Lebensqualität als Konflikt (eBook)

Eine Ethnografie häuslicher Sterbebetreuung
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2019 | 1. Auflage
342 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44075-0 (ISBN)

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Lebensqualität als Konflikt -  Falko Müller
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Die Vorstellung, zu Hause zu sterben, wird als Ideal eines selbstbestimmten Lebensendes gehandelt. Dies zu verwirklichen, um die Lebensqualität von Menschen zu erhalten, die von einer nicht heilbaren Erkrankung betroffen sind, ist das Ziel der palliativen Sterbebetreuung. Im Mittelpunkt der Ethnografie von Falko Müller stehen Hausbesuche bei allein lebenden Patientinnen und Patienten. Die Studie zeigt, wie implizite Annahmen über Lebensweisen, auf denen das institutionelle Arrangement der Sterbebetreuung beruht, mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung in Konflikt geraten.

Falko Müller, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen.

Falko Müller, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen.

Inhalt 6
1 Einleitung 10
2 Die Betreuung Sterbender zwischen Institutionalisierung und Subjektorientierung 21
2.1 Die Entwicklung hospizlicher Sterbebetreuung als Konflikt um die Produktionsweise des Gesundheitswesens 22
2.2 Institutionalisierte professionelle Sterbebegleitung 28
2.3 Komplexität aufsuchender Palliativversorgung 32
3 Professionalität und Subjektorientierung 36
3.1 Das Verhältnis von Profession, Organisation und Institution 37
3.2 Konsequenzen für die Untersuchung 47
4 Praxisanalytischer Rahmen der Ethnografie institutioneller Arrangements 51
4.1 Praktiken, Performativität und Materialität 53
4.1.1 Praktiken: Wiederholte, wiederholbare Formationen 56
4.1.2 Körperlichkeit: Produktivität und Widerspenstigkeit 59
4.2 Das »institutionelle Arrangement« und »Juridisch-administrativ-therapeutische Staatsapparate« 66
4.2.1 Das »institutionelle Arrangement« bei Goffman 68
4.2.2 Was heißt »institutionell«? 74
4.2.3 Alltag und Institution 87
4.2.4 Frasers »juridisch-administrativ-therapeutische Staatsapparate« 95
4.2.5 Nicht-Identität und die wohlfahrtsstaatlichen Subjekte des JAT 105
5 Untersuchungsansatz und methodisches Vorgehen 118
5.1 Forschungsansatz 120
5.2 Material und methodisches Vorgehen 126
6 Zur institutionellen Verwaltung von Lebensqualität 134
6.1 Eintritte in die Palliativversorgung 136
6.1.1 Zuständigkeitsklärung: Was ist der Fall? 138
6.1.2 Auftragsklärung: Wessen Fall? 147
6.2 (Un-)Mögliche Austritte aus der Versorgung 152
6.2.1 Mustersituation der nicht besonders aufwändigen Versorgung 155
6.2.2 Ambivalenzen des aufsuchenden Settings 159
6.2.3 Situiertheit des Falles: »Was man so entscheidet« 172
6.3 Anmerkungen zum Fallbegriff 180
7 Das Setting aufsuchender Versorgung: Hausbesuche als Schnittstelle zwischen Haushalt und Organisation 186
7.1 Takt und Rhythmus: Organisieren von Begegnungen 191
7.2 Ordnung und Privatsphäre: Übertreten der Schwelle 197
7.3 Gegenstand und Interaktion: Situieren der Begegnung 207
7.4 Verankern des Settings: Die lokale Interaktionsordnung 215
8 Das Beobachtungsregime der Krankheit: Strategien der Objektivierung 224
8.1 Objektivieren des Krankheitsfortschritts 226
8.1.1 Signifizieren körperlicher Erscheinungen 227
8.1.2 Dokumentieren und Vergleichen 232
8.2 Beobachten des eigenen Körpers 239
8.2.1 Selbstbeobachtung im Konsens über die Erkrankung 240
8.2.2 Selbstbeobachtung und »geschlossene Bewusstheit« 248
9 Das Medikamentenregime: Verankerung des Settings in der Alltagspraxis 253
9.1 Differenziertes Einnehmen 254
9.2 Aufbewahren und Verfügbarkeit sichern 264
10 Das umkämpfte Selbst:Krankheitsrealität und die Moral des würdevollen Sterbens 275
