Für eine andere Gerechtigkeit (eBook)

Dimensionen feministischer Rechtskritik

(Autor)

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2018 | 1. Auflage
405 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43889-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Für eine andere Gerechtigkeit -  Ute Gerhard
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Jetzt erst recht! Im Recht spiegeln sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Doch mit ihm lässt sich auch die Gesellschaft verändern. Was bedeutet das für die Geschlechtergerechtigkeit und die Frauenrechte? Die Frauenbewegungen sind schon immer Motoren gesellschaftlichen Wandels gewesen: Sie haben politische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeit benannt und Gerechtigkeit eingeklagt. Dieses Buch setzt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Rechts als Mittel politischer Einmischung auseinander, die Geschlechtergerechtigkeit als konkrete Utopie nicht aus den Augen verliert. Den Rechtsgrundsatz der Gleichheit versteht Ute Gerhard dabei nicht als absolutes Prinzip, sondern als dynamisches Konzept. Rechte müssen im jeweiligen Kontext erkämpft, verteidigt und neu verhandelt werden. Sie schildert die Geschichte der Frauenrechte in Europa seit dem 19. Jahrhundert bis heute und zeigt verschiedene Dimensionen feministischer Rechtskritik auf. Die Lebensrealität von Frauen und Männern behält sie dabei fest im Blick.

Ute Gerhard hat Rechtswissenschaften, Soziologie und Geschichte studiert. Sie ist emeritierte Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenund Geschlechterforschung an der Universität Frankfurt am Main. Dort war sie Gründungsdirektorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse.

Ute Gerhard hat Rechtswissenschaften, Soziologie und Geschichte studiert. Sie ist emeritierte Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenund Geschlechterforschung an der Universität Frankfurt am Main. Dort war sie Gründungsdirektorin des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse.

Inhalt
Einleitung 7
I. Frauenbewegung und Recht
Nicht nur Gleichberechtigung - Frauenbewegung, Feminismus und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik 19
Feminismen im 20. Jahrhundert - Diskurse und Konzepte 75
Wozu Menschenrechte? Über Unrechtserfahrungen oder das Aussprechen einer Erfahrung mit Recht, das (bisher) keines ist 97
II. Zur Geschichte der Frauenrechte und den Kämpfen um Anerkennung
Frauenrechte im Europa des 19. Jahrhunderts - Die Bedeutung des Privatrechts für die Rechtsungleichheit der Frauen 133
Der Kampf um das Frauenwahlrecht - Deutschland und England im Vergleich 191
Europäische Bürgerinnenrechte - Feministische Anfragen und Visionen 219
III. Gesellschaftskritik in der Geschlechterperspektive
Feministische Perspektiven in der Soziologie - Verschüttete Traditionen und kritische Interventionen 249
Die neue Geschlechter(un)ordnung - Feministische Perspektiven auf Ehe und Familie 277
Das Konzept fürsorglicher Praxis - Care als sozialpolitische Herausforderung moderner Gesellschaften 321
Schlusswort: Eine andere Gerechtigkeit 349
Literatur 357
Dank 405

Einleitung Rechte sind immer wieder neu zu verhandeln, zu verteidigen und zu erwerben. Sie können daher nicht verstanden werden als Haben oder Besitz, vielmehr sind sie Ausdruck von institutionalisierten Regeln für soziale Beziehungen und für die Verbundenheit mit anderen Menschen. Das gilt ?erst recht? für die Rechte von Frauen, zumal im aufgeklärten, neuzeitlichen Rechtsverständnis nicht eine 'austeilende oder vergeltende Gerechtigkeit von oben', sondern 'eine aktive von unten' denkbar wird, also ein von den Menschen, mit Rücksicht auf die gleiche Freiheit der jeweils anderen vereinbartes Recht möglich ist. Doch obwohl Frauen als die eine ?Hälfte des Menschengeschlechts? grundsätzlich an allen Revolutionen, Protest- und Reformbewegungen beteiligt waren, mussten sie im Nachhinein immer wieder mit Verwunderung und Empörung feststellen, nicht mitgemeint und um die ?Früchte der Revolution? betrogen worden zu sein. 