerkennung 248
9.1 Zweifel am und Behauptung des Selbst in der Erwerbstätigkeit 252
9.2 Verlust des und Kampf um das Selbst in der Erwerbslosigkeit 295
9.3 Zusammenschau der Typen 328
9.4 Elemente der Deutungslogiken und Identitätseffekte 330
9.5 (Hinter-)Gründe differenter Deutungslogiken 350
10 Identität und Gesundheit 369
V Soziale Bedingungen und soziale Bedingtheit
11 Gesellschaftlicher Kontext 381
12 Wandel der Anerkennungsnormen 387
12.1 Subjektivierung von Arbeit 388
12.2 Aktivierende Arbeitsmarktpolitik 411
12.3 Delegitimierung von Anerkennungserwartungen 432
13 Wandel der Zurechnungsmuster 436
13.1 Individualisierung als Zurechnungsmuster 438
13.2 Subjektivierung und individualisierende Zurechnung 450
13.3 Aktivierung und individualisierende Zurechnung 454
14 Exkurs: Konsequenzen für Kämpfe um Anerkennung 459
15 Anerkennung und Herrschaft 467
15.1 Sozialisation in die (Erwerbs-)Arbeitsgesellschaft 469
15.2 Alltäglicher Anpassungsdruck 475
15.3 Disziplinierung durch Unsicherheit 479
Schluss 486
Literatur 505
Danksagung 531
»Röwer legt in ihrem Buch [...] theoretisch begründet und empirisch fundiert dar, weshalb Menschen in Erwerbsarbeitsgesellschaften sowohl unter der Erwerbsarbeit als auch unter dem Fehlen ebendieser leiden. Sie zeigt auf, wie nicht bewältigte/zu bewältigende Negationserfahrungen die Identität (d.h. hier insbesondere Selbstwert und Kontrollüberzeugung) schädigen können.« Dr. des. Benedikt Hassler, socialnet.de, 09.10.2020»Flankiert von einer Vielzahl an sozialdiagnostisch anschlussreichen Beobachtungen, legt Röwer einen empirisch fundierten Beitrag zu einer Anerkennungssoziologie der Arbeit vor, die Modi der Nichtanerkennung in ihrer gelebten Relevanz beleuchtet.« Veronika Zink, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2021) 73: 159-162
»Röwer legt in ihrem Buch […] theoretisch begründet und empirisch fundiert dar, weshalb Menschen in Erwerbsarbeitsgesellschaften sowohl unter der Erwerbsarbeit als auch unter dem Fehlen ebendieser leiden. Sie zeigt auf, wie nicht bewältigte/zu bewältigende Negationserfahrungen die Identität (d.h. hier insbesondere Selbstwert und Kontrollüberzeugung) schädigen können.« Dr. des. Benedikt Hassler, socialnet.de, 09.10.2020
»Flankiert von einer Vielzahl an sozialdiagnostisch anschlussreichen Beobachtungen, legt Röwer einen empirisch fundierten Beitrag zu einer Anerkennungssoziologie der Arbeit vor, die Modi der Nichtanerkennung in ihrer gelebten Relevanz beleuchtet.« Veronika Zink, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (2021) 73: 159–162
Einleitung Psychische Leidenserfahrungen sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit und medialen Berichterstattung gerückt. Besondere gesellschaftliche Aufmerksamkeit wird dabei den psychischen Erkrankungen Beschäftigter zuteil und im Zusammenhang mit psycho-sozialen Belastungen einer sich wandelnden Arbeitswelt diskutiert. Von den Leidenserfahrungen Arbeitsloser ist hingegen wenig zu hören. Unabhängig von ihrer öffentlichen Rezeption zeigt die wissenschaftliche Befundlage allerdings deutlich, dass Erwerbslose mit einer Reihe unterschiedlicher Belastungen konfrontiert und doppelt so häufig von psychischen Störungen betroffen sind wie Erwerbstätige. Offenbar leiden Menschen an (Erwerbs-)Arbeit und an ihrer Abwesenheit. Die Vermutung, dass diese trivial anmutende Feststellung etwas mit der Bedeutung von Erwerbsarbeit in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften zu tun hat, drängt sich geradezu auf. Obgleich die bisherige Forschung sowohl für das Feld der Erwerbstätigkeit als auch das der Erwerbslosigkeit eine Vielzahl von Stressoren und Einflussfaktoren identifiziert hat, ist unzureichend aufgeklärt, wie diese auf das gesundheitliche Befinden