Die unregierbare Gesellschaft (eBook)
450 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76308-7 (ISBN)
Die 1970er Jahre wurden von einer gigantischen »Regierbarkeitskrise« erschüttert: Die Wirtschaftswelt hatte mit massiver Disziplinlosigkeit der Arbeiter zu kämpfen, aber auch mit der »Managerrevolution«, mit bisher beispiellosen ökologischen Massenbewegungen und neuen Sozial- und Umweltvorschriften. Der französische Philosoph Grégoire Chamayou porträtiert in seinem faszinierenden Buch dieses Krisenjahrzehnt als den Geburtsort unserer Gegenwart - als Brutstätte eines autoritären Liberalismus.
<p>Grégoire Chamayou, geboren 1976, ist Philosoph und Forscher am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) Cerphi ENS Lyon. Internationale Bekanntheit erlangte er mit seinem Buch <em>Theorie der Drohne</em>, das in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.</p>
Einleitung
»Regierbar (gouvernable), Adjektiv (Neologismus): was regiert werden kann. Bsp.: Dieses Volk ist nicht regierbar.«
Complément au Dictionnaire de l’Académie française (1839)1
Solche Zeiten sind bekannt. Die Zeichen trügen nicht. Dergleichen hat man bereits am Vorabend der Reformation oder der russischen Oktoberrevolution beobachten können, versichert der kalifornische Ingenieur und »Futurologe« Willis W. Harman, für den alle Indikatoren auf das Bevorstehen eines schweren Erdbebens hindeuten, darunter die Zunahme von »Geisteskrankheiten, Gewaltverbrechen, Phänomenen sozialer Spaltung; der häufigere Rückgriff auf die Polizei, um Verhaltensweisen zu kontrollieren, die wachsende Akzeptanz hedonistischer (vor allem sexueller) Verhaltensweisen […], der Anstieg von Zukunftsängsten […], der Vertrauensverlust in die Institutionen, ob Regierung oder Unternehmen, das Gefühl, dass die Antworten der Vergangenheit nicht mehr taugen«.2 Kurzum, die »Legitimität der Gesellschaftsordnung in den Industriestaaten selbst« stünde zur Disposition, warnte er 1975.
Und tatsächlich wurde überall aufbegehrt. Kein Herrschaftsverhältnis blieb verschont: Verweigerung der Geschlechterhierarchie, der Kolonialordnung, der Rassen-, Klassen- und Arbeitsbeziehungen, Renitenz in den Familien, den Universitäten, Armeen, Betrieben, Büros und auf der Straße. Nach Auffassung Michel Foucaults wurde man Zeuge der »Entstehung einer Regierungskrise«, in dem Sinne, dass »sämtliche Prozeduren, mit denen die Menschen einander führen, […] in Frage gestellt worden« sind.3 Was sich zu Beginn der 1970er Jahre ereignete, war, nach späterer Ergänzung, eine »Krise der Regierbarkeit, die der Wirtschaftskrise vorausging«,4 eine »›Krise der Regierbarkeit‹ auf der Ebene der Gesellschaften wie auf der der Unternehmen«,5 eine »Krise der disziplinarischen Regierbarkeit«,6 die große Veränderungen der Machttechnologien ankündigte.
Bevor sie allerdings von der kritischen Theorie aufgegriffen wurde, war diese Idee bereits von konservativen Intellektuellen formuliert worden. Sie entsprach ihrer Art, die laufenden Ereignisse zu interpretieren, die Situation zu problematisieren. Die Demokratie, so Samuel Huntington in einem berühmten Bericht der Trilateralen Kommission, auf den noch detailliert einzugehen sein wird, unterläge einem »Problem der Regierbarkeit«: Ein Aufbegehren der Massen untergrabe überall die Autorität und überfordere den Staat mit seinen endlosen Forderungen.
Die Worte »gouvernabilité«, »governability« und »Regierbarkeit« waren nicht neu. Man gebrauchte sie teilweise bereits im 19. Jahrhundert, um zum Beispiel die »Steuerbarkeit« eines Schiffes zu bezeichnen oder die »Stabilität und Lenkbarkeit« eines Luftschiffs, aber auch die Lenkbarkeit eines Pferdes, eines Menschen oder eines Volkes. Der Begriff steht somit für eine immanente Eigenschaft des zu lenkenden Objekts, seine Bereitschaft, sich leiten zu lassen, die Fügsamkeit oder Formbarkeit der Regierten. Unregierbarkeit bezeichnet demnach umgekehrt eine Tendenz zur Widerspenstigkeit, einen Geist der Insubordination, eine Weigerung, regiert zu werden, zumindest »nicht so und nicht dafür und nicht von denen da«.7 Allerdings ist dies nur eine Facette des Begriffs, nur eine der Dimensionen des Problems.
Denn Regierbarkeit ist ein komplexes Vermögen, das zwar auf Seiten des Objekts eine Bereitschaft voraussetzt, sich regieren zu lassen, aber auch auf der anderen, der Seite des Subjekts, eine Fähigkeit zu regieren. Meuterei ist nur eine Möglichkeit. Eine Situation der Unregierbarkeit kann auch aus einer Störung oder einem Versagen des Regierungsapparats entstehen, obwohl die Regierten sich als fügsam erweisen. Eine Lähmung der Institutionen kann zum Beispiel aus etwas anderem resultieren als einer Bewegung zivilen Ungehorsams.