10.1 Versorgung zwischen Funktionalität und antizipierter Unselbständigkeit: Ein exemplarischer Verlauf 278
10.1.1 Organisieren vs. sich nicht dermaßen verdinglichen lassen 281
10.1.2 Grenzen häuslicher Sterbebetreuung 287
10.1.3 Das »Selbst« in institutionellen Kontexten 293
10.2 Die Moral des würdevollen Sterbens 297
11 Die Produktion von Lebensqualität 309
Literatur 318
Anhang 338
Dank 342

1 Einleitung Was Lebensqualität ist, lässt sich kaum eindeutig beantworten. Es ist ein schillernder Begriff, der unausgesprochen eine Orientierung verspricht, wie ein 'gutes Leben' möglich ist. Dahinter können ganz unterschiedliche Vorstellungen stehen. Lebensqualität steht beispielsweise für die Annahme, dass ein 'gutes Leben' mehr ausmacht als ökonomischer Wohlstand, aber auch mehr als eine möglichst lange Lebenszeit. Dass solche Begriffe normativ aufgeladen sind, macht sie umkämpft. Bei genauerem Hinsehen verweisen sie auf gesellschaftliche Konflikte. Im bundesdeutschen sozialpolitischen Diskurs hat der Begriff Lebensqualität durch Datenreports und Sozialberichterstattung der frühen 1970er Jahre Verbreitung gefunden. Diese Entwicklung ist im Zusammenhang einer internationalen 'Sozialindikatorenbewegung' der Politik- und Wirtschaftsforschung zu verorten. Lebensqualität steht hier für die Seite des 'subjektiven Wohlbefindens' gegenüber den 'objektiven' Lebensbedingungen, die durch die Kennzahlen der Wohlstands- und Wohlfahrtsmessung erhoben werden. Im 'Capability Approach' des Ökonomen Amartya Sen steht der Begriff für den Zusammenhang von Handlungsspielräumen im gesellschaftlichen Umfeld, die über vorhandene oder blockierte Verwirklichungschancen und 'well-being' der Menschen entscheiden. Lebensqualität bezeichnet hier ein Verhältnis und verweist dabei auf Konflikte um Zugang zu, um Verteilung und - angesichts klimatischer Folgen, Umweltverschmutzung und 'Grenzen des Wachstums' - um Ausbeutung von Ressourcen. Verbindet sich in der sozio-ökonomischen Forschung mit dem Konzept 'Lebensqualität' einerseits der Gedanke der Nachhaltigkeit und andererseits die Vorstellung, die Bedingungen des guten Lebens durch sozialpolitische Entscheidungen zu gestalten, ist es im Sozial- und Gesundheitswesen die Idee der Ganzheitlichkeit. Hier kann die Hinwendung zum Begriff der Lebensqualität als 'subjektivem' Faktor des Wohlbefindens ebenfalls als Paradigmenwechsel verstanden werden. Dieser Wechsel ist als Folge der fortschrittskritischen Bewegungen zu sehen, die sich gegen eine 'Entmündigung durch Experten' (Illich u.a. 1979) und Verdinglichung durch ?apparative Hochleistungsmedizin? wenden. Dabei wird der Begriff Lebensqualität nicht aus der Wirtschafts- und Sozialforschung adaptiert. Er hat in der Medizin eine eigene gebrochene Tradition, die in die Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts zurückreicht (Kovács 2016). 'Qualität des Lebens' steht hier für die Unterscheidung erwünschter und unerwünschter Eigenschaften von Individuen, die sich argumentativ auf evolutionsbiologische Vorstellungen stützt. Dabei gehen die Eugeniker_innen von einer Degeneration der menschlichen 'Rasse' als Folgewirkung sozialer und technischer Errungenschaften aus (vgl. Kovács 2016: 14 f.). So hat dieses 'vergessene' (Kovács) Verständnis von Lebensqualität mit dem Reformbegriff der 1970er Jahren den fortschrittskritischen Impetus als Gemeinsamkeit. Der zentrale konzeptionelle Unterschied zwischen den beiden medizinischen Ideen von Lebensqualität besteht in der Blickrichtung, die eingenommen wird. Während die eugenische Medizin vom autoritären Standpunkt anhand einer normativen Vorstellung der 'Qualität des Lebens' über Individuen und Personengruppen urteilt, liegt der reformorientierten Vorstellung eine Hinwendung zum Erleben und subjektiven Wohlbefinden der