wirken. Stressoren sind keine »Gummibälle«, die nach den Betreffenden geworfen werden und »Eindrücke« in den Individuen hinterlassen. Um einen Beitrag zum Schließen dieser Lücke zu leisten, werden die, in ihrer für den Stressprozess konstitutiven Funktion ausgewiesenen, subjektiven Deutungen zum zentralen Gegenstand der Untersuchung. Entscheidend für das Vorgehen ist, dass Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit nicht, wie sonst üblich, getrennt voneinander betrachtet, sondern als zwei »Ausprägungen« einer zentralen gesellschaftlichen Institution begriffen werden. Wenn es darum geht, die Bedeutung von Erwerbsarbeit in ihrer Relevanz für das subjektive Belastungserleben näher zu betrachten, ist naheliegend, diese systematisch von beiden Seiten aus zu erschließen. Die Rede von Bedeutung meint zudem zweierlei: Es geht um die gesellschaftliche und die subjektive Bedeutung von Erwerbsarbeit, die freilich aufs Engste miteinander verstrickt sind. Erwerbsarbeit ist konstitutiv für das normative Selbstverständnis und das institutionelle Arrangement einer »(Erwerbs )Arbeitsgesellschaft«. Sie ist zentral für die Identität und den Lebensvollzug der in dieser lebenden Subjekte, denn Erwerbsarbeit dient nicht allein der materiellen Sicherung des Lebensunterhalts, sie ist zentraler Integrationsmodus und Anerkennungsraum. Diese latente und doch grundlegende Funktion von Erwerbsarbeit soll im Rahmen der Untersuchung genau betrachtet werden. Erwerbsarbeit ist eine Quelle für identitätskonstitutive Anerkennungs-erfahrungen, jedoch zugleich von Nichtbeachtungs- und Missachtungserfahrungen (vgl. Voswinkel und Wagner 2013: 75). »[…] Mißachtung kommt für die psychische Integrität der Menschen dieselbe negative Rolle zu[], die die organischen Erkrankungen im Zusammenhang [mit] der Reproduktion seines [sic!] Körpers übernehmen: durch die Erfahrung von sozialer Erniedrigung und Demütigung sind menschliche Wesen in ihrer Identität ebenso gefährdet, wie sie es in ihrem physischen Leben durch das Erleiden von Krankheiten sind.« (Honneth 1994: 218) Wie Gabriele Wagner (2004: 285) bereits konstatiert, stellt eine an-erkennungstheoretische Perspektive »Fragen nicht komplett neu, aber sehr wohl anders […]« und »neue Fragestellungen [können] […] neue Antwortrichtungen generieren.« Sie erlaubt es insbesondere, den im Rahmen der Belastungsforschung in seiner potenziellen Relevanz zwar durchaus erkannten, aber kaum systematisch erforschten »Faktor Kultur« in die Untersuchung hereinzuholen und in Bezug zu den subjektiven Leidenserfahrungen zu setzen. Erwerbsarbeitsbezogene Belastungserfahrungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen werden sicherlich häufig als individuelles Problem erlebt, doch wie Mohr und Duresso (2012: 198) zu Recht betonen, ist »Erwerbslosigkeit […] kein psychologisches, sondern ein gesellschaftliches Problem.« Gleiches lässt sich für die Belastungen in der Erwerbstätigkeit feststellen. Eben dies scheint gegenwärtig jedoch infrage zu stehen. In gesellschaftskritischer Absicht nachzuweisen, dass psychische auf soziale Pathologien verweisen, stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Es hat in der Soziologie (insbesondere der Kritischen Theorie) eine lange Tradition und kritische Sozialwissenschaftler*innen und Sozialphilosoph*innen werden nicht müde, es zu versuchen. Als ein solcher Versuch versteht sich die vorliegende Arbeit und will dies über ein interdisziplinär und integrativ angelegtes Vorgehen leisten. Denn grundsätzlich gilt, dass weder Belastungen noch deren subjektive Deutungen im Vakuum entstehen, sondern in einem Raum gesellschaftlicher Deutungen und Wertungen sowie deren Manifestation in öffentlichen Diskursen, politischen Programmen und