Das Kabarett (eBook)

Eine integrative Theorie
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2019 | 1. Auflage
308 Seiten
Tectum-Wissenschaftsverlag
978-3-8288-7258-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kabarett -  Natalie Dunkl
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Verteufelt und in den Himmel gehoben, oft totgesagt und doch immer wieder auferstanden. Das Kabarett hat in den letzten Jahrzehnten einen weiten Weg zurückgelegt. Die Frage, wie Kabarett funktioniert und wie es sich als eigenständige Kunstform beschreiben lässt, ist dabei weitestgehend auf der Strecke geblieben. Die Integrative Kabaretttheorie analysiert das Phänomen noch einmal von Grund auf und ergänzt die bisherigen kabaretttheoretischen Ansätze um weitere ästhetische, soziologische, poetologische, kognitionswissenschaftliche, kommunikationstheoretische und semiotische Fragestellungen. Anhand zahlreicher Beispiele illustriert Natalie Dunkl den Professionalisierungsprozess des Kabaretts, direkte und indirekte Kommunikationsformen mit dem Publikum und schließt auch die Debatte, wer und was noch (oder schon) Kabarett ist, mit ein. Der Band verspricht somit einen unkonventionellen Blick auf das Kabarett, viele Aha-Effekte und eine neue Art, das Kabarett zu verstehen und zu erleben.

2 „Ja, hallo erst mal. Ich weiß gar nicht, ob Sie’s wussten, aber …“45

… Kabarett ist eine der populärsten künstlerischen Ausdrucksformen und eine der umtriebigsten noch dazu. In kürzester Frist siedelte es von Frankreich nach Deutschland über, schaffte den Sprung vom Brettl auf größere und immer noch größere Bühnen, verzog sich in den Untergrund, suhlte sich im Licht der Öffentlichkeit, verachtete, beschimpfte und umschmeichelte sein Publikum, präsentierte sich bunt, poetisch, schwärmerisch, rational, prosaisch, aggressiv, amüsant, ekstatisch, exaltiert, nachdenklich, heiter, melancholisch, formenreich, spartanisch (oder kreuz und quer alles zusammen), machte auf Ernst, machte bloß Spaß, ersetzte das Solistentum durch Ensembles, fand zum Solovortrag zurück, setzte auf Pomp und bescheidene Zurückhaltung, erbaute sich prächtig ausstaffierte Spielstätten, entschied sich für ein Vagabundenleben, wurde verfolgt, ins Exil geschickt und vernichtet, erstand wie Phönix aus der Asche und mauserte sich schließlich zu einem konstitutiven Bestandteil der Freizeitkultur. Im 21. Jahrhundert angekommen, füllen Kabarettprogramme inzwischen Stadthallen und Messeareale bis hin zu ganzen Stadien. In Hörfunk, Film und Fernsehen geben sich Kabarettistinnen und Kabarettisten die Klinke in die Hand, veröffentlichen augenzwinkernde Kolumnen, praktische Ratgeber und Lebenshilfeliteratur, gastieren in Talkrunden, moderieren eigene Shows und bringen im World Wide Web die Emotionen zum Kochen.