Patient_innen zugrunde. Hieraus haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in den medizinischen, pflegerischen und psychologischen Forschungsdisziplinen weit ausdifferenzierte Zweige des quality of life research etabliert, welche Lebensqualität in diversifizierten Items messen und verobjektivieren. Der Erfolg medizinischer Eingriffe bemisst sich somit nicht mehr allein nach biomedizinischen Kriterien, sondern wird ergänzt durch einen 'subjektiven' Faktor. Mit dem Aufstreben der Hospizbewegung im westeuropäischen und nordamerikanischen Raum etabliert sich aber auch ein Verständnis von Lebensqualität als Gegenkonzept zur 'quantitativen' Verlängerung des Lebens durch belastende medizinisch-technische Eingriffe. Diese Tradition entwickelt sich über die Hospizbewegung hinausgehend zum Ansatz der Palliative Care weiter (Schütte-Bäumner 2012: 137 f.). Im deutsch-sprachigen Raum hat sich in den vergangenen Jahren ein Verständnis von Palliative Care etabliert, das mit palliativmedizinischer und -pflegerischer Versorgung das Ziel verbindet, 'die Lebensqualität und die Selbstbestimmung schwerstkranker Menschen zu erhalten, zu fördern und zu verbessern und ihnen ein menschenwürdiges Leben bis zum Tod [...] zu ermöglichen' (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SAPV-RL). Der ohnehin normative Begriff der Lebensqualität wird weiter aufgeladen durch die Vorstellungen von Selbstbestimmung und Würde. Weil der Begriff Lebensqualität an der Schnittstelle von subjektivem Wohlbefinden und objektiven Lebensbedingungen angesiedelt ist, fügt er sich nicht nur in die programmatischen Versprechen personenbezogener Dienstleistungen wie Medizin, Pflege und Soziale Arbeit unter der Überschrift Subjektorientierung besonders gut ein, sondern auch in die Steuerungsstrategien zur Verwaltung des Sozialen. Aktuell findet er sich in den verschiedensten Kontexten wieder. Das zuletzt eingebrachte Zitat ist der geltenden Verordnungsrichtlinie für ambulante Palliativversorgung des Gemeinsamen Bundesausschusses entnommen. Als Zielsetzung einer wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsleistung wird Lebensqualität zu einer administrativ verwalteten Kategorie. Der Begriff firmiert außerdem als Leitbegriff der vom Bund finanzierten Forschungsförderlinie 'Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter (SILQUA-FH)', durch welche die vorliegende Arbeit möglich wurde und erscheint in seiner sozioökonomischen Variante als Schlüsselbegriff der Regierungsstrategie 'Gut leben in Deutschland - was uns wichtig ist' (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016). Die 2016 amtierende Bundesregierung der 18. Legislaturperiode schreibt hierzu in ihrem 'Bericht zur Lebensqualität in Deutschland': 'Lebensqualität ist ein ganzheitlicher Zielbegriff, der wirtschaftliche, soziale und ökologische Aspekte gleichermaßen umfasst. Die Verbesserung der Lebensqualität ist Aufgabe der Politik ebenso wie gesellschaftlicher Kräfte, der Wirtschaft und nicht zuletzt der einzelnen Bürgerinnen und Bürger selbst.' (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2016: 5) Als Chiffre für Ganzheitlichkeit, Nachhaltigkeit und Subjektorientierung steht Lebensqualität für die Strukturqualität gestalteter Rahmenbedingungen, für geteilte Verantwortung sowie die Verpflichtung des oder der Einzelnen auf Mitwirkung. Von hier aus, will ich die Brücke zum Gegenstand der vorliegenden Arbeit schlagen: Die Hinwendung sozialer Dienstleistungsprogrammatiken zur 'Lebensqualität' verstehe ich als Ausdruck einer spezifischen Form der Subjektorientierung, deren Weg durch die Institutionen sich von der emanzipatorischen Kritik am wohlfahrtsstaatlichen Expert_innenwesen hin zur Programmatik des new public management verfolgen lässt. Vor diesem