Maßnahmen sowie sozialen Praktiken und Strukturen (ähnlich bereits Pearlin 1989: 242). Seit geraumer Zeit thematisieren soziologische Zeitdiagnosen die sich wandelnden sozial-strukturellen Bedingungen und sozio-kulturellen Deutungsmuster demokratisch-kapitalistischer Gesellschaftsformationen sowie ihre Konsequenzen für die in ihnen lebenden und arbeitenden sowie arbeitslosen Subjekte. Gerade vor dem Hintergrund eines umfassenden Wandels von Gesellschaft und Erwerbsarbeit gilt es der Frage nach Zusammenhängen zwischen diesen Prozessen und dem subjektiven Belastungserleben sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen nachzugehen. Die Verknüpfung der entsprechenden Forschungsfelder ist daher nicht nur naheliegend, sondern geradezu geboten. Das Anliegen der Untersuchung ist folglich ein zweifaches: Zum einen soll ein tieferes Verständnis für die Wirkungsweise jener Umstände der Erwerbstätigkeit und Erwerbslosigkeit entwickelt werden, die subjektiv als psychosoziale Belastungen erlebt werden und mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden sind. Zum anderen soll in der Frage nach dem Ursprung dieser subjektiven Leidenserfahrungen über die konkrete Erwerbssituation hinausgegangen und der Blick auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen gerichtet werden. Eine anerkennungstheoretische Perspektive stellt die Beantwortung dieser Fragen in Aussicht. »[D]ie Anerkennungstheorie [erweist sich] als besonders geeignet für die Beschäftigung mit einem der wesentlichen Bereiche sozialbedingten [sic!] Leidens in gegenwärtigen Gesellschaften. Sie erweist dies, indem sie erstens anhand ihres konzeptionellen Apparates normativ die Wichtigkeit von Arbeit für die moderne Subjektivität demonstriert. Und sie zeigt dies zweitens, indem sie eine theoretische Grammatik bereitstellt, in der zeitgenössische Sozialpathologien der Arbeit an gemessen beschreibbar sind.« (Deranty 2009: 284) Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Im Teil I wird ein-führend in die Thematik zunächst das grundlegende Verständnis der Be-griffe Gesundheit, Krankheit und Stress besprochen (Kapitel I.1). Dem folgt ein Überblick des Forschungsstandes, der in die Aktualität der Thematik einführt und einen Einblick in einige ausgewählte Befunde und Überlegungen der Forschungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Belastungen Erwerbstätiger und Erwerbsloser geben und zugleich die Forschungslücke offenlegen soll (Kapitel I.2). Während buchstäblich un-zählige quantitative Studien vorliegen, mangelt es an qualitativen Unter-suchungen und im Vergleich zu den empirischen Befunden auch ganz wesentlich an Theoretisierungsbemühungen. Diesem Manko soll mit einer anerkennungstheoretischen Forschungsperspektive begegnet werden, welche die Identität der Erwerbstätigen und Erwerbslosen in den Fokus rückt. Im Teil II werden daher zunächst die theoretischen Grundlagen besprochen. Die Konzepte Identität (Kapitel II.3) und Anerkennung (Kapitel II.4) dienen der Untersuchung als wesentliches Instrumentarium, um das empirische Material theoretisch zu reflektieren. Sie bilden zudem die begriffliche Klammer um die doppelte Fragestellung, da Individuum und Gesellschaft mit ihnen stets zusammen gedacht werden. Um ein vertieftes Verständnis für das subjektive Belastungserleben zu entwickeln, ist es notwendig, die Perspektive des Subjekts einzunehmen und seinen Wahrnehmungen, Einschätzungen und Handlungsmotiven zu folgen. Die empirische Untersuchung ist mit dem Ziel, diese für das Stresserleben grundlegenden subjektiven Deutungen ernst zu nehmen, als qualitative Interviewstudie konzipiert. Das methodische Vorgehen wird im Teil III erläutert. Die Untersuchung soll klären, ob und inwiefern die