'Mann, bist Du fähig, gerecht zu sein? Eine Frau stellt Dir diese Frage.' Mit diesem Zuruf hatte Olympe de Gouges 1791 ihre Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin eingeleitet. Die französische Revolutionärin hat darin nicht nur gleiche Freiheiten und Bürgerinnenrechte, nicht etwa ?nur? die Rechte der Männer eingeklagt, sondern sehr konkret die spezifischen Unrechtserfahrungen von Frauen und Müttern benannt und ein für alle Menschen mögliches Maß von Freiheit und Gleichheit gefordert. Sie kennzeichnete damit eine auch für ihre Geschlechtsgenossinnen typische, verallgemeinerbare Erfahrung als Unrecht und zwar in der Form des Rechts. Allein mit der öffentlichen 'Inszenierung des Widerspruchs', einer 'Deklaration' in der Sprache der Menschenrechte, war die von de Gouges geforderte Gleichheit noch nicht realisiert. Aber es war ein neuer 'Erfahrungsraum' eröffnet und ein grundlegender Dissens angeklungen, in den später andere einstimmen sollten. Seit dem 19. Jahrhundert ist von vielen politischen Interventionen, sozialen Protesten und persönlichen Befreiungskämpfen zu berichten, in denen es um Emanzipation und die Rechte von Frauen ging. In diesem Sinne hat Anita Augspurg vor mehr als 100 Jahren argumentiert, als ihr wie anderen Akteur_innen der Frauenbewegung in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass sie sich einmischen müssten in die Arbeit an der Kodifikation des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), einem Jahrhundertwerk, das die Bevormundung und Zurücksetzung von Frauen im Privaten noch im 20. Jahrhundert fortsetzen sollte. Augspurg versuchte als erste deutsche promovierte Juristin ihre Geschlechtsgenossinnen davon zu überzeugen, dass die 'Frauenfrage in allererster Linie [eine] Rechtsfrage' sei, denn 'was immer eine einzelne Frau erreicht und erringt in Kunst, Wissenschaft, in Industrie, an allgemeinem Ansehen und Einfluss: es ist etwas Privates, Persönliches, Momentanes, Isoliertes - es haftet ihm immer der Charakter des Ausnahmsweisen und als solchem Geduldeten an, aber es ist nicht berechtigt und kann daher nicht zur Regel werden und Einfluss nehmen auf die Allgemeinheit.' Nach vielen Rückschlägen und Flauten bedurfte es neuer Mobilisierungen und besonderer politischer Konstellationen, um über nationale Grenzen hinweg in den ?langen Wellen? der Frauenbewegung da anzukommen, wo wir heute sind. Ja, formal sind Frauen in den demokratisch verfassten Gesellschaften heute gleichgestellt, als Staatsbürgerinnen mit Wahl- und Partizipationsrechten ausgestattet, auch im Privaten in der Familie, nicht nur in heterosexuellen Beziehungen gleichberechtigt. Doch jenseits dessen, erst recht weltweit, lebt die Mehrheit der Frauen überwiegend in prekären Verhältnissen, in ökonomischer Abhängigkeit und bedroht von Gewalt. Dabei sind die Errungenschaften in vielen Ländern der westlichen Welt keineswegs gering zu achten, im Gegenteil, es ist nicht genug hervorzuheben, welche nachhaltige Veränderung im Bewusstsein der Menschen, welche 'kulturelle Revolution' in den Beziehungen der Geschlechter und welch nachgerade dramatischer sozialer Wandel in den privaten Lebensformen etwa seit den 1970er Jahren von den neuen sozialen Bewegungen, den Bürgerrechts- und Frauenbewegungen angestoßen und getragen wurde. Der Erfolg scheint so überwältigend zu sein, dass viele den Feminismus, besonders den Kampf um Rechte, um Freiheit und Gleichheit für unzeitgemäß und überflüssig halten. Dem möchte ich mit Nachdruck widersprechen, denn auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 