Hintergrund geht es mir darum, die Subjektorientierung personenbezogener Dienstleistungsangebote im wohlfahrtspolitischen Kontext als Produktionsverhältnis zu beschreiben. Subjektorientierung macht die Subjektivität der Nutzenden auf spezifische Weise zu einem produktiven Faktor des arbeitsteiligen Dienstleistungsarrangements, indem sich die strukturellen Rahmenbedingungen an die Subjektivität der Akteur_innen annähern. Im Zentrum meiner Studie steht die Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat_innen. Es geht mir jedoch nicht um die Qualität der interpersonalen Beziehung oder die Beziehungspraxis eines idealtypischen professionellen Arbeitsbündnisses. Ich betrachte Professionalität als Verhältnis, genauer gesagt, als 'institutionalisierten Konflikt' (Kunstreich 1975), der sich in verschiedenen Beziehungsdimensionen manifestiert. Als konflikthaft stellt sich aus meiner Sicht die Beziehung deshalb dar, weil ich davon ausgehe, dass wohlfahrtsstaatlich organisierte Dienstleistungsangebote, um die es hier geht, immer in einer Differenz bestehen zu den Lebensproblemen der Nutzer_innen, auf die sie sich beziehen. Um dennoch Lebensqualität herzustellen, ist soziale Dienstleistungsarbeit zu einem guten Teil damit befasst, diese Differenz, die ich auch als Kluft oder Lücke bezeichne, zu überbrücken. Subjektorientierung ist diejenige Form einer solchen Überbrückung, die darauf zielt, Bedingungen herzustellen unter denen die sich widersprüchlichen Interessen von Professionellen und Nutzer_innen zu einem produktiven Arbeitsbündnis zusammenzuschließen. Nancy Fraser hat den Zusammenhang eines solchen ?Arbeitsbündnisses unter Bedingungen? in den Begriff des juridisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparats gefasst. Das 'therapeutische Element' dieses Modells, auf das meine Analyse aufbaut, zielt darauf, diese Kluft durch subjektivierende 'Anrufungen' (im Sinne von Louis Althusser 1977) der Adressat_innen zu schließen. Dabei kann jedoch aus meiner Sicht die Subjektivierung der Adressat_innen nicht hinreichend verstanden werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Subjektposition der Professionellen betrachtet wird. Die 'Anrufung' der Klient_innen, so meine These, gründet in der 'leidenschaftlichen Verhaftung' (im Sinne von Judith Butler 2001) der professionellen Subjekte in denjenigen Verhältnissen, die sie als Professionelle autorisieren. Dieses Verhaftetsein, wird nach meinem Dafürhalten in Bearbeitungsweisen auftretender praktischer Probleme greifbar. Demnach denke ich Professionalität als Form der Subjektivierung in einem engen Zusammenhang mit ihren strukturellen Rahmenbedingungen. Anhand der praktischen Probleme, die in der Beziehung zwischen Professionellen und Adressat_innen verhandelt werden, wird das institutionelle Arrangement kenntlich, in dem diese Beziehung Gestalt annimmt. Um das Produktionsverhältnis in Form der Subjektorientierung aufzuschlüsseln, lautet die zentrale Fragestellung meiner Arbeit: Wie ist die Beziehung zwischen Fachkräften und Patient_innen strukturiert und was strukturiert sie? Mit ihr richte ich den Blick auf das Verhältnis zwischen der institutionellen, politischen Programmatik und der materiell-dinglichen Dimension der Dienstleistungsproduktion. Ich interessiere mich dafür, wie diese die Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat_innen rahmen und strukturieren. In einem Wort frage ich damit nach der Organisationsweise dieser Beziehung. Auf dieser Grundlage lässt sich die Positionierung oder die Stellung bestimmen, die den Patient_innen im Produktionsverhältnis zukommt und damit die Frage beantworten: Wie und als was stellt sich Subjektorientierung in einem spezifischen institutionellen Arrangement dar? Die ambulante Palliativversorgung, als