Belastungs-erfahrungen der erwerbslosen und erwerbstätigen Subjekte als Negation von Anerkennungserwartungen zu verstehen sind (1) und welche Folgen diese Negationserfahrungen für die Identität und Gesundheit der Subjekte haben (2). Neben den Vorüberlegungen, dem Forschungsdesign und dem Interviewleitfaden (Kapitel III.5) werden der Feldzugang, die Fallauswahl und die Durchführung (Kapitel III.6) sowie die einzelnen Auswertungsschritte (Kapitel III.7) dargelegt. Die Darstellung der Ergebnisse im Teil IV erfolgt in Antwort auf die beiden Fragen in zwei Schritten. Zunächst wird dargelegt, dass viele Belastungen subjektiv als Bedrohung von Identität (und folglich als Stress) erlebt werden, weil sie die Nicht-Anerkennung eines Aspekts der Identität zum Ausdruck bringen (Kapitel IV.8). Das Konzept der Nicht-Anerkennung wird hier sowohl theoretisch-konzeptuell weiterentwickelt als auch empirisch-inhaltlich gefüllt. Sodann werden die aus den Bedrohungen resultierenden Beschädigungen von Identität genau betrachtet (Kapitel IV.9). Im Zentrum steht die Typologie subjektiver Verarbeitungsformen von Negationserfahrungen und deren Konsequenzen für die Identität. In einer diesen Teil abschließenden Betrachtung werden einige Zusammenhänge von Identität und Gesundheit diskutiert (Kapitel IV.10). Im Rahmen des Teils V wird schließlich der gegenwärtige Wandel von Erwerbsarbeit und Gesellschaft in den Blick genommen und herausgearbeitet, wie dieser mit dem subjektiven Belastungserleben zusammenhängt. Fokussiert werden hier insbesondere die Subjektivierung von Arbeit und die aktivierende Arbeitsmarktpolitik, insofern sie relevante soziale Bedingungen des subjektiven Deutens darstellen. Abschließend werden die Ergebnisse der Untersuchung resümiert, einige Überlegungen für künftige Forschungen sowie kritische Schlussbetrachtungen formuliert. I Forschungskontext Die Arbeit bewegt sich thematisch an der Schnittstelle verschiedener Disziplinen und Forschungsfelder. Obgleich freilich keine umfassende Darstellung der Erkenntnisse, Entwicklungen und Positionen auf den einzelnen Forschungsgebieten möglich ist, soll die folgende Übersicht in die für die Untersuchung relevanten Begrifflichkeiten, empirischen Be-funde und theoretischen Ansätze einführen und die Einordnung der Untersuchung erlauben. 1 Begriffliche Vorbemerkungen Gesundheit und Krankheit gehören ohne Zweifel zum Leben der Menschen und sind wie kaum ein anderes Begriffspaar so selbstverständlich im alltäglichen Erleben und Sprachgebrauch, jedoch zugleich so umstritten in ihrer genauen Bestimmung. In der Forschung (häufig variierend mit der Disziplin) finden sich unterschiedliche Definitionen und Operationalisierungen. Entsprechend sinnvoll ist es, einige grundlegende Eckpunkte zu klären. 1.1 Gesundheit und Krankheit Grundsätzlich scheint die Rede von Krankheit nicht ohne ihr Gegenbild von Gesundheit, das heißt eine Normalitätskonzeption und ein (zumeist implizites) Menschenbild, auszukommen. Der Mensch ist ein zugleich physisches, psychisches und soziales Wesen in einer natürlichen und sozialen Welt. Aus dieser komplexen Konstitution ergeben sich multiple intra- und intersystemische Relationen und Dependenzen. Deutlich sichtbar werden derartige Wirkungszusammenhänge, wenn Störungen auftreten, die als Abweichungen von einem »Normal« gelten. In der Medizin wird Krankheit definiert als »Störung der Lebensvorgänge in Organen od. im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperl., geistigen bzw. seelischen Veränderungen« (Pschyrembel 2004: 983). Ähnlich, jedoch unter deutlicher Betonung der sozialen Dimension von Krankheit, lautet die klassische soziologische Definition Talcott Parsons: »Zusammenfassend können wir die Krankheit als einen Zustand der Störung des ›normalen‹ Funktionierens des Menschen bezeichnen, sowohl was den Zustand des Organismus als biologisches System als auch was seine individuellen und sozialen Anpassungen angeht. Der Begriff der Krankheit ist demnach teils biologisch, teils sozial bestimmt. Die Verflechtung in das soziale System ist immer potentiell für den Krankheitszustand relevant, für die Verursachung, für die Bedingungen erfolgreicher Therapie und für viele andere Aspekte.