bedurfte und bedarf weiterhin der Umsetzung und zusätzlicher völkerrechtlicher Verträge. Ein Meilenstein in der Geschichte der Frauenrechte weltweit ist deshalb das Übereinkommen über die Beseitigung jeder Diskriminierung der Frau, das 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde. Es nimmt die Einzelstaaten in die Pflicht, weitreichende Maßnahmen zur Entdiskriminierung zu ergreifen und konkretisiert im Einzelnen, was 'die Beseitigung der Apartheit, jeder Form von Rassismus, Rassendiskriminierung, Kolonialismus, Neokolonialisms, ausländischer Besetzung und Fremdherrschaft [...] für die volle Ausübung der Rechte von Mann und Frau' heute bedeutet. Im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklungen, politischer Umbrüche und globaler Transformationsprozesse der vergangenen 200 Jahre wurde die Frage nach Recht und Gerechtigkeit immer wieder neu gestellt, müssen die gesellschaftlich erreichbaren Standards für Gerechtigkeit jeweils neu vermessen werden. Denn zwischen Recht und Gerechtigkeit liegt viel zu oft eine unüberwindliche Kluft. Deshalb führt die Frage nach Gerechtigkeit immer über das bestehende Recht hinaus. Doch wenn schon Kant in seiner 'Einleitung in die Rechtslehre' schreibt: 'Die Frage ?Was rechtens ist?? möchte wohl den Rechtsgelehrten [...] in Verlegenheit setzen', so sind wir vorgewarnt. Der vielschichtige Begriff von Recht (im Englischen rights und law) ist daher in mindestens drei Dimensionen zu erläutern: Recht ist nicht nur das, 'was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben', also das positive, geltende Recht, das seinem Inhalt oder seiner Auswirkung nach höchst ungerecht sein kann. Auch nicht - so Kant in anderen Worten - ihre praktische Rechtsanwendung, die bloße Empirie, die die Rechtssoziologen Rechtstatsachen nennen. Vielmehr enthält die Bezugnahme auf Recht zumindest seit der Aufklärung und der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte immer auch die Vorstellung von einem anderen, gerechteren oder ?richtigen? Recht, von Gerechtigkeit und davon, wie die Beziehungen zwischen Personen unter der Voraussetzung ihrer Freiheit und Gleichheit und Solidarität aussehen sollten. Dieses utopische Verlangen nach Gerechtigkeit ist ein Grundbedürfnis menschlicher Existenz. Was ungerecht ist, weiß jede von ihrem Standpunkt aus intuitiv zu sagen, doch wie dieses Empfinden oder diese Erkenntnis in ?richtiges? Recht zu übersetzen und umzusetzen ist, bleibt strittig. Die Schwierigkeit im theoretischen wie praktischen Umgang mit Recht liegt somit in seiner Doppeldeutigkeit. Jurist_innen und Philosoph_innen sprechen vom Janusgesicht, dem Doppelcharakter oder der Dialektik von Recht, da Rechtsnormen, je nachdem, aus welchem Interesse oder Blickpunkt betrachtet, 'zugleich Zwangsgesetze und Gesetze der Freiheit' sind. Recht hat folglich in der bürgerlichen Gesellschaft immer zwei Seiten, es hat sowohl der Legitimation bestehender Verhältnisse als auch zu ihrer Kritik und gesellschaftlichen Veränderung gedient und kann ebenso Befreiungs- wie Herrschaftsinstrument sein. Entscheidend ist, dass gewährleistete Rechte auch in Anspruch genommen werden. Da es immer um den Ausgleich von Interessen, um Kooperation oder Konkurrenz und um die Gestaltung des Zusammenlebens von Beziehungen geht, sind auch subjektive, individuelle Rechte nur eingedenk der Rechte Dritter zu bestimmen. Dies bedeutet, dass die Ermöglichung und Verwirklichung der demokratischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit aller Menschen die Anerkennung und Praxis gleicher Freiheitsrechte auch des und der anderen und damit die Aufhebung von Herrschaft und Unterdrückung beinhaltet. Nun ist die Anknüpfung des Feminismus, gar einer feministischen Rechtskritik an rechtstheoretischen Überlegungen und die herrschenden