Angesichts der großen Präsenz und Popularität des Kabaretts sollte die Beantwortung der Frage Was ist Kabarett? ein Kinderspiel sein. Richtig? Falsch! Das genaue Gegenteil ist der Fall, denn obwohl es en vogue und seit über 100 Jahren sprichwörtlich ‚in aller Munde‘ ist, haben viele der bisherigen Versuche, dem Phänomen Kabarett auf den Grund zu kommen, vor allem Widersprüchliches zutage gefördert und neue Probleme aufgeworfen. Auch die (Kabarett-)Wissenschaft ist eine definitive Antwort bisher schuldig geblieben, da sie vor der schwierigen Aufgabe steht, populäre Ansichten wie die überkommene Dichotomie gutes gesellschaftskritischesschlechtes unterhaltsames Kabarett46 misstrauisch zu hinterfragen und sich ihre Meinung direkt am Objekt zu bilden. Dass dieses Objekt eine ganze Reihe von Zuständen durchlaufen und im Zuge seiner Professionalisierung die unterschiedlichsten Erscheinungsformen ausgebildet hat, war der akademischen Motivation eher abträglich, weshalb die Kabarettforschung bislang mehr auf Intuition denn auf gesicherten Kenntnissen beruhte. Roger Stein sieht die Schwierigkeit, all die „vielseitigen Bezugs- und Erscheinungsformen“47 des Kabaretts unter einen Hut zu bringen, und erklärt es für definitorisch kaum fassbar48. Alternativ umreißt er das Kulturereignis als ‚Schmelztiegel‘ und „kulturhistorisches Phänomen, das durch gesellschaftliche, kollektive Übereinkunft als solches von Produzenten wie Rezipienten benannt, wahrgenommen und erkannt wird.“49 Da sich gesellschaftliches Handeln generell an Konventionen ausrichtet, bewahrheitet sich die Lösung, die Stein für das Kabarett vorschlägt, auch in Bezug auf jede andere soziokulturelle Erscheinung – oder wie Josef Hader sagen würde: „Ohne Übereinkünfte geht si goar nix aus, need amoi in da Avantgarde.“50

„Woran erkennt man [also], daß man mit Kabarett zu tun hat?“51 Eine berechtigte Frage, die hinsichtlich des ‚stillschweigenden Pakts‘52, den Spielende und Publikum während einer Kabarettaufführung schließen, noch zusätzlich an Brisanz gewinnt. Um Kabarett spielen, erkennen oder überhaupt darüber nachdenken zu können, muss das Langzeitgedächtnis explizit kabarettbezogenes Wissen verwalten, das Verhaltensanforderungen, Handlungsroutinen, Meinungen, Erfahrungen, Erinnerungen und eben auch Schlüsselreize und Signale enthält, die Alarm schlagen, sobald der Wahrnehmungsapparat über sie stolpert. Diese Signale theoretisch herauszudestillieren, darf kein Hexenwerk sein, zumal sie in der Praxis intuitiv erlernt und landauf, landab tagtäglich ganz automatisch praktiziert, produziert und rezipiert werden. Vor diesem Hintergrund drängt es sich auf, die causa Kabarett noch einmal komplett aufzurollen und die quälende Frage Was ist Kabarett? ab ovo zu beantworten. Die folgenden Kapitel widmen sich daher den Alleinstellungsmerkmalen und Gattungsmerkmalen, die Kabarettaufführungen ihr charakteristisches Gepräge verleihen, vom wissenschaftlichen Diskurs aber bisher vernachlässigt, ignoriert oder weitgehend ausgespart wurden.

2.1 Was also ist das Kabarett?

Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerinti explicare velim, nescio53. Während Archimedes sich im 3. Jahrhundert vor Christus auf Syrakus mit der Quadratur des Kreises herumschlug, zermarterte sich Augustinus ein paar 100 Jahre später und ein paar 100 Kilometer weiter westlich das Hirn mit dem Spannungsverhältnis von philosophischem und natürlichem Zeitbegriff54. Das Wesen der Zeit war für den Kirchenlehrer ein Buch mit sieben Siegeln. Vom Kabarett55 hatte er nun erst recht keine Ahnung. Sein ‚Aperçu‘ passt in diesem Zusammenhang trotzdem wie die viel zitierte Faust aufs Auge, denn intuitiv zu wissen, was Kabarett ist und wie es funktioniert, ist schließlich bedeutend einfacher, als dieses Wissen plötzlich in Worte fassen zu müssen. Darüber hinaus kursieren im kollektiven Gedächtnis mittlerweile so viele unterschiedliche Auffassungen über das Kabarett, dass die Aussicht, ihm jemals auf die Spur zu kommen, äußerst düster erscheint. Stein bemerkt, dass der Begriff ‚Kabarett‘ in den kabaretthistorischen Untersuchungen