Grob gesagt kann eine Krise der Regierbarkeit zwei große Polaritäten haben, unten, bei den Regierten, oder oben, bei den Regierenden, und zwei große Modalitäten, Revolte oder Versagen: Rebellische Regierte oder ohnmächtige Regierende – beide Aspekte können sich natürlich kombinieren. »Erst dann«, führte Lenin aus, »wenn die ›Unterschichten‹ das Alte nicht mehr wollen und die ›Oberschichten‹ in der alten Weise nicht mehr können«, sei eine »Regierungskrise« geeignet, in eine revolutionäre Krise umzuschlagen.8
Die konservativen Theorien zur Krise der Regierbarkeit aus den 1970er Jahren stellten ebenfalls eine Beziehung zwischen diesen beiden Aspekten her. Zwar glaubten die Autoren nicht, am Rande einer Revolution zu stehen, machten sich aber dennoch Sorgen über eine politische Dynamik, die ihnen verhängnisvoll erschien. Das Problem war nicht nur, dass die Leute aufbegehrten oder die Regierungsapparate überfordert seien, sondern dass diese Defekte und diese Revolten sich gegenseitig überlagerten und auf diese Weise zu einer gefährlichen Belastung des Systems würden.
Foucault kannte den Bericht der Trilateralen Kommission über die »Regierbarkeit der Demokratien« und erwähnte ihn zur Illustration dessen, was er persönlich lieber als eine »Krise der Gouvernementalität«9 bezeichnete: keine bloßen »Aufstände des Verhaltens«,10 sondern eine Blockade des »allgemeinen Dispositivs der Gouvernementalität«,11 und dies aus endogenen Gründen, die nicht auf die Wirtschaftskrisen des Kapitalismus reduzierbar, wenngleich mit diesen verbunden waren. Was seiner Meinung nach ins Stocken geriet, war die »liberale Regierungskunst«,12 worunter man nicht – denn das wäre ein Anachronismus – den herrschenden Neoliberalismus verstehen darf, sondern vielmehr das, was man inzwischen als »eingebetteten Liberalismus« bezeichnet, eine Art wackliger Kompromiss zwischen Marktwirtschaft und keynesianischem Interventionismus. Aufgrund seiner Untersuchung ähnlicher Krisen in der Geschichte gelangte Foucault zu der Prognose, dass aus dieser Blockade etwas Neues entstehen würde, angefangen mit einer grundlegenden Neuordnung der Regierungskunst.
Ist die Gesellschaft unregierbar, dann doch keineswegs per se, sondern, um eine Formulierung des saint-simonistischen Ingenieurs Michel Chevalier aufzugreifen, »unregierbar in der Art, wie man sie heute regieren möchte«.13 Das ist ein klassisches Thema dieser Art von Diskurs: Es gibt keine absolute, sondern nur eine relative Unregierbarkeit. Und genau auf diesem Unterschied beruhen die Daseinsberechtigung, der eigentliche Gegenstand und die wesentliche Herausforderung jeglicher Regierungskunst.
In diesem Buch untersuche ich diese Krise in der Form, wie sie in den 1970er Jahren von denen wahrgenommen und theoretisch konzipiert wurde, die sich bemühten, die Interessen der »Wirtschaft« zu verteidigen. Im Gegensatz zu einer »Geschichte von unten« handelt es sich hier also um eine »Geschichte von oben«, geschrieben aus der Sicht der herrschenden Klassen, und zwar vorrangig der Vereinigten Staaten, die zu dieser Zeit das Epizentrum einer umfassenden geistig-politischen Mobilmachung waren.
Nach der Beschreibung von Karl Polanyi reagierte die Gesellschaft auf die Expansion des »freien Marktes« mit ihren zerstörerischen Auswirkungen historisch gesehen mit einer umfassenden Gegenbewegung zum Schutz ihrer selbst – eine »zweite Bewegung«, die, so seine warnenden Worte, »letztlich mit der Selbstregulierung des Marktes und damit dem Marktsystem selbst unvereinbar« war.14 Zu einer derartigen Schlussfolgerung gelangten auch die organischen Intellektuellen der Wirtschaftswelt in den 1970er Jahren: Das gehe alles zu weit, und wenn die aktuellen Trends anhielten, würden sie zur Zerstörung der »freien Marktwirtschaft« führen. Was in diesem Jahrzehnt begann, war eine dritte Bewegung, eine große Reaktion, in deren Bann wir immer noch stehen.
Ich will die Bildung dieser Gegenbewegung hier aus philosophischer Sicht betrachten, indem ich eine Genealogie ihrer zentralen Konzepte und Problemstellungen entwerfe, anstatt auf empirische Weise ihre institutionelle, soziale, ökonomische...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2019 |
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Übersetzer | Michael Halfbrodt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La societé ingouvernable |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien |
Schlagworte | 70er Jahre • aktuelles Buch • Autoritarismus • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • La société ingouvernable. Une généalogie du libéralisme autoritaire deutsch • Liberalismus • Neoliberalismus • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • STW 2398 • STW2398 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2398 • Vereinigte Staaten von Amerika USA |
ISBN-10 | 3-518-76308-3 / 3518763083 |
ISBN-13 | 978-3-518-76308-7 / 9783518763087 |
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