Denktraditionen und Theorien bürgerlichen Rechts keineswegs selbstverständlich: Denn unter Feministinnen war und ist Recht aus vielen Gründen diskreditiert. Rechtsskepsis und Rechtsnihilismus gründen sich auf die vielfältigen, schlechten Erfahrungen von Frauen mit Recht, auf die noch immer nicht verwirklichte Gleichberechtigung und die Erkenntnis, dass Recht in Theorie und Praxis männliche Denkweisen, Maßstäbe und Interessen verkörpert. Und selbst Rechtsfortschritte haben gemessen an den Forderungen und Erwartungen von Frauen in vielen Fällen ein durchaus zweischneidiges Ergebnis, da gleiche Freiheiten in der Regel nur um den Preis der Anpassung und Integration in eine Arbeitswelt oder politische Öffentlichkeit ermöglicht werden, die nicht zwingend den Interessen und Bedürfnissen von Frauen entspricht. Denn Gesetze sind in einer pluralistischen, in viele Teilinteressen ausdifferenzierten Gesellschaft nicht nur Ergebnis und Ausdruck gesellschaftlicher Kompromisse, sondern auch von Machtverhältnissen, in denen Frauen noch immer eher Alibifunktionen erfüllen. Wie die historische Erfahrung lehrt, unterlagen Frauen in der Vergangenheit weitaus häufiger Zwangsgesetzen als Gesetzen der Freiheit. Und doch hat es Rechtsfortschritte, Emanzipationen und paradoxe Entwicklungen gegeben. Deshalb ist es meines Erachtens sinnvoll, sich da 'wo gegen Unrecht gekämpft wird', nicht 'ins Gras' zu legen, sondern auf den inzwischen weltweit von Frauenbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteur_innen erhobenen Forderungen nach Verwirklichung des Rechts auf Freiheit und Gleichheit zu bestehen und zwar einer Gleichheit, die unter Berücksichtigung sozialer Ungleichheit und Differenzen auf materiale Gerechtigkeit zielt. Der Widerspruch zwischen der befreienden und ermächtigenden Funktion von Recht einerseits und andererseits den historischen Erfahrungen von Frauen mit Rechtlosigkeit bzw. Unrecht waren Anlass und Beweggrund für meine Studien zu Frauen und Recht. Feministische Rechtskritik führte mich zunächst zu den Hauptakteur_innen im Kampf ums Recht in der Geschichte der Frauenbewegung, zu ihren persönlichen Motiven, ihrem Mut und den politischen Zielsetzungen, zur Erkundung ihrer Netzwerke, Aktionsformen und Bewegungsorganisationen, zu Widerständen und partiellen Erfolgen, die immer in einen historischen Kontext, in Zeit und Ort, in eine bestimmte Gesellschaft und Politik eingebunden waren und sind. Sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung hilft, die strukturellen Ursachen sozialer Ungleichheit und Unterordnung im Geschlechterverhältnis, die Verknüpfungen von struktureller Gewalt mit symbolischer Herrschaft aufzudecken. Dabei interessieren neben der Empirie der Rechtstatsachen die Denk- und Wissensstrukturen, die Ideologien und Klischees, die die Hierarchie in der traditionellen Geschlechterordnung über Sprache, Wissenschaft und Kultur auch im Recht stützen. Die Geschichte, insbesondere die Sozial- und Geschlechtergeschichte aber bietet den Lernstoff, um die Geschichtlichkeit der ebenso oft beschworenen wie kritisierten Geschlechterdifferenz zu erkennen und den sozialen und kulturellen Wandel in den Geschlechterverhältnisse analysieren zu können. Das Studium der Rechtsgeschichte schließlich, ein nicht nur in der Geschlechterforschung bisher lückenhaftes, aber weites Forschungsfeld, eröffnet eine Fülle erhellender Einsichten in die Wandelbarkeit, aber auch die Traditionalität und das Eigenleben des Rechts. Gerade im historischen juristischen Detail des Privatrechts wird so ein Flickenteppich von Frauenrechten ausgebreitet, der bei aller Buntheit die Formen patriarchaler Herrschaftssicherung noch in der Systematik des geltenden Rechts erkennen lässt. Nachdem seit den 1990er Jahren auch Vertreterinnen einer feministischen