Form subjektorientierter Sterbebegleitung ist für mein Interesse, wie gesellschaftliche Konflikte professionelle Beziehungen prägen, ein geeignetes Untersuchungsfeld. Bei der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) handelt es sich um eine wohlfahrtsstaatlich zur Verfügung gestellte multiprofessionell organisierte Leistung für schwerstkranke Menschen am Lebensende. Indem sie normativ an den Leitbegriffen Lebensqualität und Selbstbestimmung ausgerichtet ist, wird der Anspruch der Subjektorientierung prominent herausgestellt. Sterbebegleitung agiert in einem gesellschaftspolitischen Spannungsfeld zwischen 'Pflegenotstand' und Debatten um 'aktive Sterbehilfe'. Zugleich werden die zugrundeliegenden Konflikte jedoch nicht personalisierend auf die Betroffenen projiziert. Es werden keine Kämpfe 'verdienter' Unterstützung vs. 'selbstverschuldeter' Not ausgefochten. Dennoch wird der Konflikt pädagogisierend und individualisierend ausgetragen. Darin werden, wie mit der vorliegenden Studie ersichtlich wird, gesellschaftliche Konflikte nicht nur diskursiv 'überbrückt', wie Fraser bereits zeigt, sondern praktisch verlagert und eingehegt. So lautet weitere eine These, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, dass die Selbstbestimmung der Patient_innen, die mit der personenzentrierten und subjektorientierten Betreuung gestützt werden soll, durch die wohlfahrtsstaatliche und professionelle Organisationsweise untergraben wird. Zwar stellt die institutionelle Richtlinie, welche die Rahmenbedingungen zur Erbringung von SAPV formuliert, die 'individuellen Wünsche und Bedürfnisse' der Betroffenen in den 'Mittelpunkt' (§ 1 Abs. 5 Satz 1 SAPV-RL). Jedoch sind die Mitsprachemöglichkeiten der Adressat_innen beschränkt, sowohl was die Grundlagen der Leistung (den Inhalt der administrativ geregelten Rahmenbedingungen) angeht als auch die Gestaltung der Versorgung. Dies hängt mit der Position zusammen, die ihnen praktisch im institutionellen Arrangement der Versorgung zukommt. Als Leistungsnehmer_innen nehmen sie teil an einer unabhängig von ihnen als konkrete Personen vorgängig 'bereits organisierten Praxis' (Dewe/Otto 2012: 210), die insbesondere nach funktionalen Gesichtspunkten gestaltet ist. Wo Patient_innen sich nicht in die Funktionalität des institutionellen Arrangements einfügen, werden sie zu 'schwierig' zu versorgenden Patient_innen. Allerdings zeichnet sich das ambulant-aufsuchende Setting auch durch größere Einflussmöglichkeiten im Vergleich zu stationären Arrangements für sie aus. Die Brüchigkeit, die das aufsuchende Setting charakterisiert, eröffnet situativ Aushandlungsräume, birgt aber auch Konfliktpotenzial. Eine weitere These der Arbeit lautet, dass die Selbstbestimmung hinsichtlich der Wahl ihres Sterbeortes für alleinlebende Patient_innen durch das institutionelle Arrangement zusätzlich eingeschränkt ist. Die Versorgungsstrukturen sind vor allem auf familiale Lebensformen ausgerichtet (Müller 2017). Die SAPV-Richtlinie bestimmt den 'besonderen Aufwand', den die spezialisierte Versorgung auszeichnet, nach medizinisch-pflegerischen Gesichtspunkten. Sie bedenkt nicht den Voraussetzungsreichtum, den die aufsuchende Erbringung der spezialisierten Versorgung in der Wohnumgebung der Patient_innen (deren dortiger Verbleib erklärtes Ziel der Leistung ist) praktisch bedeutet. Dies hat zur Folge, dass Schwierigkeiten, die aufkommen, weil beispielsweise keine Angehörigen die häusliche Pflege mittragen, als Grenzen des häuslichen Settings thematisiert werden. Den betreffenden Patient_innen wird signalisiert, dass eine dauerhafte Versorgung zu Hause problematisch oder gar unmöglich ist und nahegelegt, sie seien in einem stationären Setting besser aufgehoben. Bevor ich den Aufbau meiner Arbeit