« (Parsons 1958: 12) Krankheit bezeichnet demnach eine Störung, im Sinne der Abweichung von einer Norm, die objektiv messbar sei (vgl. Faltermaier 2005: 33). Gemeinhin wird Gesundheit dann auf die »[…] einfache und pragmatische Formel [gebracht]: Gesundheit ist die Abwesenheit einer Krankheit; Menschen sind dann als gesund zu bezeichnen, wenn bei ihnen keine Krankheit vorliegt (d. h. medizinisch zu diagnostizieren ist).« (ebd.) Die konkrete Bestimmung von Störungen und Krankheiten ist jedoch keineswegs eindeutig, sondern historisch und kulturell variabel. Dies gilt ins besondere für psychische Gesundheit respektive Krankheit, wie die immer wieder notwendig werdende, unter teils heftigen Kontroversen stattfindende Bearbeitung der international normierten Diagnostik- und Klassifikationssysteme der World Health Organization und der American Psychiatric Association verdeutlicht. Denn gerade in einer als psychische Störung diagnostizierten Krankheit wird die Komplexität der menschlichen Konstitution besonders deutlich. Zum einen umfasst der Begriff »psychisch« bereits kognitive, emotionale und motivationale Zustände und Prozesse, zum anderen sind derartige Störungen zumeist durch verschiedene biologische, psychologische und soziale Einflüsse bedingt und äußern sich in sozialen, psychischen und physiologischen Symptomen. Tatsächlich liegt bis heute keine einheitliche wissenschaftliche Definition des Begriffs der Gesundheit vor, vielmehr stehen verschiedene Konzepte nebeneinander. Mit Toni Faltermaier (1994: 57) ist jedoch davon auszugehen, dass eine »angemessenen[e] Konzeption von Gesundheit« neben objektiv messbaren Variablen auch die subjektive Befindlichkeit, subjektiv erlebtes Wohlbefinden und Beschwerdefreiheit einbeziehen muss. Weil ein solches Erleben Selbstwahrnehmungs- und Reflexionsprozesse voraussetzt und insofern »ein Verhältnis des Individuums zu seinem Körper und seiner Psyche« (ebd.) bezeichnet, ist Gesundheit auch als Teil von Identität zu verstehen. Gesundheit gilt jedoch nicht nur deskriptiv als normal, sondern auch präskriptiv als Norm und Menschenrecht. Die World Health Organization definiert Gesundheit entsprechend als »[…] a state of complete physi cal, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease and infirmity« (WHO 1948). Diese Definition entspricht gewiss keiner rein analytischen Begriffsbestimmung oder statistischen Häufigkeit, sondern bezeichnet ein normatives Ideal, zu dessen weitgehender Realisierung sich die heute 194 Mitgliedsstaaten der WHO mit dem Akzeptieren ihrer Verfassung verpflichtet haben. Zu diesem Zweck ist die Identifikation saluto- und pathogenetisch relevanter Variablen notwendig grundlegend und doch scheinbar unendlich.
Erscheinungsdatum | 02.04.2020 |
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Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 141 x 214 mm |
Gewicht | 658 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Mikrosoziologie |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Arbeitslosigkeit • Arbeitswelt • Belastung • Burnout • Erschöpfung • Gesellschaft • Identität • Krankheit • Stress |
ISBN-10 | 3-593-51223-8 / 3593512238 |
ISBN-13 | 978-3-593-51223-5 / 9783593512235 |
Zustand | Neuware |
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