Rechtswissenschaft an den deutschen Universitäten sowie in höchsten Gerichten angekommen sind, hat die Geschlechterforschung im Recht enorme Verstärkung erhalten. Denn es hatte sich gezeigt, - wie eine ihrer Pionierinnen, Jutta Limbach, betont - dass 'aus dem positiven Recht und der juristischen Dogmatik allein kein Maßstab zur Kritik des geltenden Rechts und seiner Anwendung zu gewinnen [ist].' Offensichtlich hat auch die feministische Rechtswissenschaft von den kritischen Impulsen und Erkenntnissen der Frauen- und Geschlechterforschung profitiert und ist bei der Anwendung und Auslegung des Gleichheitssatzes ebenso auf die sozialwissenschaftliche Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeiten angewiesen, wie die Diskussion um Gerechtigkeit nicht ohne ideengeschichtliche und kulturwissenschaftliche Ansätze der Diskursanalyse auskommt. Mit einer Fülle grundlegender und weiterführender Arbeiten auf allen Rechtsgebieten trägt feministische Jurisprudenz seither selbst zu einer geschlechtergerechten Forschung bei. Dies zeigt, Geschlechterforschung im Recht ist notwendig interdisziplinär. Die unterschiedlichen Positionen feministischer Rechtskritik und Rechtswissenschaft eint ein nicht nur formales, sondern ?materiales? und zugleich problemorientiertes Verständnis von Gleichberechtigung. Das heißt, im Mittelpunkt steht die Frage nach der Realisierung des Gleichheitskonzeptes in der Lebensrealität von Frauen und Männern. Tatsächlich gibt es bisher keinen allgemein verständlichen oder akzeptierten Begriff für die 'Verwirklichung' von Gleichberechtigung. 'Materiale' oder 'substanzielle' Gleichheit sind im Gegensatz zu 'formaler' Gleichberechtigung Begriffe, die inzwischen in der feministischen Rechtswissenschaft, insbesondere auch im internationalen Menschenrechtsdiskurs verwendet werden. Es ist der Versuch, in der Verständigung über unterschiedliche Gleichheitskonzepte (equality, equal opportunity oder égalité) die ungleichen Ausgangsbedingungen der Menschen für die Realisierung des Gleichheitskonzepts zu berücksichtigen und die grundlegende Zielsetzung zu betonen, ohne doch immer zugleich die relevanten Hinsichten und materiellen Bedingungen dessen, wie Gleichheit herzustellen ist, im Einzelnen benennen zu können. Zudem verweist die Begrifflichkeit auf das ?Andere? bisheriger Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit. Die folgenden Kapitel sind Resultate meiner interdisziplinären Arbeiten. Dabei bin ich mir der Unabgeschlossenheit, aber auch der Schwierigkeit, eine gemeinsame Sprache, Konzepte und Verstehensweisen jenseits der disziplinären Logiken zu finden, bewusst. Bei allen programmatischen Forderungen nach Interdisziplinarität wird diese methodische Problematik regelmäßig unterschätzt. Gleichwohl hat mich das politische Motiv, 'für eine andere Gerechtigkeit' zu streiten, immer wieder ermutigt; es bildet gleichsam den roten Faden, der durch das Buch leitet. Im ersten Teil werden aus der Perspektive der Neuen Frauenbewegung die Anlässe und Entwicklungen sowie ihre theoretischen und politischen Auseinandersetzungen bis in die Gegenwart nachgezeichnet, ergänzt durch einen Blick auf die internationalen Diskurse und politischen Konzepte der verschiedenen Feminismen im 20. Jahrhundert. Es folgt ein Beitrag über die weltweite Mobilisierung für 'Frauenrechte als Menschenrechte', der ihre Errungenschaften als Antworten auf spezifische Unrechtserfahrungen diskutiert. Im zweiten Teil geht es um die Geschichte von Frauenrechten, zunächst um die Vielfalt der Rechtslagen im Privatrecht des 19. Jahrhunderts in einem Vergleich der wichtigsten europäischen Rechtskreise. Gerade in den für die Stellung von Frauen existenziellen Rechtsfragen in Ehe und Familie offenbart die detaillierte und vergleichende Analyse der Gesetzgebungsdiskurse und