erläutere, will ich kurz auf den bereits in Gebrauch genommenen Begriff des institutionellen Arrangements zu sprechen kommen, nicht zuletzt, da er für die Ausgangsfrage der Untersuchung steht: Was strukturiert die Beziehung zwischen Fachkräften und ihren Adressat_innen? Im institutionellen Arrangement materialisiert sich das Zusammenwirken von dinglich-räumlichen Gegebenheiten und handlungsleitenden, in administrativen 'ruling relations' (Smith 2005) vermittelten Konzepten. Der Begriff des institutionellen Arrangements steht für die Organisationsweise der Beziehungen von Fachkräften und Patient_innen. Dies umfasst eine materielle, das heißt räumliche, eine zeitliche aber auch eine konzeptionelle Dimension. Das Arrangement konstelliert Handlungspositionen und strukturiert das Handlungsfeld der Beteiligten. Die nach meiner Einsicht in die Versorgungspraxis maßgeblichen Elemente des institutionellen Arrangements der aufsuchenden Palliativversorgung sind: - die Begegnungsstruktur von Fachkräften und Patient_innen, die vor allem durch die räumliche Trennung von Zentralorganisation der Professionellen und ihrem Einsatzort (in der Regel die Wohnumgebung der Patient_innen) bestimmt ist, - die institutionell definierte Maßgabe einer 'besonders aufwändigen Versorgung' sowie - das durch Zeitlichkeit geprägte Konzept der 'fortschreitenden Erkrankung'. Für die Produktion von Lebensqualität am Lebensende sind dies diejenigen Faktoren, aus denen in maßgeblicher Weise die praktischen Handlungsprobleme der alltäglichen Versorgungspraxis hervorgehen und die so die Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat_innen strukturieren. Das von mir ausgearbeitete Konzept des institutionellen Arrangements ist aus professionalitätstheoretischer Sicht von hoher Relevanz, da es die Idee des professionellen Arbeitsbündnisses grundlegend in Frage stellt, indem es die Perspektive umkehrt. Es geht nicht von der Beziehung zwischen Professionellen und Klient_innen als dem Nukleus von Professionalität aus. Es stellt vielmehr die Situiertheit und Organisiertheit der Arbeitsbeziehungen als Ausgangspunkte 'professionellen Handelns' heraus. Dieser Ansatz bezieht dabei die programmatischen Konzepte, die wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen zugrunde liegen, systematisch mit ein: Mit dem Aspekt der Organisiertheit wird nach deren Übersetzung in ein professionelles Setting gefragt. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht sind die Erkenntnisse, die die vorliegende Arbeit damit liefert, von Interesse, da sich die 'Produktion von Lebensqualität' den Patient_innen als Aufgabe zur Gestaltung ihres Lebensendes stellt. Sterbebegleitung kann als wohlfahrtsstaatliche Akteurin eines 'Lebenslaufregimes' (Kohli 2003) begriffen werden. Sie formatiert das Lebensende als Teil der 'Institutionalisierung des Lebenslaufes' im Sinne von Kohli (1985). Die vorliegende Studie bietet Aufschluss über die Zumutungen und Subjektivierungspraktiken des institutionellen Arrangements, welches das Lebensende als zu gestaltende biografische Phase hervorbringt. Zum Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Der einleitende Teil führt mit den Kapiteln zwei und drei an Thema und Forschungsfeld heran. Dem folgt mit Kapitel vier ein ausführlicher theoretischer Teil, in dem ich mein analytisches Rahmenkonzept entwickle und begründe. Aufbauend darauf stelle ich im fünften Kapitel die methodische Herangehensweise vor. Die Kapitel sechs bis zehn bilden den empirischen Teil, in welchem die Analyse der erhobenen Daten erfolgt. Im nachfolgenden Kapitel nehme ich den für die ambulante Sterbebegleitung zentralen Gedanken des 'Sterbens zu Hause' zum Ausgangspunkt und skizziere entlang der Frage nach der 'Subjektorientierung' die Entwicklung von