kaum definiert [wird] – vielmehr geht man stillschweigend davon aus, dass die historische Beschreibung der Entwicklung des Kabaretts dieses gleichzeitig als ‚Erscheinung‘ definiert. [Klaus] Budzinski führt zum Beispiel in seiner Arbeit ‚Das Kabarett‘56 (1985) eine ganze Reihe von Zitaten berühmter Kabarettisten an, ohne jedoch selbst eine Definition zu erarbeiten. […] Dass sich diese Zitatensammlung sehr humoristisch liest, liegt auf der Hand; in Bezug auf die Definition des Begriffs bringt uns jedoch ein Zitat wie Hans Dieter Hüschs Aussage: „Kabarett ist kein Hobby, sondern eine Infektion“57 nicht sehr viel weiter.58

Das öffentliche Bewusstsein verortet das Kabarett heute irgendwo zwischen darstellender Kunstform, Unterhaltungsmedium, Moralinstitution und journalistischer Methode59. Der nach wie vor gebräuchliche Beiname ‚Kleinkunst‘ („Kleinstkunst!“60) distanziert das Kabarett von ‚hehren‘, etablierten Gattungen wie dem Theater, dem Ballett oder der Oper, wiewohl der Ausdruck ursprünglich kein hierarchisches Verhältnis bezeichnet, sondern ganz einfach auf die Größe des kabarettistischen Aufführungsraums anspielt61. Benedikt Vogel bemerkt außerdem, dass es sich bei dem Attribut ‚klein‘ nicht um ein „Spezifikum kabarettistischer Vorstellungen“62 handelt:

Kabarettensembles sind nicht generell kleiner als Schauspielensembles, solange Ein- und Zweipersonen-Stücke einen gewichtigen Teil der Theater-Spielpläne besetzen. Dass Kabarett auf übersichtliche Spielstätten zurückgreift, ist heute die Regel. Allerdings fällt es schwer, mit Blick auf Fernseh- oder Rundfunkkabarett ein zuverlässiges Größenkriterium anzugeben.63

Im heutigen Kabarett sind riesige Hallen genauso state of the art wie Vogels übersichtliche Spielstätten. Dessen ungeachtet hält sich hartnäckig das Gerücht, Kabarettaufführungen könnten ihre größte Wirkung nur unter klaustrophobischen Bedingungen entfalten. Ein Klischee, mit dem die kabarettistische Praxis stets erfolgreich gebrochen hat64, zumal viele Kabarettistinnen und Kabarettisten die Vorteile eines großen Publikums – und zwar nicht nur aus monetären Gründen – durchaus zu schätzen wissen65.

Die gerne als spezifische Stimmung oder Atmosphäre umschriebene Kabarettdynamik hängt mit der lebendigen Interaktion zwischen Spielenden und Publikum zusammen. Aktion und prompte Reaktion verschmelzen die Interaktanten zu einer komplexen Lach- und Kooperationsgemeinschaft, die alle plan- und außerplanmäßigen66 Vorkommnisse mit den Bedarfen des ästhetischen Rahmens synchronisiert. Da Kabarettistinnen und Kabarettisten ihren Spiel- und Sprechrhythmus an den kontinuierlich fließenden Rückstrom des Applauses und Gelächters ihres Publikums anpassen, ist die unmittelbare Teilnahme unmittelbar Anteil nehmender Zuschauerinnen und Zuschauer für Kabarettaufführungen ein absolutes Muss. Diese Grundvoraussetzung schlug insbesondere Anfang der 50er-Jahre zu Buche, als sich das sehr junge Fernsehkabarett noch um eine individuelle Formensprache bemühte:

Obwohl das Programm [der ‚Stachelschweine‘] in natura ein Erfolg war, konnten bei der Art der Übertragung selbst erprobte Kabarettisten keine...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2019
Reihe/Serie Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Medienwissenschaften
Verlagsort Baden-Baden
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Frame-Forschung • Kabarettgeschichte • Kabaretttheorie • Parasoziale Interaktion • Professionalisierung • Rezeptionsforschung
ISBN-10 3-8288-7258-1 / 3828872581
ISBN-13 978-3-8288-7258-5 / 9783828872585
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