Familienrechtsbestimmungen die Widersprüchlichkeit der traditionellen Herrschafts- und Geschlechterordnung ebenso wie ihre Veränderbarkeit. Im Blick auf die unterschiedlichen Strategien der Suffragetten in England und Deutschland steht das Frauenwahlrecht hier beispielhaft für den schwierigen Kampf um das Recht, Rechte zu haben. Ein interessantes neues Kapitel der Rechtsgeschichte über das Verhältnis von Recht und Geschlecht wird mit der Entwicklung zu einer europäischen Rechtsgemeinschaft aufgeschlagen. Es behandelt die Gleichstellungspolitik der Europäischen Union und die Bedeutung der Bürger- und Bürgerinnenrechte im europäischen Integrationsprozess. Der dritte Teil des Buches enthält soziologische Analysen zu den Kernthemen geschlechtsspezifischer Benachteiligung und Unterordnung im Bereich Arbeit, Familie oder privaten Lebensformen und besonders zu Care als Ensemble fürsorglicher Praxen, an denen die Notwendigkeit sozialpolitischer Reformen verdeutlicht wird. Es sind zugleich Anwendungsbeispiele für konkrete sozialwissenschaftliche Analysen, um herauszufinden, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich gleiche Freiheit für Frauen und Männer realisieren ließe. Bemerkenswert ist die Kontinuität feministischer Kritik an einer Gesellschaftstheorie, die die Doppelung in der Lebensweise von Frauen, zwischen Arbeit und Leben, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bis in die Gegenwart legitimiert hat. Schon im 19. Jahrhundert wurde diese Dichotomie von Außenseiterinnen der Wissenschaft scharf kritisiert und fand im Konzept der ?doppelten Vergesellschaftung? bzw. der ?Widersprüche im weiblichen Lebenszusammenhang? in der Frauen- und Geschlechterforschung der 1970er Jahre eine Fortsetzung. Doch erst mit einer veränderten, notwendig solidarischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern wird sich in Zukunft erweisen, inwieweit es gelingt, Gleichberechtigung und Autonomie für beide Geschlechter zu ermöglichen. Die unterschiedlichen disziplinären Ansätze in der Behandlung meines Themas - Frauen und Recht - sind der Grund, weshalb sich die Problematiken in den drei Teilen des Buches gelegentlich berühren oder überschneiden. Doch letztlich ergänzen sie sich meines Erachtens zu der hoffentlich erhellenden Einsicht, dass die Bedeutung von Recht, seine materielle Struktur und befreiende Kraft, in der Analyse der Geschlechterverhältnisse nicht fehlen sollte. Vorab noch eine Anmerkung zur verallgemeinernden Rede von ?Frauen? und der Kategorie ?Geschlecht?, die heute im Wissen um die Diversität der Geschlechterdifferenzen und die Überlagerung verschiedener, vielfältiger Dimensionen sozialer Ungleichheit für die Avantgarde der Post-/Feminist_innen überholt zu sein scheint. Da die soziale Gruppe der Frauen in der Geschichte des Rechts der bürgerlich-modernen Gesellschaft, ihr Ausschluss und Einschluss, die erkämpften Zugeständnisse und die noch nicht für alle möglichen Schritte zu Selbstbestimmung und Emanzipation paradigmatisch für andere Figurationen der Ungleichheit stehen kann, ist die Vielfalt der imaginären und realen Konstellationen in den Geschlechterverhältnissen Teil der Geschichte. Einer Geschichte, in der Geschlecht als politische Kategorie eine zentrale Bedeutung erlangte und gerade deshalb den Ansatzpunkt für die Analyse und Kritik der herrschenden Festschreibungen bietet. Unsere Denkwege und unser Tun sind also in die 'Geschichtlichkeit der Geschlechterdifferenz' eingebunden. Diese ist ja nicht nur durch Unterdrückung und fortwährende Diskriminierung von Frauen zu kennzeichnen, sondern auch eine Erzählung vieler einzelner und gemeinsamer Befreiungsschritte, weltbewegender Erfahrungen und gewonnener Kämpfe um Gleichberechtigung und Emanzipation. Wie andere soziale und demokratische Bewegungen haben die