Hospizbewegung zur wohlfahrtsstaatlichen Institutionalisierung von Palliative Care. Im Zuge dessen umreiße ich auch das konkrete Forschungsfeld. Weil mich mit der Frage nach Subjektorientierung die Organisationsweise der Beziehung zwischen Fachkräften und Adressat_innen interessiert, wende ich mich im dritten Kapitel dem Forschungsstand der internationalen Professions- und Dienstleistungsforschung mit dem Interesse dafür zu, wie dort das Verhältnis von Profession(alität), Organisation und Institution verhandelt wird. Diesen Schritt unternehme ich, da historisch betrachtet, die programmatische Hinwendung zur Subjektorientierung, verbunden mit der Idee einer 'neuen Fachlichkeit', aus der kritischen Reflexion dieses Verhältnisses folgte. Aus dieser theoretischen Annäherung heraus formuliere ich Anschlussperspektiven für die empirische Untersuchung. Das vierte Kapitel legt die Perspektive dar, von der aus ich die Analyse meines Datenmaterials vornehme. Da sich meine Arbeit als eine ethnomethodologisch und praxistheoretisch fundierte Variante einer Institutional Ethnography (Smith 2005) begreift, gilt es die entsprechenden sozial- und gesellschaftstheoretischen Annahmen auszuführen, auf deren Grundlage ich zu den Erkenntnissen meiner Analyse gelange. Diese Prämissen ermöglichen nicht nur das theoretische Verständnis des empirischen Materials, sie sind instruktiv für die Interpretationsperspektive. Den Kern meines analytischen Rahmens bildet die Verbindung des Konzepts des institutionellen Arrangements, im Anschluss an Erving Goffman (1973), mit Nancy Frasers (1994) wohlfahrtsanalytischem Modell der juridisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparate. Das fünfte Kapitel reflektiert die Untersuchungsperspektive und den Weg der Datengewinnung. Ich stelle das zugrundeliegende Datenmaterial vor und skizziere die Systematik meiner Analyse. Der empirische Teil zeichnet gewissermaßen den Forschungsprozess nach: vom Einstieg ins Feld mit der Teilnahme an Teamsitzungen von Palliativfachkräften, über die Beobachtung von Hausbesuchen, bis hin zur Durchführung einer Gruppendiskussion am Ende der Forschung, welche das Material für das abschließende Kapitel liefert. Die empirische Analyse beginnt im sechsten Kapitel mit der Untersuchung von Grenzrealisierungen der Zuständigkeit im Rahmen kollegialer Besprechungen der untersuchten Palliativdienste. Damit ist der Gegenstandsbereich der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, wie er von den Akteur_innen im Feld realisiert wird, umrissen. Die Kapitel sieben bis zehn liefern eine analytische Rekonstruktion des institutionellen Arrangements. Im sechsten Kapitel charakterisiere ich das ambulant-aufsuchende Setting entlang von Bruchstellen, die seine Etablierung und Aufrechterhaltung in der 'häuslichen Umgebung' der Patient_innen strukturieren. Im achten und neunten Kapitel analysiere ich, wie charakteristische Praktikenregimes des institutionellen Arrangements eine spezifische Wirklichkeit erzeugen. Diese Realität wird maßgeblich durch das Konzept der 'fortschreitenden Erkrankung' bestimmt. In Kapitel zehn steht die Beziehung von Professionellen und Patient_innen im Mittelpunkt. Hier gehe ich der Frage der Subjektivierung nach und reflektiere, in welchem Verhältnis die Subjektpositionen von Professionellen und Patient_innen zueinanderstehen. Im resümierenden elften Kapitel füge ich die Argumentationsstränge schließlich zusammen.

Erscheint lt. Verlag 13.2.2019
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Alter • Ethnografie • Hospiz • Lebensende • Medizin • Pflege • Soziologie • Sterbehilfe • Sterben • Tod • Versorgung
ISBN-10 3-593-44075-X / 359344075X
ISBN-13 978-3-593-44075-0 / 9783593440750
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