Frauenbewegungen als Seismographen für die Anmaßung von Macht, für politische Widersprüche und soziale Ungerechtigkeit seit dem 19. Jahrhundert wesentlich dazu beigetragen, Veränderungsprozesse zu Selbstbestimmung und einer Freiheit in Gang zu setzen, an der alle teilhaben können. I. Frauenbewegung und Recht Nicht nur Gleichberechtigung - Frauenbewegung, Feminismus und Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik Zur Vorgeschichte Die vergangenen Jahrzehnte frauenpolitisch nur als Fortschrittsgeschichte zu erzählen, wäre unangemessen. Und doch lohnt es, Bilanz zu ziehen. Wer die 1950er Jahre erinnert oder heute Bilder oder Filme aus jener Zeit sieht, wird gewahr, wie anders, fügsam oder gar ergeben Frauen ihre Rolle gespielt haben, spielen mussten, und wie grundlegend sich die Geschlechterbeziehungen im alltäglichen Umgang seither verändert haben. Insbesondere die ersten zehn Jahre nach der Verabschiedung des Artikel 3 Grundgesetz (GG) - Männer und Frauen sind gleichberechtigt - im Jahr 1949 sind aus heutiger Sicht eher als Rückfall in ein emanzipatorisches Mittelalter zu kennzeichnen. Der Rückruf der Frauen in die Familie als wahrer Ort weiblicher Bestimmung beinhaltete nicht nur erneute Beschwörungen über das Wesen der Frau, bizarr anmutende Konventionen und Moden (erinnert sei an Petticoat und Stöckelschuhe), sondern auch die klare Platzanweisung, zu Heim und Kindern zurückzukehren. Nach zwei Weltkriegen und ihren Katastrophen war die Wiederherstellung rigider Geschlechterrollen sowie das Leitbild von Ehe und Kernfamilie als dominanter Lebensform wichtiger Bestandteil einer angeblichen ?Normalisierung? der Lebensverhältnisse. Und dies geschah, obwohl Frauen, vor allem die Mütter in der Kriegs- und Nachkriegszeit, auf sich allein gestellt, das Leben unter schwierigsten Bedingungen gemeistert hatten und eigentlich die ?Stunde der Frauen? hätte schlagen sollen. Diese Restauration einer konservativen Geschlechterordnung wurde möglich, obwohl oder gerade weil die Gleichberechtigung der Frauen nun gesetzlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankert war. Das klingt paradox, und doch entspricht dieser Rückschlag hinter bereits erreichte Selbstverständnisse einer historischen Erfahrung. Das Auf und Ab sozialer Bewegungen versteht die Bewegungsforschung als 'Flaute' oder als 'Stillstand', da ein wesentliches Ziel nach jahrzehntelangen Kämpfen erreicht schien - im Fall der westdeutschen Bundesrepublik war dies die verfassungsrechtliche Anerkennung und also das Versprechen, Frauen in allen Rechtsbereichen, insbesondere auch im Familienrecht, bis spätestens 1953 gleichzustellen. Die in dieser Sache zuständigen Frauenverbände meinten denn auch, dass es nun keine ?Frauenfrage? mehr gebe, allenfalls Teilfragen, die im Wege einzelner Reformschritte zu bewerkstelligen seien. Bemerkenswert ist, dass die erwähnte ?Normalisierung? in allen westlichen Industrienationen, die am Weltkrieg beteiligt waren, in der Nachkriegszeit zu einer Restrukturierung traditioneller Geschlechterverhältnisse und Re-Familialisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt hatte. Denn die Bewährung der Frauen in männlichen Domänen, ihre erzwungene Selbständigkeit und ihr neues Selbstbewusstsein hatten die traditionelle Geschlechterordnung ?gestört? und wurden als Krise der Familie wahrgenommen, die doch angesichts der Integrationsprobleme der aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten und einer später als 'vaterlos' diagnostizierten Gesellschaft vor allem auf einer Krise der Männlichkeit beruhte. Vergleichende Studien belegen, dass die Wiederherstellung und Stabilisierung der Familie als Fluchtburg und 'letzte Grundlage der sozialen Zuflucht und Sicherheit' zugleich mit einer Re-Maskulinisierung der Gesellschaft in Politik, Wirtschaft und Kultur verbunden war. Die Besonderheit der westdeutschen Entwicklung liegt gleichwohl darin, dass sie sich in der Gleichberechtigung der Geschlechter immer wieder eine Verspätung leistete, ihr die nachholende Entwicklung in eine moderne, geschlechtergerechte Gesellschaft nicht gradlinig gelang, vielmehr den zwei Schritten nach vorn - wie in der Echternacher Springprozession - mindestens ein Rückschritt folgte. Denn im Grunde waren die von Elisabeth Selbert im Parlamentarischen Rat 1948/49 errungenen Zusagen für die Gleichberechtigung der Frau auch im Privatrecht und damit für die Reform des Familienrechts bereits in den Verhandlungen des 33. Deutschen Juristentages im Jahr 1924 weitgehend akzeptiert und von der ersten Richterin in Deutschland, Dr.?Marie Munk, die von der ersten Frauenbewegung geprägt war, kompetent und überzeugend vorbereitet worden. Doch die Vorschläge etwa zur Reform des ehelichen Güterrechts fanden erst 1957 durch die im Ersten Gleichberechtigungsgesetz eingeführte Zugewinngemeinschaft ihren Niederschlag. Auch im Parlamentarischen Rat, der mit dem Entwurf einer vorläufigen Verfassung, dem Grundgesetz, beauftragt wurde, war Elisabeth Selbert als eine von nur vier Frauen zunächst sehr allein mit ihrer klaren, durch kein 'grundsätzlich' eingeschränkten Formulierung des Art. 3 Abs. 2 GG: 'Männer und Frauen sind gleichberechtigt.' Denn nicht nur die Mehrheit der konservativen Parteivertreter, auch der SPD und der FDP fürchteten, dass 'dieser Satz, als gesetzliche Bindung im Staatsgrundgesetz verankert, unabsehbare zivilrechtliche und sozialpolitische Folgen' haben würde, zumal dadurch 'fast alle Bestimmungen' des geltenden Bürgerlichen Gesetzbuches über Ehe- und Familienrecht 'über den Haufen geworfen würden.' Selbert gelang es schließlich - jede Frauenrechtelei weit von sich weisend - nicht nur mit juristischer Sachkompetenz zu überzeugen, sondern auch für jene von Not und Krieg gezeichnete Zeit eine beachtliche Frauenöffentlichkeit herzustellen und die ersten Frauenzusammenschlüsse nach dem Krieg, Verbände, Gewerkschaftsfrauen und Einzelpersonen zu mobilisieren. So sehr die Herren Abgeordneten, allen voran der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, über das außerparlamentarische 'Stürmlein' witzelten, dieser Sieg des Prinzips war schließlich einem strategischen Kompromissangebot Selberts zu verdanken. Damit wurde der Reform des der Gleichberechtigung entgegenstehenden Rechts - das war insbesondere das Familienrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches - gemäß Art. 117 Absatz I GG eine Frist bis 1953 eingeräumt. Tatsächlich hat der Bundestag dann bis 1957 gebraucht, um ein Gleichberechtigungsgesetz zu verabschieden, das dennoch in vielen Hinsichten unvollkommen blieb. Insbesondere hatte es die Hausfrauenehe und damit die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Ehe weiterhin zur Leitnorm erhoben, aber auch das Letztentscheidungsrecht des Vaters in allen Erziehungsfragen noch einmal bestätigt. Dieser 'Stichentscheid' (1959) musste allerdings sogleich, wie auch später andere offensichtliche Diskriminierungen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig kassiert werden. Die formale Gleichberechtigung auf der Basis eines egalitären Ehemodells wurde tatsächlich erst 1977 durch die Reform des Ehe- und Familien­rechts zusammen mit der Abschaffung des Schuldprinzips im Scheidungsrecht eingelöst.

Erscheint lt. Verlag 6.12.2018
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Anerkennung • Feminismus • Frauenbewegung • Frauenrechte • Frauenwahlrecht • Geschlecht • Geschlechterperspektive • Gesellschaftskritik • Gleichberechtigung • Menschenrechte
ISBN-10 3-593-43889-5 / 3593438895
ISBN-13 978-3-593-43889-4 / 9783593438894
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